"Corona": Wie die Politik die Wissenschaft benutzt
Und wie die Wissenschaft sich gern benutzen lässt
Die Diskussion um die Pandemie ist zu großen Teilen schon ziemlich verwirrend. Da verwundert es nicht, dass auch Verschwörungstheorien ihre Anhänger finden. So erläutert der Kanzleramtsminister und Mediziner Helge Braun bei Maybrit Illner (14.6.2020): Der massenhafte Einsatz von Tests bringe nichts angesichts der geringen Infektionsrate und der hohen Fehlerquote bei den Ergebnissen. Es gebe viel falschen Alarm und wenig Ergebnisse. Dieser Test bildet aber zugleich den Ausgangspunkt für die neue App, die er den Bürgern ans Herz legt. Die App sei für die Rückverfolgung von Kontaktpersonen von Infizierten sehr wichtig.
Was nun, wenn die Tests nicht angebracht sind und fehlerhaft? Welche Ergebnisse sollen sie dann bringen bei denen, die mit der App gefunden werden? Und das ist nicht das einzige Beispiel, wie im Zusammenhang mit der Pandemie mit Argumenten, Fakten oder wissenschaftlichen Erkenntnissen umgegangen wird, die die politischen Maßnahmen begleiten. Es hat auch damit etwas zu tun, wozu die Fakten oder Belege angeführt werden.
Die Warnung vor dem Virus
Die Warnung von Virologen vor einem neuen Virus ist eine sachliche Mitteilung, die aber für die unterschiedlichen Adressaten eine unterschiedliche Bedeutung hat. Für den Bürger stellt sich die Frage, wie gefährlich ist er für mich und wie kann ich eine Ansteckung vermeiden? Für die Politiker geht es um eine viel größere Dimension: Wie kann der Schaden in der Bevölkerung auf ein Maß begrenzt werden, welches das Wirtschaftsleben möglichst wenig beeinträchtigt?
Es gilt die die Funktionsfähigkeit der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Dafür tritt die Bundesregierung auf die Bremse und verfügt den "Lockdown". Die Einschränkung des Wirtschaftswachstums wird in Kauf genommen, um eben dieses Wachstum möglichst bald wieder in Gang setzen zu können. Der "Lockdown"-Schaden soll so gering wie möglich ausfallen. Das ist eine Kalkulation, die mit Medizin wenig, mit politischer Prioritätensetzung viel zu tun hat.
Zur Abschätzung der möglichen Schäden sind die Wissenschaftler oder Mediziner gefragt, die zu dieser Kalkulation aber auch allenfalls Mutmaßungen anstellen können. Dennoch wird auf ihre Präsenz in der Öffentlichkeit größten Wert gelegt, verleihen sie doch so den politischen Entscheidungen den Schein einer Sachentscheidung. So folgte aus der Warnung auch nicht unmittelbar die Einschränkung des Wirtschaftslebens, sondern die Gefahren wurden zunächst klein geredet , damit das öffentliche Leben weitergehen konnte.
Sicherstellung des Gehorsams
Als die Gefahr unübersehbar wurde, war Warnung angesagt. Dem Bürger musste deutlich gemacht werden, wie gefährlich das neue Virus ist. Das ist mit Aufklärung der Bürger nicht zu verwechseln.
Schon in dem Pandemieplan von 2013 (Bundestagsdrucksache 17/12051 Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012) war zu lesen, dass der erste Schritt der Politiker und der Öffentlichkeit in Form der Medien darin bestehen müsse, die Gefahren überdeutlich darzustellen, um die Folgsamkeit der Untertanen sicherzustellen. Dazu dienten die Bilder aus Italien und die Beschwörung der Gefahr einer Triage.
