Corona und Grundrechtsunsensibilität
Der Kampf um die Versammlungsfreiheit wird nun breiter geführt, ein kleiner Sieg wurde beim Verfassungsgericht errungen. Derweil verbreitet die Berliner Polizei Unwahres über ihre repressiven Einsätze
Am Donnerstag hat das Bundesverfassungsgericht zwei von der Stadt Gießen verbotenen politischen Versammlungen eine zweite Chance besorgt. Die Stadt hatte Versammlungen mit mehr als zwei Menschen aus unterschiedlichen Haushalten generell verboten und wurde dabei vom hessischen Verwaltungsgerichtshof gestützt. Deutschlands höchstes Gericht sagt nun aber, dass es kein generelles Verbot von Versammlungen gibt und dass jeder Einzelfall geprüft werden muss, was in Gießen nicht geschehen sei. Demzufolge ist es nun also möglich, dass die Stadt nicht mit einer pauschalen, sondern auf den konkreten Fall bezogenen Argumentation die Veranstaltungen verbietet.
Wie einfach das ist, zeigt ein Beispiel aus Berlin. Da teilte das Kollektiv, das hinter dem 2017 zu Gunsten einer luxemburgischen Briefkastenfirma geräumten Nachbarschaftszentrum Friedel 54 stand, kürzlich mit, dass ihm im Stadtteil Neukölln eine "Demonstration für den Erhalt alternativer Kiezkultur" verwehrt worden war. Es geht dabei vor allem um die räumungsbedrohte Kneipe "Syndikat", deren Haus ebenfalls einer luxemburgischen Briefkastenfirma gehört (die übrigens einem bis vor kurzem unbekannten großen Immobilienfirmengeflecht angehört, das bis zu einer der reichsten Familien Englands zurückverfolgt werden kann).
Laut der Darstellung des Kollektivs "Friedel 54 im Exil" (einige der Veranstaltungen der früheren Friedel 54 finden nun an anderen Orten statt) sollte die Demo am Ostersamstag stattfinden. Trotz anwaltlichen Beistands und angekündigter Sicherheitsvorkehrungen habe die Gesundheitsbehörde des Bezirks Neukölln geraten, die Veranstaltung nicht zu erlauben, und so kam es dann auch. Die geplanten Sicherheitsmaßnahmen sahen folgendermaßen aus:
Die Route der Demonstration wurde verkürzt und die Teilnehmendenzahl auf 20 Personen begrenzt, die den Veranstaltenden bereits im Vorfeld bekannt sein sollten. Dementsprechend wurde in den öffentlichen Aufrufen explizit davon abgeraten, zu der Veranstaltung zu kommen. Auf der Demonstration selbst sollten alle Teilnehmenden Mund-Nasen-Schutz und Handschuhe tragen. Außerdem wurde geplant, dass die Demonstrierenden jeweils zu zweit ein mindestens zwei Meter langes Transparent tragen und diese Zweiergruppen in jeweils ca. fünf Meter Abstand zueinander laufen, um damit den notwendigen Abstand untereinander zu gewährleisten. Am Startpunkt sollte es Kreidemarkierungen zur Einhaltung des Abstands geben.
Doch Gesundheitsamt und Versammlungsbehörde reichte das nicht. "In der Verbotsbegründung heißt es, dass grundsätzlich jede Menschenansammlung ein Infektionsrisiko darstellt und insbesondere im Rahmen einer Versammlung unter freiem Himmel nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich immer wieder Personen dem Aufzug nähern oder gar anschließen könnten", schreibt das Kollektiv in seiner Pressemitteilung vom 9. April. "Selbst der Vorschlag, aus der Demonstration eine stationäre Kundgebung vor dem 'Syndikat' zu machen, änderte nichts an der Einschätzung."
