Corona in Indien: Sorglosigkeit, Mutanten und himmelschreiende Ungleichheit

Religiöse und lokale Feste, dazu Wahlen und allgemeine Sorglosigkeit haben die zweite Welle in Indien angeschoben. Bild: Redaktion

Die Zahlen der Neuinfizierten in Indien schockieren die Welt. Dafür verantwortlich soll die indische Mutante B.1.617 sein. Zweifel an dieser vereinfachten Darstellung sind jedoch angebracht

Die Verbreitung von Covid-19 ist wie Terrorismus, und alle, die das Virus verbreiten, sind Verräter.

Dies ist keine Nachlässigkeit. Es ist eine schwere Straftat.

Die Regierung sollte nicht stillsitzen. Sie sollte ein paar abschießen, um sicherzustellen, dass die Regeln beachtet werden.

Dies sind nur einige Kommentare von Ministern und Mitgliedern der indischen Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP). Bei aktuell bis zu 350.000 Neuinfizierten pro Tag in Indien, gibt es wahrscheinlich nicht wenige, die Verständnis aufbringen würden für die harschen Worte.

Allerdings stammen die Zitate vom März 2020 und sie beziehen sich auf ein Treffen von etwa 7.000 muslimischen Tablighis in Delhi. Deren Seminar hatte bereits begonnen, bevor das damals neuartige Coronavirus zum gesundheitlichen Notfall in Indien erklärt worden war.

Zum aktuellen Megaereignis der Hindus, dem Kumbh-Mela-Fest in Haridwar im nördlichen Bundesstaat Uttarakhand, dessen letztes Bad im Ganges für den 27. April angesetzt war, schwiegen die zitierten BJP Leute, obwohl seit Januar dieses Jahres knapp 25 Millionen Hindus dort zu Besuch waren.

Bei zwei Anlässen in der zweiten Aprilwoche waren es 4,6 Millionen Gläubige - zu einer Zeit als Indien schon über 200.000 Neuinfizierte täglich registrierte. Bei der Kumbh Mela geht es nicht nur um ein Bad im Freien im Ganges, sondern die Pilger kommen zum Teil für Tage in engen Ashrams oder Zelten zusammen.

Angesichts solchermaßen praktizierter Sorglosigkeit rühren sich Zweifel an der verbreiteten Annahme, dass es hauptsächlich die indische "Doppelmutante" B.1.617 ist, die die Zahlen seit ein paar Wochen in Indien so rasant hat ansteigen lassen, zumal auch Wissenschaftler dafür noch keinen Beleg gefunden haben.

Dafür gibt es weitere Beispiele der Sorglosigkeit aus Indien: Am 13. April feierten Tausende Menschen im Dorf Kairuppala im Bundesstaat Andhra Pradesh ein regionales Fest, bei dem sich die Feiernden dichtgedrängt und ohne Maske mit Kuhfladen bewarfen. Seit dem ersten April dieses Jahres finden im 100 Millionen Einwohner Bundesstaat West-Bengalen Wahlen statt - über einen Zeitraum von einem Monat.

Bis vor wenigen Tagen hielten alle Parteien Hunderte Wahlkampfveranstaltungen ab, mit zum Teil Zehntausenden von Besuchern. Auch Premierminister Narendra Modi und Innenminister Amit Shah nahmen daran teil. Beide BJP-Spitzenpolitiker besuchten beflissen auch die Wahlkampagnen ihrer Partei in den Bundesstaaten Kerala, Tamil Nadu und im Unions-Territorium Puducherry, wo Anfang April gewählt wurde.

Im März gab es Wahlveranstaltungen im Bundesstaat Assam. Begleitet von äußerst fragwürdigen öffentlichen Aussagen wie etwa vom einflussreichen BJP-Mitglied Vijay Chauthaiwale: "Wahlveranstaltungen und religiöse Zusammenkünfte tragen nicht zur Verbreitung von Covid-19 bei."

Frühe Warnungen und Zweifel an offiziellen Zahlen

"Das Überraschende an dieser Sorglosigkeit ist", sagt Gopal Krishna von ToxicsWatch, "dass das Parliamentary Standing Committee on Health schon im November 2020(!) in einer Studie die zweite Welle voraussagte. Ebenso warnte es vor einem Mangel an medizinischen Sauerstoff, zur Beatmung der zu erwartenden schwer Erkrankten. Es handelt sich dabei um eine Studie, die der Regierung übergeben wurde."

