Corona-Schutzschirm: "Die Gespräche laufen!"
Mit einem dramatischen Hilferuf wandte sich der Paritätische Wohlfahrtsverband gestern an die Öffentlichkeit: Die Bundesregierung wolle den Schutzschirm für Soziales komplett streichen. Auf Telepolis-Nachfrage beschwichtigt die Bundesregierung nun diese Befürchtungen
Wenn Wirtschaft und Gesundheit im Konflikt miteinander liegen, geht es immer um Geld - und um Tote. Intensivmediziner, Virologen wie der SARS-Mitentdecker Martin Stürmer (Telepolis-Interview) und Vertreter sozialer Organisationen befürchten dramatische Todeszahlen in der deutschen Bevölkerung - der body count, wie man es zynisch in den USA nennt, aber dürfte vor allem in den Bevölkerungskreisen in die Zehntausende gehen, die schon vor Corona kaum oder gar nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen konnten und auch von jeder medizinischen Grundversorgung bisher schon komplett ausgeschlossen waren.
Bis zu einer Billion Dollar stellte US-Präsident nun bereit laut ABC Newsnight für diverse Hilfsmaßnahmen von Miami County bis Greater Los Angeles - Kritiker der Demokraten wie die Senatorin des Staates New York, fragten aber im ABC-Live-Telefonat letzten Freitag schon, was denn zum Beispiel davon in Skid Row, homeless hot spot, wie die kalifornischen Wohnungslosen ihn selber nennen, ankomme.
Corona macht in Deutschland das Undenkbare denkbar: Neuverschuldung und das Ende der "Schwarzen Null"
Die EU-Kommission sprach in der vergangenen Woche davon, die "Hauptaufgabe nach Corona ist der Wiederaufbau der Wirtschaft". Schon in den Anfangszeiten der Epidemie forderten hochrangige Ökonomen die Aufhebung der "Schwarzen Null", die in Deutschland noch unumstößlicher schien bisher als das Verbot von undeliziösem Schwarzbrot - in Folge einer Forderung der Wirtschaftsverbände und des DGB zu Anfang des Jahres, auch unter anderem Grünen-Chef Habeck schloss sich an.
Corona bzw. Covid-19/SARS-Cov-2 scheint nun das Unmögliche möglich zu machen: Am mutigsten voran ging dabei Bundesarbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD). Innerhalb der Bundesregierung und wohl auf Drängen der SPD-Vertreter kam es gestern sogar zu einem De-facto-Moratorium von schuldenbedingten Zwangsräumungen bundesweit (bezogen auf Mietschulden von April bis wohl mindestens September 2020), das heißt, die Zahlungspflicht der Miete ist bis auf weiteres de facto generell ausgesetzt - bisher unvorstellbar.
Die Bundesregierung setzt Zahlungspflicht für Mieter de facto aus - aber Zwangsräumungen bei Schwerstkranken sind weiterhin möglich
Die Ausarbeitung de jure sollen gar Länder- und Kommunalkompetenzen und -Gewalten an sich ziehen, wie es gestern in der ARD hieß. Allerdings bleibt offen, was in der Rechtspraxis mit anderen von Zwangsräumung Bedrohten "passiert".
Sowohl das Miet- als auch das Verwaltungsrecht bieten weiterhin Dutzende von Fallstricken und Gesetzeslücken: Zwangsräumerungen bei besonders verletzlichen ("vulnerablen") und durch todesnahe Gewalt, sexuellen Kindesmissbrauch, Vergewaltigung oder Nazi-Attacken teils schwersttraumatisierten Mietern mit körperlich schwersten Vorerkrankungen sind also weiterhin ganz offen möglich und wurden in Berlin offenbar laut taz und laut Betroffenen gegenüber dem Autor dieses Artikels bis in die letzten Tage praktiziert. Laut taz hat der Berliner Senat den Gerichtsvollziehern dazu völlig freie Hand gelassen.