Eine Panik sollte jedoch vermieden werden, also ging es auch immer darum zu beweisen, dass die Obrigkeit alles im Griff hat - auch wenn deren Handeln aus einem ständigen Probieren bestand, wie die Pandemie kontrolliert werden konnte, um nicht gleich alles lahm zu legen. Und da erfüllten naturwissenschaftlich gebildete Menschen wie der Tierarzt und Mikrobiologe an der Spitze des Robert Koch Instituts seine Aufgabe, indem er vor Obduktionen und den daraus entstehenden Gefahren warnte.
Eigentlich war diese Warnung lächerlich - schließlich kennen seine Kollegen aus der Pathologie die Gefahren und wissen sich davor zu schützen. Ihm ging es in der Phase aber wohl darum, die Gefahren und ihre Sicherung zu betonen, also die Wirkung in der Öffentlichkeit. Eingeschränkt. jedoch nicht verhindert hat er damit, dass schnell erforscht wurde, was das Virus im Körper anstellt. Diese Erkenntnisse verdanken sich nicht der obersten Seuchenbehörde, sondern Ärzten, die seinem Rat nicht gefolgt sind. Die geringe Zahl an Obduktionen hielt zudem die Zahl der Corona-Toten niedrig, da nur die als Corona-Tote gezählt wurden, die vorher getestet worden waren. Tote, die keine eindeutigen Symptome zeigten und an der Infektion verstarben, blieben unberücksichtigt.
Testen oder nicht testen, das ist die Frage
Der Virologe Christian Drosten und sein Team entwickelten schnell einen Test zur Diagnose der Infektion durch den Erreger. So ein Test kann mit einem gewissen Grad an Unsicherheit dem Getesteten vermitteln, ob er infiziert ist oder nicht. Von daher besteht von Seiten vieler Bürger ein Interesse an der Testung.
Aus Sicht der Pandemiebekämpfer stellte sich die Frage jedoch ganz anders dar. Praktisch gab es sie gar nicht, da gar nicht ausreichende Testkapazitäten vorhanden waren. Also wurde der Kreis der zu Testenden eng eingegrenzt auf die Personen, die nicht nur eindeutige Symptome zeigten, sondern zudem aus einem sogenannten Hot Spot der Pandemie kamen oder einen direkten Kontakt zu einem Infizierten hatten. So blieb die Zahl der Infizierten niedrig, da nur die Getesteten gezählt wurden.
Zudem wurde auch der Nutzen der Tests relativiert, da dieser nur eine Momentaufnahme darstellen würde, weil die Getesteten bis zum Erhalt des Ergebnisses sich bereits wieder infiziert haben könnten. Ein Argument, das dann von Bedeutung ist, wenn die Getesteten möglichst weiter am normalen Alltag teilnehmen sollen und eine Trennung von getestet Gesunden von möglicherweise Infizierten vermieden werden soll.
Dies hätte zur Folge, dass für Teile der Gesellschaft Kasernierung oder Unterbringung in Quarantänestationen anstehen würde. Beides ist nicht nur unangenehm für die Betroffenen, sondern auch kostenträchtig, weswegen die häusliche Quarantäne im Zweifelsfalle vorgezogen wurde. So blieb offen, wer infiziert oder nicht infiziert in Krankenhäusern oder Alten- und Pflegeheime seine Arbeit verrichtete. Statt Klärung gab es viel Lob für die "Helden des Alltags".
Mit der größeren Verfügbarkeit von Tests und Laborkapazitäten stellte sich die Testung als eine Kostenfrage dar, womit die Politik unterstrich, dass die normalen Rechnungsweisen dieser Gesellschaft auch unter Corona-Bedingungen nicht außer Kraft gesetzt worden sind.
