"Neue Normalität" als Geschäft und scheinbare Sicherheit
Rostock und eine Schule in Mecklenburg-Vorpommern, die negativ Getestete mit grünen Punkten und Privilegien auszeichnet, haben mit dem Corona-Test der Firma Centogene, die auch an einem "digitalen Corona-Gesundheitszertifikat" arbeitet, eine gefährliche Schwelle überschritten
Das Gymnasium Carolinum in Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern, das größte des Bundeslandes, will schneller in die "Normalität" zurück, die aber tatsächlich neu und anders ist. Die Klassen sollen wieder die übliche Zahl von Schülern enthalten, die Lehrer, auch die in Risikogruppen, sollen wieder eingesetzt werden können. Mit der seit November 2019 börsennotierten Biotech-Firma Centogene hat Schulleiter Henry Tesch als Pionier schon im April eine Vereinbarung getroffen, dass die Schüler sich "freiwillig" mit Centoswab zweimal die Woche auf Covid-19 testen können.
Die Schule muss für die Werbestrategie für das "kreative Modell" der Firma nichts zahlen, die sich über die Vereinbarung mit dem Schulleiter ein Geschäftsfeld erschließen will - was zu gelingen scheint, weil nun auch Rostock plant, die Centogene-RT-PCR-Tests an allen Schulen anzubieten. Nach der Ostsee-Zeitung fordert man einen Sonderweg, das Bildungsministerium soll auch bereits über Tests an Schulen nachdenken, aber noch nicht an flächendeckende Tests, wie dies das Unternehmen nahelegt und entsprechende Vorschläge gemacht hat. Das Unternehmen hat angekündigt, seine Testkapazitäten zu erhöhen, täglich sollen 75.000 Tests durchgeführt werden können.
In Mecklenburg-Vorpommern gab es bislang deutschlandweit die wenigsten Infizierten, bis gestern waren gerade 759 mit Sars-CoV-2 infizierte Menschen registriert worden. Davon mussten 112 (14 Prozent) im Krankenhaus behandelt werden, 20 sind in Zusammenhang mit einer COVID-19-Infektion verstorben. Gestern gab es wieder einen neu Infizierten, in den sechs Tagen zuvor keinen einzigen.
"Unser Ziel ist es", sagte Tesch, "dass alle wieder gemeinsam in einem Raum lernen können. Wenn Sie das an einer Schule wie dieser machen, die einen Radius von 60 Kilometern hat, jeden Morgen, dann testen Sie ja nicht nur hier diesen Bereich, Sie testen ja fast in die Familien und in den Landkreis hinein."
Aber von einem Test jeden Tag ist dann in der Realität doch nicht die Rede. Vorangegangen war die Initiative des Oberbürgermeisters Claus Ruhe Madsen, der mit dem in Rostock angesiedelten Unternehmen eine Teststation aufgebaut hatte, so dass sich möglichst viele Menschen auch ohne Symptome auf Covid-19 testen konnten. Centogene wurde auch vom MV-Wirtschaftsministerium für 3,5 Millionen Euro beauftragt , in Alten- und Pflegeheimen zu testen, überlegt wird, das Testen auch auf Kitas zu erweitern.
Arbeiten mit den Unsicherheiten und Ängsten Schutzbefohlener
Der Berufsverband der Akkreditierten Medizinischen Labore (ALM) kritisiert die Selbsttests, wie sie etwa in der Schule durchgeführt werden. Der 1. Vorsitzende des Berufsverbandes, Dr. Michael Müller warnt:
Diagnostische Tests gehören als Bestandteil der Patientenversorgung in ärztliche Hand - auch das breite Testen von Personen ohne Symptome. Wir Fachärztinnen und Fachärzte im Labor sehen es als unsere Pflicht an, darauf hinzuweisen, dass Qualität und Sicherheit Vorrang vor dem Einkauf vermeintlich billiger Lösungen haben sollten. Die untersuchten Menschen können nicht einschätzen, in wessen Interesse eine Testung erfolgt.
ALM
Solche Anbieter würden "mit den Unsicherheiten und Ängsten Schutzbefohlener arbeiten, um das eigene Konzept durchzusetzen. Ein solches Vorgehen beschädigt das Vertrauen in eine am Patienten- und Gemeinwohl ausgerichtete Medizin insgesamt und in die Menschen, die sich in der aktuellen Krisensituation im Sinne eines funktionierenden Gesundheitssystems engagieren."
In der Tat: Freiwilligkeit der Schüler ist Theorie, denn mit dem Nachweis, gerade nicht an Covid-19 erkrankt zu sein, können sie sich einen grünen Punkt an ihrem Namensschild mit der Weitergabe der Daten "kaufen", der ihnen Privilegien gewährt, beispielsweise einen schnelleren Zugang zur Schule, ohne lange warten zu müssen, und sie müssen in der Schule keine Mundschutzmasken tragen. Den Schülern - und Eltern - wurde ohne nähere Begründung schmackhaft gemacht, dass die Tests irgendwie gut seien: "Die Schulleitung des Carolinum wird alles dafür tun, um das beste Maß an Sicherheit zu bieten, die Rückkehr in den Alltag zu ebnen. Daher bieten wir euch die kostenfreie Testung auf das Vorliegen einer SARS-CoV-2 Infektion ab Montag, 27. 04. 2020."