Das massive Corona-Hilfspaket, das die Minister Altmaier (CDU) und Scholz (SPD) in Höhe von bis rund 500 Milliarden Euro ankündigten, sollte ja die Handlungsfähigkeit der gesamten Bundesrepublik aufrechterhalten, wie Beobachter kommentierten. Wer wie viel abbekommt von dem Geldregen, blieb zunächst noch offen. Dies wurde in den letzten Tagen konkretisiert durch spezielle Maßnahmen zum Beispiel auch für Soziales.
Am gestrigen Abend wandte sich der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband - die bundesweit stärkste Dachorganisation für Soziales in Deutschland - mit einem dramatischen Hilfsappell an die Öffentlichkeit:
Nach Informationen, die dem Paritätischen Wohlfahrtsverband vorliegen, sollen wider Erwarten soziale Dienste nicht unter den neuen Corona-Schutzschirm fallen, der am Montag im Kabinett beschlossen wird. Das Vorhaben des Bundesarbeitsministeriums, gemeinnützigen sozialen Einrichtungen coronabedingt existenziell notwendige Hilfen zu gewähren, wird innerhalb der Bundesregierung offenbar blockiert. Der Paritätische warnt, dass ohne entsprechende staatliche Soforthilfe eine Insolvenzwelle sozialer Einrichtungen innerhalb kürzester Zeit droht.
Paritätische Wohlfahrtsverband
"Was da auf Deutschland zukommt, ist selbst in Corona-Zeiten unvorstellbar", sagt Bestseller-Autor und Ex-Obdachloser Richard Brox
Von Mitarbeitern des DPW war gegenüber Telepolis zu hören, dass nun nicht nur die teils oft schlecht bezahlten Arbeitsstellen in der Überlebenshilfe für Obdachlose, von denen der Großteil etwa in Hamburg schwer- bis schwersterkrankt ist, bedroht seien, sondern es steht zu vermuten: Auch das Überleben von Zehntausenden Menschen aus Deutschland und Europa, die auf deutschen Straßen leben müssen aufgrund ihrer finanziellen Ausgrenzung, ist dadurch in akuter Gefahr.
Richard Brox, der gerade eine Einrichtung der Heilsarmee der Kassel besucht, befürchtet gegenüber gar Leichenberge von Obdach- und Wohnungslosen in deutschen Großstädten wie einst nach dem Tsunami in Asien oder in den letzten Tagen in Städten wie Mailand oder Bergamo. Brox, der durch diverse TV-Formate etwa in RTL oder dem MDR bekannt ist und nach dreißig Jahren Leben und Überleben auf der Straße mit einem Buch mit Co-Autor Günther Wallraff ("Kein Dach über dem Leben") zum Bestseller-Autor wurde, befürchtet, "dass es tausende bis zehntausende Opfer im Obdachlosen-Milieu geben wird, wenn die Politik nicht handelt. Sofort-Maßnahmen müssen sein: Einrichtung von Behandlungs-Etagen für Gefährdete, Vorerkrankte und Verdachtsfälle in Einrichtungen der Wohnhilfe. Das muss am besten heute noch passieren. Ich fordere umfassende medizinische Versorgung und genügend Essen und Hygiene für diese Menschen."
"Es geht um Nothilfe, ohne Gerede und Anträge - sofort und akut!"
Gefahren durch eine mangelnde Sozialpolitik drohe aber auch der Gesamtbevölkerung:
Ja, was passiert denn, wenn diese Menschen nicht behandelt werden? Sie laufen weiter herum, verelenden total, Einkünfte durch Betteln und Pfandflaschen fallen weg, es wird das Straßenbild prägen. Und vor allem: Natürlich stecken diese Erkrankten auch dann die "normale" Bevölkerung an. Das ist der Horror, der erst noch kommt. Der Super-GAU: In Deutschland gibt es nach offiziellen und inoffiziellen Schätzungen mindestens eine halbe Milion Obdachlose und Wohnungslose. Die Dunkelziffer mit prekären Wohnverhältnisse zum Beispiel in der "Stricher"-Szene liegt wohl seriös bei rund zwei Millionen. Was da auf Deutschland zukommt, ist selbst in Corona-Zeiten unvorstellbar. Es geht um Nothilfe, ohne Gerede und Anträge - sofort und akut!