Zahlreiche Testung hat aber auch noch einen anderen Nutzen - und das nicht nur im Fußball
Heftig wurde der Streit um die Wissenschaft, als es darum ging zu entscheiden, in welchem Bereich Normalität wieder einkehren solle. Dabei ging es aber nur vordergründig um wissenschaftliche Ergebnisse, sondern es zeigten sich die Interessengegensätze in der Gesellschaft. So sollte die Studie von Gangelt des Bonner Professors Streeck an Seiten des Ministerpräsidenten und möglichen CDU-Vorsitzenden Laschet zeigen, ob eine Lockerung der Beschränkungen ins Auge gefasst werden könnte oder nicht.
Getestet wurden etwas mehr als 900 Personen, um zu ermitteln, wie viele von ihnen infiziert waren. Das Ergebnis wurde ins Verhältnis gesetzt zu den bekannten Infizierten und Toten. Das Resultat wurde als sehr wichtig für die weiteren Entscheidungen gehandelt, das endgültige Ergebnis aber nicht abgewartet. Dabei brauchte es die Untersuchung eigentlich gar nicht, um zu dem erhofften Resultat zu gelangen, dass die Dunkelziffer der Infizierten höher ist als die bekannten Zahlen. Denn schließlich wurden nicht alle Menschen mit Symptomen getestet und der Kreis der Getesteten war zu Beginn der Pandemie mangels Testmaterial und Laboren klein gehalten worden.
Die Forscher rechneten von der kleinen Zahl der Untersuchten ihre Ergebnisse auf die Republik hoch und konnten so zeigen, dass die so hochgerechnete Sterbequote im Verhältnis zu den Infizierten viel geringer ausfiel als angenommen. Ganz gleich, ob man diese statistische Auswertung kritisiert oder nicht, welche Todesquote soll denn als harmlos gelten und welche nicht? Dies ist alles andere als eine wissenschaftliche Entscheidung. Als Bezugsgröße wurde die Todesquote bei einer Grippeepidemie als hinnehmbar unterstellt, doch auch damit ist nicht beantwortet, wie viel mehr Tote es denn sein dürfen.
Kritisch wurden Tests plötzlich von Politik und Öffentlichkeit gesehen, als ein Biotech-Unternehmen einer Schule kostenlose Tests anbot mit dem Argument, damit würde der normale Schulunterricht wieder möglich. Negativ - also als gesund - getestete Schüler erhielten einen grünen Punkt auf einem Ausweis, und so wurden Gesunde von möglicherweise nicht Getesteten oder Infizierten unterschieden.
Es stellt sich damit die Frage, welche praktischen Konsequenzen die Schule aus dieser Unterscheidung zieht: Werden alle ohne grünen Punkt vom Unterricht ausgeschlossen oder bleiben sie im Unterricht, und was soll dann der Test. Diskutiert wurde stattdessen in der Öffentlichkeit die Frage des Datenschutzes und der Genauigkeit von Tests. Dass es dem Unternehmen dabei um eine eigennützige Marketing-Aktion ging, kam schon vor, gilt aber in dieser Gesellschaft als ein ehrenwertes Anliegen ("Neue Normalität" als Geschäft und scheinbare Sicherheit).
Mundschutz - Maulkorb für den Bürger?
Ganz auf die Seite der Bürger schien sich Virologe Drosten zu stellen, als es um den Mundschutz ging. Er hob zu Beginn hervor, dass dieser den Träger nicht vor einer Infektion schützen könne. Was stimmt. Unwesentlich schien dabei der Fakt, dass der bekannte Überträgerweg durch Tröpfchen sehr wohl auf diese Art und Weise eingeschränkt werden kann.
Zu diesem Urteil veranlasste den Forscher auch nicht seine Kenntnis über den Virus und dessen Übertragungswege, sondern sein Wissen über den Mangel an Schutzmaterialien. Schließlich ist die Wirkung der Eigentumsverhältnisse im Lande bekannt. Bei geringer Nachfrage nach Schutzkleidung und Masken - schließlich gab es ja keine Vorsorge - haben die Produzenten und Händler mit niedrigen Preisen für diese Masken um Marktanteile gerungen. Um ihre Kosten zu senken und so auch bei niedrigen Preisen Gewinne zu machen, haben sie die Not der Menschen in Asien ausgenutzt und mit niedrigen Löhnen die Produktion von Masken gewinnträchtig gestaltet. In der Pandemie konnten sie ihre Verfügungsmacht über die notwendigen Güter nutzen, um Fantasiepreise zu verlangen.