Negativ heißt nicht unbedingt wirklich negativ
Der grüne Punkt gilt bis zum nächsten Test, d.h. es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Schüler sich zwischen den zweimal in der Woche gemachten Tests infizieren und das Virus dann vor allem unter den anderen Schülern ohne Masken verbreiten können. Die Inkubationszeit kann nur zwei Tage betragen. Man müsste also eigentlich alle zwei Tage testen - oder eigentlich jeden Tag.
Dazu kommt, dass die Abstriche richtig aus den oberen und tiefen Atemwegen entnommen werden müssen. Ob die Schüler, auch wenn eingewiesen, das immer richtig machen, ist fraglich. Das Robert Koch Institut weist überdies darauf hin, dass auch falsche Bedingungen während des Transports zum Labor oder ein "ungünstiger Zeitpunkt" im Krankheitsverlauf Ergebnisse beeinträchtigen können. Ein negatives Ergebnis könne die tatsächliche Infektion nicht mit Sicherheit ausschließen. Das RKI rät weiterhin von Tests von Personen ohne Symptome ab:
Von einer Testung von asymptomatischen Personen wird aufgrund der unklaren Aussagekraft eines negativen Ergebnisses sowie der Möglichkeit falsch positiver Befunde in Abhängigkeit von der Prävalenz/ Inzidenz in der Regel abgeraten.
RKI
Das Beispiel der Schule ist schon eine vorweggenommene Einübung in das zweite Pandemieschutzgesetz, das vorsieht, dass bundesweit personenbezogene Daten von nicht infizierten Bürgern nach erfolgter negativer Testung staatlich erfasst und an das Robert-Koch-Institut pseudoanonymisiert weitergeleitet werden müssen. Zwar ist vorerst der geplante Immunitätsausweis vom Tisch, aber auch mit diesen Informationen über den Infektionsstatus lässt sich bereits ohne direkten Zwang die von der Verfassung garantierte Gleichheit der Menschen durch ein Selektionsregime unterlaufen.
Und natürlich arbeitet Centogene zusammen mit der Firma Ubirch, der Bundesdruckerei und der Kölner Uniklinik auch bereits an einer App mit einem digitalen Immunitätsausweis bzw. einem "digitalen Corona-Gesundheitszertifikat", das auch mit einer Tracing-App verbunden werden kann. Das soll dann dazu dienen, dass negativ Getestete in einem bestimmten Zeitfenster Kontakt zu Infizierten oder Risikogruppen haben, Geschäfte und Öffentliche Nahverkehrsmittel ohne Mundschutz nutzen oder auch an irgendwelchen Veranstaltungen teilnehmen können. Das wird ja an den Schülern mit dem grünen Punkt bereits praktiziert.
Damit wird es möglich den Corona-Test-Status mit sich herumzutragen und an wichtigen Stellen vorzuzeigen, wenn es darum geht erhöhte Anforderungen des Infektions-Schutzes zu erfüllen, z.B. beim Besuch eines Altenheimes oder beim Antreten einer Geschäftsreise.
Ubirch
Hoher Konformitätsdruck
Dass sich schon nach den ersten Tagen 90 Prozent der Schüler den Covid-19-Tests "freiwillig" unterworfen haben, macht deutlich, wie hoch der Konformitätsdruck ist. Wer nicht den grünen Punkt besitzt, ist schnell gebrandmarkt und könnte als Gefährder gelten. Der Druck auf die Schüler - und deren Eltern - ist hoch, den Test durchführen zu lassen, über dessen Sensitivität ich keine Angaben finden konnte. Er soll nach Angaben von Centogene "extensively validated with patient and control samples for the detection of SARS‑CoV‑2 RNA" sein.
Die Firma erklärt aber auch: "Negative results do not rule out SARS CoV-2 infection and should not be used as the sole basis for patient management decisions. Negative results must be combined with clinical observations, patient history and epidemiological information." Just so handelt aber die Schule, die davon ausgeht, dass die negativ Getesteten nicht an Covid-19 erkrankt sind, während den Getesteten die Sicherheit vermittelt wird, dass sie nicht infiziert seien.
Tesch, der schon vor Verabschiedung des zweiten Pandemiegesetzes den Test den Schülern nahegelgt bzw. aufgedrängt hat, sieht sich als Avantgardist, man habe damit den "ersten Schritt in Richtung Normalität gemacht" und sei "damit auch der Politik einen Schritt voraus". Centogene macht sicherheitshalber deutlich, dass ein negatives Testergebnis eine Infektion nicht ausschließt. Angeblich werden die Daten dritten Parteien nicht weitergegeben, die von negativ Getesteten würden nach Aufforderung oder nach drei Monaten gelöscht.
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