Richard Brox
Da besonders der Anteil von Trans-Personen, homo- oder bisexuellen Osteuropäern und lebensstilistischen Aussteigern (gleich welcher sexuellen Orientierung oder Herkunft) in der Obdachlosen-Szene überproportional hoch ist, stellen solche Gruppen eine zusätzliche, in vieler Hinsicht gefährdete Randgruppe innerhalb der Randgruppe dar, wie auch Brox alarmiert betont: "Anti-Ziganismus, Homophobie und Antisemitismus gegen (oft jüdische) Osteuropäer sind das größte Problem innerhalb dieses Milieus". Trotz Genderpolitik reihum sind "Gefährdete" in politischen Debatten anscheinend immer eine Frage der Definition.
Auch die Auswirkungen für Sex-Arbeiter (auf dem Hamburger Kiez zwischen Davidviertel über Steindamm bis zum Süderkiez wären alleine rund Zehntausend betroffen, mit Auswirkungen für die Stadt Hamburg, ebenso vor allem in Berlin und im Ruhrgebiet), die teils unter prekärsten Bedingungen lebten, sind noch nicht im Ansatz absehbar. Das macht selbst den scheinbar unangreifbaren Hells Angels oder bestimmten russischen, bulgarischen und arabischen Milieus in Berlin zum ersten Mal in ihrer Geschichte wirklich Angst.
Ebenso äußerste sich gestern Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.
Wir haben überhaupt kein Verständnis dafür, wenn wissentlich die Auflösung sozialer Infrastruktur in Kauf genommen wird und soziale Dienste bei dem Corona-Schutzschirm außen vorgelassen werden. Dass ausgerechnet in dem Bereich, wo es um Hilfe und Schutz für die Schwächsten in dieser Gesellschaft, wo es um Wohlfahrt und Fürsorge geht, staatliche Hilfe in dieser Krisenzeit durch Teil der Bundesregierung blockiert werden, ist ein Skandal. Es geht hier um soziale Dienste von der Altenhilfe bis zur Kita, um Bildungs-, Beratungs- und Hilfsangebote für benachteiligte Menschen und Menschen in existenziellen Notlagen. Und es geht letztlich auch um das Fortbestehen unseres Sozialstaats und einer sozialen solidarischen Bürgergesellschaft auch über die Krise hinaus." Der Verband warnt vor einer Insolvenzwelle sozialer Einrichtungen innerhalb kürzester Zeit. "Soziale Dienste aller Art müssen zwingend mit unter den Rettungsschirm, den diese Bundesregierung gerade für Milliarden Euro spannt.
Ulrich Schneider
Die Bundesregierung plant laut unbestätigter Telepolis-Informationen noch leichteren Zugang zu staatlichen Sozialleistungen
Auf Nachfrage des Autors dieses Artikels bei der Bundesregierung und dem Bundeskanzleramt gegen 12 Uhr können Sprecher des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil (SPD), diese berechtigten Ängste aber nun durch eine sehr schnelle und freundliche Antwort im Gespräch mildern: "Die Gespräche zur Endabstimmung dazu laufen auf Hochtouren innerhalb der Bundesregierung." Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband gibt inzwischen Entwarnung.Aus anderen Kreisen innerhalb von CDU und SPD im Berliner Regierungsviertel wurde gegenüber dem Autor dieses Telepolis-Artikels zudem bestätigt, dass es "Abschichtungen gäbe, noch bevor das Ganze ins Kabinett geht: An diesem Montag wird im Bundeskabinett unter Kanzlerin Merkel dazu nichts beschlossen." Das dürfte faktisch heißen, dass es wohl nicht zu den Ausschlüssen im Sozialbereich im Corona-Schutzschirm kommt.