Warum die Zahlen der Infizierten so rasant angestiegen sind, ist wissenschaftlich noch nicht geklärt. Als Grund, warum die Zahlen der täglich Infizierten sich im Vergleich zur ersten Welle mehr als verdreifacht haben, wird häufig darauf verwiesen, dass jetzt mehr getestet werde, wie dies auch Narendra Modi anführte.

Laut Beobachter des Landes dürfte kein Experte den Infektionszahlen der Regierung, die sie für die erste Welle angegeben hatte, getraut haben. Die Fachwelt geht von höheren Zahlen aus. Man schätzt, dass sich im Mai 2020 täglich bis zu einer Million Inderinnen und Inder mit dem Corona-Virus infiziert haben könnten. Bestätigt wird dies beispielsweise durch Erfahrungen in der Megacity Mumbai, die lange Zeit die Rangliste der täglich Infizierten der zweiten Welle anführte. So berichtet Nathalie Mayroth von der taz:

Für den Beamten Bhaskar Gurav sind es erneut angespannte Zeiten. Die Toten, die täglich ankommen, werden immer mehr. Das Krematorium liegt unweit eines großen Corona-Feldkrankenhauses, weshalb unter den Verstorbenen viele Coronafälle sind. Die Situation im vergangenen Jahr war schlimmer, sagt Gurav, aber dieser Monat sei kein guter.

taz

Die Experten Hemant Shewade and Giridara Gopal gehen davon aus, dass die Todeszahlen der ersten Welle sogar fünf Mal höher gewesen sind, als von der Regierung angegeben.

"Sorglosigkeit" und "unangemessenes Verhalten"

Das Indian Council of Medical Research (ICMR) kommt zum Schluss, dass es keinen Unterschied in der Sterblichkeitsrate von Covid-19- Infizierten bei der ersten und zweiten Infektionswellen gibt.

Das Institut nennt die "erschreckende Sorglosigkeit" (i. O. "tremendous amount of laxity") im Umgang mit dem Virus als einen der drei Hauptgründe für den starken Anstieg der Infektionszahlen. Den zweiten sehen sie im unangemessenen Verhalten (i.O. "Covid inappropriate behaviour") und zuletzt nennen sie die Ausbreitung verschiedener, noch nicht identifizierter Mutanten.

Sauerstoff und Haushaltspolitik

Sicher ist, dass Indien dieses Mal der medizinische Sauerstoff in vielen Krankenhäusern ausgeht. Aber nicht überall, wie Gopal Krishna feststellt:

"Während das Tempo der zweiten Welle offenbar schnell ist, gibt es einen lange bekannten Fakt: Dass kontinuierlich zu wenig Geld im Haushalt für die Gesundheitsinfrastruktur zur Verfügung gestellt wird und dass es an geschultem Personal mangelt. Kerala hat weit weniger Probleme - wegen der besseren Gesundheitsinfrastruktur. Uttar Pradesh geht es in der zweiten Welle am schlechtesten, weil es zu wenig in den öffentlichen Gesundheitssektor investiert."

Die indische Zentralregierung von Narendra Modi schiebt die Schuld für den fehlenden Sauerstoff in den Krankenhäusern auf die Regierungen der Bundesstaaten. Doch in einem Faktencheck wies das indische Magazin Srcoll.in nach, dass die Zentralregierung den Bundesstaaten keine Gelder für diesen Zweck zugewiesen hat.

Zudem ließ die Zentralregierung acht Monate wertvolle Zeit verstreichen, bevor sie die ersten Angebote zum Bau von Fabriken zur Sauerstoff-Herstellung einholten. Einseitigkeit ist dem Faktencheck nicht vorzuwerfen. So wies Sroll.in ebenso nach, dass die Stadtregierung Delhis mehr für den Bau von Sauerstoff-Fabriken hätte tun können, als diese behauptete.

Unerwünschte Kritik in Medien

Ob es solche Faktenchecks in indischen Medien noch lange geben wird, ist fraglich, denn die Zentralregierung lieferte ein weiteres Beispiel, warum Indien im Pressefreiheitindex auf Platz 142 abgerutscht ist: Sie forderte die verantwortlichen von Twitter auf, Meldungen zu löschen, die die Regierung und ihre Corona-Maßnahmen kritisieren.

Auch was die Impfungen angeht, so hat sich das Bild in Indien mit der zweiten Welle komplett gewendet: von einem Land, das Nachbarländer und weiter entfernte mit eigenem Impfstoff versorgen konnte, zu einem Land, das auf internationale Hilfe angewiesen ist.