Neuköllns Gesundheitsstadtrat und stellvertretender Bezirksbürgermeister Falko Liecke (CDU) begegnet der Kritik mit einer zweiseitigen Replik, derzufolge das Gesundheitsamt "in seiner ausführlichen fachlichen Stellungnahme Wege aufgezeigt" habe, "wie eine Versammlung dennoch stattfinden kann".
Hochrangige Juristen fordern mehr Versammlungsfreiheit
Dass sich an der ständigen Verhinderung der Versammlungsfreiheit in fast ganz Deutschland nun auch in hohen juristischen Kreisen Kritik regt, berichtete Gudula Geuther vom Hauptstadtstudio des Deutschlandradios am Donnerstag in der Mittagssendung von Deutschlandfunk Kultur, als die Meldung über die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht noch ganz frisch war.
Die rechtspolitische Korrespondentin hielt im Interview fest, dass kleine Demonstrationen auch heutzutage eigentlich nicht pauschal verboten werden können, aber "die Praxis scheint ganz überwiegend anders zu sein". In Thüringen seien "ausdrücklich auch Demonstrationen" verboten worden, nur Bremen steche positiv hervor. Sie erwähnt die auch im Fall des Demo-Versuchs in Neukölln von den Behörden verwendete Rechtfertigung, eine für wenige Menschen angemeldete Versammlung könne weitere Leute anziehen, und sagt dazu: "Wenn man so argumentiert, ist das Grundrecht tot." Eine Abwägung zwischen diesem Grundrecht und dem Infektionsschutz habe offensichtlich "nicht immer" stattgefunden, meint sie. Geuther wies darauf hin, dass "sehr viele Staatsrechtler" sich kritisch zum faktisch umfassenden Demonstrationsverbot geäußert hätten, weil sie die Sorge hätten, dass "die Notwendigkeit der Abwägung unter den Tisch fällt".
Möglicherweise finden nun auch im weitesten Sinne sozialwissenschaftliche Fachleute Gehör, nachdem bisher vor allem die Experten aus der Medizin die Politik und die gesellschaftliche Stimmung beeinflusst haben.
Berliner Polizei berichtet falsch über Repressalien
Am Karfreitag berichtete ich hier (Absurde Polizeibefugnisse) über drei höchst fragwürdige Aktionen der Berliner Polizei in den letzten Wochen, die Grundrechte im öffentlichen Raum einschränkten. Eine davon richtete sich am 5. April gegen einen kleinen Autokorso im Rahmen einer Kampagne des Bündnisses "Seebrücke" zur Lage der Flüchtlinge in Griechenland.
Die Polizei brauchte eine Woche, um auf Fragen zu den Geschehnissen zu antworten. Am Mittwoch teilte sie mit, dass ein Trupp von 20 Einsatzkräften da "elf Pkw und ein Krad angehalten" habe, wobei ein Pkw "ein begleitendes Pressefahrzeug" gewesen sei. Nun werde "innerhalb eines Strafverfahrens gegen 22 Personen wegen des Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz ermittelt". Diese Leute hätten keinen "triftigen Grund" für das Verlassen der Wohnung gehabt. "Zusätzlich wurde eine Strafanzeige wegen des Verdachts des Verstoßes gegen § 26 Versammlungsgesetz gefertigt. Diese Strafanzeige wurde zwischenzeitlich an die Staatsanwaltschaft mit der Bitte um Herbeiführung einer Entscheidung abgegeben."
Ein Aspekt der Antwort der Polizei ist allerdings unglaubwürdig. So berichtete ich in meinem Telepolis-Artikel, dass die Polizei bei der Kontrolle des Autokorsos "beide Fahrspuren Richtung Zentrum der Skalitzer Straße, einer der Hauptstraßen Kreuzbergs", sperrte. Auf meine Frage, wie lange diese Sperrung gedauert hatte, antwortet die Polizei nun: "Die Skalitzer Straße war zu keiner Zeit gesperrt, lediglich der rechte Fahrstreifen der zweispurigen Richtungsfahrbahn war für die Dauer der Kontrollmaßnahmen ca. 1,5 Std. nicht befahrbar."