Dies war den Medizinern wohl geläufig, wenn sie vom Tragen einer Maske abrieten, um den Mangel an Masken nicht zu verschärfen und die Preise hochzutreiben. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit dieser Mittel stieg dann plötzlich auch deren Bedeutung. So galt die Maske bald als Akt der Höflichkeit gegenüber anderen und nicht als ein Schutzmittel vor einer Übertragung. Nachdem die Menschen sich selber Masken nähten und ausreichend Masken zur Verfügung standen, wurden diese dann zur Pflicht.
Abstandsgebot für wen?
Um die Übertragung des Virus durch Tröpfchen aus den Atemwegen beim Atmen oder Sprechen zu unterbinden oder einzuschränken, wurde den Bürgern empfohlen, Abstand zu halten, in die Armbeuge zu niesen und sich die Hände zu waschen. Diese Empfehlung galt zwar von Anfang an für alle, aber dass diese nicht überall eingehalten werden konnte, war dann auch schnell klar. Statt Schutzkleidung gab es für diese Tätigkeiten dann viel Lob, wusste die Politik doch zu unterscheiden, welche Tätigkeiten unbedingt notwendig sind und welche nicht.
Die Notwendigkeit ergab sich nicht allein aus der Notwendigkeit der Versorgung, sondern es bestand auch das Interesse, das Wirtschaftsleben soweit als möglich aufrecht zu erhalten. Also bestand das Abstandsgebot zunächst nicht für Verkäuferinnen oder Arbeiten in der Kolonne oder am Band. Selbst wenn die Gesundheit der Bevölkerung schutzbedürftig ist, werden eben die gängigen Rechnungsweisen nicht völlig aus dem Verkehr gezogen.
Sortiert wurde das Wirtschaftsleben danach, welche Branchen für die Versorgung notwendig, welche für die Wirtschaft bedeutsam sind und welche nur dem Vergnügen der Bürger und ihrer Freizeitgestaltung dienen. Letztere konnten ganz dicht gemacht werden. Dass viele Unternehmen trotz Erlaubnis dennoch ihre Produktion einschränkten und ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit schickten, verdankten sich nicht dem Gesundheitsschutz, sondern der der Absatzprobleme, die zum Teil bereits vor der Pandemie bestanden. Denn bereits vor der Pandemie hatten viele Großbetriebe wegen Auftragsmangel Massenentlassungen angekündigt.
Der Gesundheitsschutz bescherte den Bürgern neue Probleme. Für viele gerieten so die Einschränkungen zu Existenzproblemen, Verschärfung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch die Notwendigkeit, die Kinder ständig zu betreuen. Schließlich gibt es in dieser Gesellschaft nur dann ein Einkommen, wenn man etwas zu verkaufen hat, und sei es sich selbst als Arbeitskraft. Das macht die Existenzen so unsicher. Damit war sofort auch das Interesse in der Welt, die Einschränkungen des Wirtschaftslebens - welches den gesamten Alltag bestimmt, denn alles in dieser Gesellschaft ist als Geschäft organisiert - aufzuheben oder zu lockern. Die Betreuung des eigenen Nachwuchses stellte sich dabei als Hindernis für die eigene Berufstätigkeit dar, so dass auch die Öffnung von Kitas und Schulen dringlich wurde.
Wer darf in die Schule?