Zwar ist die Gesamtzahl der verabreichten Impfungen mit knapp 140 Millionen beeindruckend, doch bis zum 25. April haben nicht einmal 2 Prozent der Bevölkerung ihre zweite Impfung bekommen.

Ein erneuter landesweiter Lockdown?

Mit dem Problem, die steigenden Fallzahlen der Infizierten zu stoppen, wurden die einzelnen Bundesstaaten lange allein gelassen. Einige reagierten mit nächtlichen Ausgangssperren, andere wie die Stadtregierung Delhis mit einem kompletten Lockdown.

In einer Rede zur Nation am 18. April sagte Premierminister Modi, das Indien bisher das Corona-Virus mit Disziplin und Ruhe bekämpft habe und dass dies so fortgesetzt werden soll.

"Da ich die Bilder der Kumbh Mela und der Wahlveranstaltungen aller politischen Parteien im April noch im Kopf habe, hoffe ich das nicht", kommentiert Gopal Krishna die Worte seines Premierministers. Auch der Ankündigung Modis, einen Lockdown "nur als äußerstes Mittel anzuwenden", traut Gopal Khrishna nicht:

"Narendra Modi sprach schon von sogenannten regionalen Mikro-Lockdowns. Aber die Lockdowns treffen die Ärmsten wirtschaftlich am härtesten."

Krishna denkt dabei an den 24. März 2020, als Narendra Modi den 1,4 Milliarden Bewohnern des Landes nur vier Stunden Zeit gab, um sich auf einen landesweiten Lockdown einzustellen. Eine Woche später befürchtete Gilbert Kolonko an dieser Stelle, dass die Sache schlecht ausgehen könnte: Es wird böse werden. Gewaltig böse - und es kam schlimm: Hundertausende Wanderarbeiter flohen in den Wochen danach aus den Städten. Weil auch der Zug- und Bahnverkehr von der Regierung ausgesetzt wurde, müssten viele Arbeiter zum Teil auf den Autobahnen und Gleisen Hunderte Kilometer zu Fuß in ihre Dörfer zurücklegen. Hunderte starben dabei.

Das Schlimme, so wurde aus dem Land berichtet, war nicht der Lockdown an sich, sondern die miserable Planung. Außerdem wurde der Lockdown über Monate verlängert - und es wurde zu einem schlechten Zeitpunkt wieder geöffnet: Als die erste Welle ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Auch die wirtschaftlichen Folgen waren hart: Im ersten Quartal 2020 brach das Wirtschaftswachstum um 23 Prozent ein. Laut einer Studie von action aid haben 80 Prozent der Arbeiterschaft im informellen Sektor während des Lockdown ihre Arbeit verloren - 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Indiens ist im informellen Sektor tätig.

Kurzfristig gehen alle Experten davon aus, dass die Fallzahlen weiter ansteigen und auch die Zahlen der Toten, weil das staatliche Gesundheitssystem in vielen Landesteilen seit Jahrzehnten unterfinanziert ist und schon jetzt an seine Grenzen gestoßen ist. Doch, wie es mittelfristig weitergeht, ist noch nicht klar. Dafür haben sich (inoffiziell) schon zu viele Inder mit Covid-19 angesteckt. Eine Hoffnung, die öfter zu hören ist, heißt, ob bald eine Herdenimmunität erreicht sein würde?

In Delhi hatten sich laut der letzten Antikörper-Studie im Januar schon über 50 Prozent der Hauptstädter mit Covid-19 infiziert. In Delhi, Pune oder Mumbai zeigten die Antikörperstudien aus dem letzten Jahr noch etwas anderes: Es waren vorwiegend die materiell Armen, die sich infiziert hatten. Eine aktuelle Antikörperstudie aus Mumbai zeigt jetzt das Gegenteil: In der zweiten Welle trifft es auch verstärkt die Mittelklasse in den "Hochhausghettos". Dagegen ist die Quote derjenigen mit Covid-19 Antikörpern in den Slums von Mumbai gesunken: Von 57 Prozent im Juli 2020 auf aktuell 41 Prozent.

Dieses Ergebnis steht im Kontrast zu den Ergebnissen in Delhi, wo die Quote von 23 Prozent im August 2020 kontinuierlich auf über 50 Prozent im Januar 2021 angestiegen ist.

Eins gilt jedoch auch für Indien: Die Ungleichheit, die auf Kosten eines anständigen Gesundheitssystems geht, ist himmelschreiend. Indiens Superreiche flüchten aktuell mit Privatjets nach London, obwohl der Flugverkehr für die Normalsterblichen von und nach Indien ausgesetzt ist.