Das ist aber unwahr. Wie ich selbst sehen konnte, stand an der Kreuzung vor der Kontrolle ein Polizei-Kleinbus quer auf der Straße - und somit auf beiden Fahrstreifen. Der Sozialwissenschaftler Alexander Bosch, der an der Hochschule für Wirtschaft und Recht zu Polizeithemen forscht und lehrt, war noch vor mir zufällig vor Ort und bestätigt, dass "in der gesamten Zeit der Maßnahme kein privater PKW eine der beiden Fahrspuren nutzen konnte". Die Opfer der Polizeimaßnahme berichten übrigens, dass die Personalienfeststellung drei Stunden gedauert habe.
Bosch erwähnt, dass die Polizei sogar eingeschritten sei, als die Insassen der Autos sich kurzzeitig auf der Straße mit gebührendem Abstand zueinander postiert hätten, um für die Online-Kampagne zur Rettung der Flüchtlinge in Griechenland ein Foto mit politischen Botschaften zu machen. Auch das sei aus Prinzip nicht erlaubt gewesen.
Der Sozialwissenschaftler widerspricht der Polizei auch in Bezug auf die anderen beiden Situationen, die in meinem Artikel von Karfreitag erwähnt sind. Zum einen ging es da um eine Quasi-Umzingelung des Reuterplatzes im Stadtteil Neukölln am Tag vor dem Autokorso. Die Polizei erklärt dazu, es habe an dem Tag "einen spontanen Fahrrad-Aufzug" (gemeint ist kein Fahrstuhl, sondern eine Demonstration) gegeben, der unter anderem mit "Kräften einer Einsatzhundertschaft" verfolgt worden sei, aber nicht zum Stehen gebracht werden konnte. "Im Bereich des Reuterplatzes" seien dann verdächtige Personen gesehen worden, doch die hinbeorderten Polizeikräfte waren erfolglos:
Ein Wiedererkennen der Radfahrenden war nicht zweifelsfrei möglich, so dass die Maßnahmen beendet wurden. Die Maßnahmen vor Ort dauerten von 14:59 Uhr bis 15:15 Uhr an. Während dieser Zeit wurden die Ein- und Ausgänge des Parks durch Dienstkräfte einer Einsatzhundertschaft kontrolliert, um zu verhindern, dass sich mögliche Beteiligte des Fahrrad-Aufzugs entfernten. Unbeteiligte waren hiervon zu keiner Zeit betroffen, der Park war zu jeder Zeit frei zugänglich. Im Park selbst wurden themenbezogene Pappschilder gefunden, die jedoch keiner Person zugeordnet werden konnten. Eine Strafanzeige wegen des Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz wurde gefertigt.
Polizei Berlin
Genau genommen geht aus dieser Darstellung nicht hervor, dass die Grünfläche jederzeit nicht nur betreten, sondern auch verlassen werden konnte. Alexander Bosch bekräftigt gegenüber Telepolis nochmal seine Darstellung: Mindestens 20 Minuten lang habe niemand die Parkanlage verlassen können. Er habe den Park betreten und dann die polizeiliche Kommunikation ein bisschen mithören können:
Der Einsatzleiter funkte mehrfach, dass sie nun am Reuterplatz seien und die Situation erst einmal eingefroren hätten und sich einen Überblick verschaffen wollten. "Einfrieren" heißt im Polizeijargon, keine Veränderung der Situation zuzulassen. Das wird oft nach Eintreffen an einem Schauplatz gemacht. Nach ca. 10-15 Minuten gab es eine Einsatzbesprechung, in der den Beamten gesagt wurde, dass sie jetzt die Personen am Ende des Parks kontrollieren sollten, die eng beieinander auf den Stufen saßen.