Während der Pandemie meldete sich mehrmals die Leopoldina zu Wort, eine staatliche Institution renommierter Wissenschaftler, wobei nicht jede Stellungnahme dieses Gremiums in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde. Bekannt wurde vor allem die dritte Stellungnahme, in der sich die Wissenschaftler auch zu den psychosozialen Folgen der Krise und zur Öffnung des Bildungssektors äußerten. Sie empfahlen, die Lockerung mit der Öffnung der Kitas und Grundschulen zu beginnen.
Der Rat wurde glatt übergangen, das Gremium aber damit nicht für überflüssig erklärt. Schließlich ehrt es eine Nation, über eine Akademie von anerkannten Wissenschaftlern zu verfügen; und wie ein Rat einer solchen Institution auch immer ausfällt, macht es doch deutlich, dass sich die Politik ihre Entscheidungen nicht leicht macht. Durch eine solche Institution erhält noch jeder politische Beschluss eine höhere Weihe als sachlich geprüfte Aktion.
Die Politik stellte vielmehr klar, worauf es bei der Bildung ankommt: auf Abschlüsse, die die Schüler auf die verschiedenen Stufen der Bildungsgänge und die Hierarchie der Berufe verteilen. Die Vermittlung von Wissen ist dafür nur das Mittel, an dem die Schüler verglichen werden. Es gibt daher immer auch Gewinner und Verlierer in dieser Konkurrenz. Prompt stellte sich die immer gleiche Klage ein, dass die Konkurrenzbedingungen nicht für alle Schüler gleich sind und gerade unter Corona-Bedingungen sozial Benachteiligte zu den Verlierern gehören würden. Ganz so, als ob dies unter Nicht-Corona-Bedingungen anders wäre. Also wurden die Abschlussklassen als erste wieder in die Schulen geholt.
Die Frage der Öffnung der Kindertagesstätten oder Schulen wurde zudem in den Zusammenhang mit der Infektiosität von Kindern gebracht, inwieweit Kinder als Überträger der Krankheit fungieren. Über diese Frage versuchten sich Forscher verschiedener Couleur zu profilieren. Es ist natürlich möglich zu untersuchen, wie viele Kinder sich infiziert haben, wie viele Symptome entwickelten und wie viele den Erreger weiter gegeben haben.
Doch was sagt " 15% haben sich infiziert" aus? Sind das viele, zu viele oder genau die richtige Menge? Um diese Zahlen zu interpretieren, bedarf es Bezugsgrößen. Dann kann sich herausstellen, dass Kinder weniger oft infiziert sind als Erwachsene. Doch auch damit ist nicht geklärt, welches Maß an Gefährdung von Kindern man bereit ist, in Kauf zu nehmen.
Die Fragestellung war insofern ideologisch, als die Entscheidung über die Öffnung von Kindertagesstätten und Schulen eine Frage der Infektiosität war. Egal zu welchem Ergebnis die Forscher gelangen, eröffnet sich doch darüber lediglich die Spekulation, ob Kinder zur Verschärfung der Infektion beitragen oder nicht und in welchem Maße.
Die Entscheidung der Politiker machte sich auch gar nicht von den Ergebnissen der Studien abhängig, wobei der eine oder andere Politiker es nicht versäumte, sich auf die eine oder andere Studie zu berufen. Es ging eben nicht um die Kinder, sondern um die Eltern und deren Druck, arbeiten zu müssen, den Haushalt zu betreiben, die Kinder zu betreuen und den Ersatzlehrer zu mimen. Dem stand ein Kindertagesstätten- und Schulwesen gegenüber, das weder personell noch räumlich so ausgestattet ist, dass unter Einhaltung von Hygienebedingungen betreut oder unterrichtet werden kann. So wird die Wissenschaft in den Vordergrund gerückt, wo es um ganz andere Fragen geht.
Eine App als Wunderwaffe
Das Lob der App als Mittel gegen die Pandemie bei nur wenigen Tests wurde bereits angesprochen. Auch dass dieses Mittel unter dem Aspekt des Datenschutzes diskutiert wird.