Fraglich bleibt natürlich weiterhin, ob und warum nicht wie in der Flüchtlingshilfe seit 2015 berechtigt und notwendig zur Sicherung des Überlebens der Flüchtlinge Länder und Kommunen vom Bund massiv finanziell unterstützt werden. Man hört aber auch aus der CDU, es werde an umfassenden "systemischen Lösungen" für die Sozialen Dienste bundesweit gearbeitet von Seiten der Bundesregierung. Auch der leichtere und unbürokratische Zugang zu Leistungen des Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) und zu Sozialhilfe/Grundsicherung stehe dabei im Fokus.
Pascal Kober (FDP) zu Telepolis: "Wir brauchen geeignete Instrumente, damit gemeinnützige soziale Einrichtungen die Krise überleben."
Kreise im Regierungsviertel aus verschiedenen Parteien erwarten dabei zeitnah die Präsentation von Lösungen für die Schwächsten der Gesellschaft - andernfalls hätte deren Leiden auch massivste Auswirkungen auf den sozialen Frieden für die ganze Bundesrepublik Deutschland und die EU, was bereits in Spanien oder in Italien zu beobachten ist.
In Neapel kam es bereits zu Dutzenden gemeldeten Fällen von Mundraub - was dort aber traditionell von der großen Mehrheit geduldet wird aus der speziellen Widerstands-Geschichte Neapels und der Kultur der konkreten und täglichen Solidarisierung untereinander und mit den unschuldig Schwächsten in ghetti wie dem Spanischen Viertel, welche im Norden Europas oft zu vermissen ist.
Da sich politische Abgrenzungen bereits seit 9/11 oft verschoben haben und sie sich in der Corona-Krise weiter verschieben (die Berliner Springer-Zeitung B.Z. war bisher tatsächlich das einzige große Medium neben Telepolis, das sich der Situation der Wohnungslosen unter Corona gar in der Titel-Story annahm), unterstützt nun auch der sozialpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, Pascal Kober, die Hilfsappelle der Sozialen Dienste und der Schwerstbetroffenen am unfreiwilligen "Rande der Gesellschaft", wie er heute Telepolis ankündigt:
Wir brauchen geeignete Instrumente, damit gemeinnützige soziale Einrichtungen die Krise überleben. Wir brauchen sie auch nach der Krise dringend. Eventuell könnte der Bedarf nach der Krise sogar noch größer sein. Dabei ist dem besonderen Umstand Rechnung zu tragen, dass gemeinnützige Einrichtungen nicht gewinnorientiert arbeiten dürfen und deshalb kein finanzielles Polster aufbauen konnten und auch nur schwer Kredite zurückzahlen können.
Pascal Kober
Die Parteiführung der Grünen konnte aufgrund der Kürze der Zeit kein Statement abgeben, CDU, SPD und AfD wurden ebenso sehr kurzfristig angefragt.
Frauen, Männer, Diverse, Kinder, gleich, welcher Herkunft, deren Leben und Überleben von diesen finanziellen Polstern und Krediten (auch für die Sozialen Dienste) abhängt, dürften diese Meinung wohl teilen. Oder um es mit einem typisch amerikanischen Sprichwort aus NorCal zur gelebten Win-Win-"Hilfe zur Selbsthilfe" auszudrücken: "Das könnte der Penny sein, der Dein Leben rettet!"
Update 21:00: Laut Auskunft der Pressesprecherin der Parteivorsitzenden der SPD, Ingrid Herden, gegenüber dem Autor des telepolis-Artikels wird "das Kabinett morgen die einzelnen Programme der Ministerien beraten." Das heißt realiter, dass morgen aller Vorsicht nach noch keine Beschlusslage vorhanden sein bzw. nichts dazu verabschiedet wird."
Verbindlichsten Dank an Sandra, Wladimir, Kim, Napule-Freddo, den bulgarischen Mordechai Y. und Amalia aus Constantia für wertvolle Hinweise.
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