Alexander Bosch
Die Aktion habe zudem deutlich länger gedauert, als von der Polizei zugegeben: "Ich habe Fotos und Videos von der Aktion gemacht. Mein erstes Bild ist von 15 Uhr und mein letztes Video von 15:25 Uhr. Kurz nach dem Ende der Aktion habe ich einen Sprachtagebucheintrag mit dem Handy aufgenommen, und das war um 16 Uhr." Boschs systematisches Vorgehen ist der Tatsache geschuldet, dass er die Polizei beforscht und sich gerade auch für deren Aktionen im öffentlichen Raum interessiert.
Die Polizei konnte übrigens dann doch noch einen Erfolg der Jagd auf die Fahrrad-Demo verbuchen. So teilt sie mit: "Im Bereich der Friedelstraße wurde eine ehemalige Teilnehmerin angetroffen und eine Strafanzeige wegen Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz gefertigt."
Der dritte geschilderte Fall, wo die Polizei im öffentlichen Raum ein Grundrecht ohne Not außer Kraft setzte, betraf Alexander Bosch direkt. Er hatte am 27. März eine Polizeikontrolle am Görlitzer Park im Stadtteil Kreuzberg beobachten wollen, wobei ihm aber aufgrund des Infektionsschutzgesetzes ein Platzverweis erteilt und eine Anzeige wegen einer Ordnungswidrigkeit angekündigt wurde.
Die Polizei schildert den Fall nun so: "Ihm wurden die Maßnahmen erklärt und er wurde gleichzeitig auf die Einhaltung des Mindestabstands hingewiesen, den er aufgrund der Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 zu beachten hat." Mehrmals sei er aufgefordert worden, diesen Abstand einzuhalten. Zudem habe er auf die Frage, warum er überhaupt das Haus verlassen habe, keinen "triftigen Grund" angegeben. Auch das Androhen eines Platzverweises und einer Anzeige hätten ihn nicht vertrieben, so dass diese Maßnahmen dann gegen ihn ergriffen wurden.
Alexander Bosch sagt dazu: "Ich habe nur darauf bestanden, mir in gebührendem Abstand die Maßnahme anschauen zu können." Dass er dabei die Polizei nicht durch zu geringen Abstand behinderte oder gar gesundheitlich gefährdete, kann bei einem Polizeiforscher, der nicht nur seine Rechte gegenüber der Polizei kennt, sondern auch deren Rechte bei der Arbeit, wohl unterstellt werden. Zur Bekräftigung stellt Bosch mehrere Fotos von der Situation zur Verfügung, die aus mehreren Metern Abstand aufgenommen worden sind.
Dass sich die Polizei dort einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt gesehen haben soll, erscheint zudem schon deshalb fragwürdig, weil sie sowohl bei dieser Personenkontrolle als auch in letzter Zeit grundsätzlich ohne Gesichtsschutz ihre Arbeit verrichtete. Auch bei der Kontrolle des Autokorsos, dessen Teilnehmende wohl alle einen Mund-Nase-Schutz trugen, trug sie nichts dergleichen. Auf Boschs Fotos von der Aktion auf dem Reuterplatz ist da ebenfalls nichts zu sehen, dabei ging es ja um das Festsetzen von Menschen, also um Nahkontakte.
Auf die Frage, wie die Polizei bei der Kontrolle des Autokorsos und allgemein auf den Infektionsschutz achtet, antwortete die Pressestelle gegenüber Telepolis: "Die Dienstkräfte der Polizei Berlin sind hinsichtlich des Infektionsschutzes im internen wie externen Umgang umfassend sensibilisiert. Während der polizeilichen Maßnahmen wurde stets der maximal notwendige und mögliche Sicherheitsabstand gewahrt." Auch das ist eine mehr als fragwürdige Aussage, denn die Personalienfeststellungen und Gespräche am Autokorso fanden nicht aus anderthalb Meter Entfernung statt.