Dabei macht diese Diskussion deutlich, dass es ein seltsames Bewusstsein vom Gegensatz zwischen den Bürgern und ihrer Herrschaft gibt. Denn wenn die Regierung nur das Wohl der Bevölkerung im Auge hat, und darauf vertrauen ja die meisten Bürger, dann dürfte es eine solche Diskussion nicht geben. Ein Kontrollbedürfnis von Seiten der Regierung gibt es ja nur, weil es einen Gegensatz zwischen den Interessen der Bürger und ihrer Regierung gibt. Doch diesen Gegensatz aus der Welt schaffen, will auch niemand, stattdessen wird an Hand des Datenschutzes diskutiert, wie weit die Kontrolle durch den Staat denn gehen darf.
Unterstellt ist dabei natürlich auch immer, dass die Bürger bei der Verfolgung ihrer Konkurrenzinteressen auch mal Fünfe grade sein lassen. Deshalb wollen sie sich natürlich nicht ständig auf die Finger schauen lassen. In der Diskussion geht dabei unter, wozu die App wirklich dienen soll: Sie soll die Arbeit der Corona-Scouts überflüssig machen. Die hatten bisher im Falle einer bekannt gewordenen Infektion die Aufgabe, die Kontaktpersonen ausfindig zu machen, zu warnen oder gegebenenfalls in Quarantäne zu schicken. Nun sollen die Hilfskräfte in den Gesundheitsämtern wieder entlassen oder in ihre alten Ämter, aus denen sie abkommandiert worden waren, zurückgeschickt werden. Deren Arbeit soll durch App schneller erledigt werden.
Ausgangspunkt bleibt aber der Test. Schnell geht es aber nicht beim Testen, so können Infizierte, die noch nicht getestet sind, andere anstecken. Schnell geht es auch nicht bei der Auswertung des Tests, so dass weitere Infektionen stattfinden können. Schnell ging es auch nicht bei der Einführung des Tests, denn es gab bereits Tests im Ausland, die die gleiche Aufgabe erfüllen können. So liegt der größte Erfolg dieses Tests darin, dass er ein deutscher ist, was allerdings Abstimmungsprobleme mit den auswärtigen Tests aufwirft, so dass es bei Auslandsaufenthalten nicht so schnell gehen kann.
Von der Relativität allen Wissens
Nicht nur von Journalisten, sondern auch von Wissenschaftlern wurden die unterschiedlichen Ansichten zum Umgang mit der Corona-Pandemie darauf zurückgeführt, dass man auch in der Pandemie nichts Genaues wissen kann und alles Wissen relativ ist. Dabei haben die Virologen sehr schnell das Virus identifiziert, die Übertragungswege wie auch die Wirkung des Virus im Körper erforscht. Dass bezüglich des Erregers noch einige Fragen offen sind, stellt die bisherigen Ergebnisse nicht in Frage.
Wenn dennoch Journalisten oder Wissenschaftler mit der Behauptung aus dem Erkenntnistheorieseminar hausieren gehen, dass der Streit, wie mit der Pandemie umgegangen werden soll, daraus resultiert, dass eben alles Wissen nur vorläufig sei, dann benutzen sie bei der Erarbeitung ihrer Predigt Handys, Laptops u.a., von denen sie ausgehen, dass sie funktionieren. Und sie wollen im Umgang mit diesen Geräten keineswegs die physikalischen Grundlagen falsifizieren, auf deren Erkenntnisse diese Geräte basieren.
Dort, wo die Medizin wenig oder gar nichts weiß, setzt sie auf die Epidemiologie, um dadurch Hinweise auf den möglichen Verlauf der Krankheit oder der Pandemie zu erlangen. Dabei geht es um Wahrscheinlichkeitsaussagen oder Modellrechnungen, die auf Annahmen beruhen, die nicht unbedingt zutreffen müssen. Von daher gibt es in diesem Bereich keine eindeutigen und verlässlichen Aussagen.
Der Unterschied zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Abteilungen wird aber in der Öffentlichkeit nicht deutlich gemacht. Mediziner werden als Virologen vorgestellt und diese äußern sich als Epidemiologen. Offenbar kommt es auf die wissenschaftliche Redlichkeit in der Argumentation der vorgeführten Mediziner auch gar nicht an. Sie sollen Hochachtung vermitteln, dass der Umgang mit der Pandemie ein ganz schwieriges Geschäft ist und die Politik nicht einfach Interessen abwägt und beschränkt oder ins Recht setzt, sondern gewissenhaft die wissenschaftlichen Argumente prüft und Sachentscheidungen trifft.
Als Ratgeber sind die Wissenschaftler gefragt, die die eigene Position unterstützen. Als solche geben diese sich auch gerne her und sind auch bereit, ihr Wissen ganz in den Dienst der Politik zu stellen. Wenn Wissenschaftler nur als Ratgeber von Politikern gefragt sind, für deren Beruf keine Ausbildung vonnöten ist, dann bestimmt die Wissenschaft auch nicht die Politik, wie manche meinen, die von einer Diktatur der Virologen reden. Dann bestimmt nicht das Wissen oder die Vernunft die Politik, wenn ein solches Verhältnis gleich als Diktatur bestimmt wird, sondern dann verfolgt die Politik andere Anliegen, als einfach den besten Schutz der Bevölkerung vor dem Virus.
Dass es um eine Interessenabwägung zwischen dem Schutz der Bevölkerung und dem Fortgang des Geschäfts geht, ist kein Geheimnis, und so relativiert sich so manche Erkenntnis oder Schutzmaßnahme und so manche wissenschaftliche Untersuchung, die angeblich eine bestimmte Entscheidung bestimmen soll. Es wird gar nicht erst abgewartet, sondern gleich entschieden.
Was der Maßstab für die Maßnahmen in der Pandemie ist, daraus hat die Politik nie ein Geheimnis gemacht: Das Gesundheitswesen soll durch die schwer kranken Corona-Fälle nicht überfordert werden. Für dieses Kriterium muss man gar nicht so genau wissen, wie viele Menschen sich infiziert haben, wichtig sind doch nur die schweren Verläufe - und bei solchem Verdacht wird getestet. Solange noch Betten auf den Intensivstationen frei sind, liegt man mit seinen Maßnahmen richtig und kann sich für das geschickte Krisenmanagement loben und auf die Schulter klopfen, auch wenn man gar nicht weiß, warum es in Deutschland relativ wenig Schwerkranke und in anderen mehr gibt.
Die größere Zahl an schweren Verläufen im Ausland beweist eben, dass dort alles falsch gemacht wurde, auch wenn denen genauso die Schutzmittel fehlten wie hier. Die geringere Zahl an Patienten, die Intensivpflege oder Beatmungsgeräte bedurften, beweist zudem die Güte unseres Gesundheitssystems, eben weil es gar nicht erst so in Anspruch genommen wurde. Da macht es auch gar nichts, dass deutschen Ärzten nichts anderes zur Verfügung steht wie denen im Ausland. Schließlich gibt es kein Medikament gegen diese Krankheit, und die Mediziner sind ganz auf die Selbstheilungskräfte des Patienten angewiesen. Wenn der überlebt, hatte er eben eine gute Physis.
Prof. Dr. Suitbert Cechura lehrte Soziale Arbeit im Gesundheitswesen/Sozialmedizin. Buchveröffentlichungen u.a.: Unsere Gesellschaft macht krank, Tectum Verlag Baden-Baden 2018, Inklusion - das Recht auf Teilhabe an der Konkurrenz, Kindle 2017, Kognitive Hirnforschung - Mythos einer naturwissenschaftlichen Theorie menschlichen Verhaltens, VSA Hamburg 2008.
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