Corona und die neue Protestkultur
In Frankreich, Italien, Griechenland sind Leute auf die Straße gegangen, in Tunesien wurde sogar die Regierung gestürzt. Doch man sollte genauer hinschauen, was in den einzelnen Ländern gefordert wird und wer die Proteste dominiert
Der Konflikt zwischen den rechtspopulistischen tunesischen Präsidenten und der nicht weniger reaktionären islamistischen Regierungspartei schwelt schon lange. Doch erst die Proteste gegen die Ausbreitung von Corona und die Reaktion der Regierung darauf, haben dazu geführt, dass Kais Saied mit Unterstützung von Militär und Polizei zunächst für einen Monat das Parlament suspendierte. Es ist sicher nicht die erste Regierung, die wegen Corona stürzte, aber nirgends ist der Zusammenhang so deutlich wie in Tunesien.
Die sogenannte westliche Welt, für die Tunesien das Musterland war, weil es nach den "arabischen Frühling" auf dem Pfaden der bürgerlichen Demokratie blieb, ist düpiert. Dass die soziale Lage für viele Menschen in Tunesien weiterhin ausweglos blieb und viele junge Männer eine bessere Zukunft in der Migration in den EU-Raum sahen,ist da schon eingepreist. Aber auch im EU-Raum sorgt die Corona-Krise weiterhin für politische Verwerfungen.
Frankreich entwickelt sich zum europäischen Zentrum der Corona-Proteste, warnte die FAZ. Besonders erschreckend ist für das konservative Blatt die Staatsfeindlichkeit der Demonstranten. Es wird auch drauf verwiesen, dass erfahrene Aktivisten der Gelbwesten-Bewegung bei den Protesten aktiv mitmischen.
Da werden wie schon am Beginn der Gelbwesten-Bewegung die Reflexe gegen die Demonstrationen des "Pöbels" mobilisiert, die nicht für die Umwelt auf die Straße gehen, sondern dafür, zum Monatsende noch über die Runden zu kommen. Erst kürzlich hat der bekennende Grünen-Wähler Claus Leggewie in einem Interview mit der Wochenzeitung Freitag seine Verachtung für die Gelbwesten gezeigt, die angeblich nur an ihre ökonomischen Interessen denken.
"Ja zu Impfungen, nein zu Gesundheitspässen und Entlassungen"
Leggewie knüpft damit an eine bürgerliche Erzählung an, nach der die Gelbwesten vor allem rechtsoffen sind. Erst Basisgewerkschaftlern, wie den in Marseille lebenden Willi Hajek gelang es, mit seinem Buch Gelb ist das neue Rot dieses Bild zu korrigieren. Er zeichnet dort nach, dass auch Basisgewerkschaften in der sehr heterogenen Gelbwesten-Bewegung aktiv sind.
Auch an den jüngsten Protesten in Frankreich beteiligten sich zahlreiche Gewerkschaften. Es handelt sich dabei keineswegs um "Corona-Leugner". Schließlich lautet eine zentrale Forderung der Proteste "Ja zu Impfungen, Nein zu Gesundheitspässen und Entlassungen". Es sind also die sozialen Folgen des Corona-Lockdowns, die der aktuellen Regierung gefährlich werden können.
Es sind auch keine kurzzeitig aufflammenden Proteste. Sie haben eine gewisse Kontinuität. Die Rechten können die Proteste nicht so einfach vereinnahmen, weil eben auch Basisgewerkschaften und linke Gruppen aktiv sind. Wichtig ist aber, dass sich die Protestierende nicht gegen Impfungen positionieren und damit in der Tradition der Arbeiterbewegung und anderer fortschrittlicher Bewegungen weltweit stehen.
Ob nach 1917 in Russland, nach 1959 in Kuba oder 1979 in Nicaragua: Immer sorgten Impfkampagnen gegen unterschiedliche heilbare Krankheiten zu einen Rückgang der Sterblichkeit und immer waren es klerikale und irrationalistische Kräfte, die gegen die Impfungen mobilisierten.
Klerikale und rechte Kräfte auf den Straßen Griechenlands
Solche Kräfte mobilisierten am Wochenende in Griechenland zu teilweise militanten Demonstrationen in verschiedenen Städten. Dort stand die Impfpflicht des Landes für verschiedene Berufe, beispielsweise im Gesundheitswesen, im Mittelpunkt der Kritik.
Da die Corona-Schutzmaßnahmen die Touristikindustrie stark trifft und viele Menschen von den Einnahmen der Tourismussaison leben, sind sie von den corona-bedingten Ausfällen besonders tangiert. Daher hat der Protest auch eine soziale Komponente, wird aber eben von reaktionären Kräften dominiert. Ähnlich ist das Gemengelage bei den Protesten auch in Italien, wo von der Krise betroffene Mittelständler wie diverse rechte Gruppen auf die Straße gehen.
Die aktuell schwache außerparlamentarische Linke ist auf den Protesten auch nur schwach vertreten. Dabei haben vor allem basisgewerkschaftliche Kräfte mit der Streikwelle im Logistiksystem von Amazon ihre Macht gezeigt. Schon im letzten Jahr haben Beschäftigte in Italien die Schließung von Produktionsstätten erzwungen, um nicht dem Virus ausgesetzt zu sein.
Protest auch gegen irrationale Corona-Politik in Deutschland?
Dieses Beispiel zeigt wie falsch es ist, bei den Protesten eine Unterscheidung zu machen zwischen solchen, die angeblich das Virus ernst nehmen, und den anderen, die es angeblich verharmlosen. Hier wird eine völlig falsche Spaltungslinie aufgezogen.
Vielmehr sollte es um den Protest gegen eine staatliche Politik gehen, die den Beschäftigten unter Corona-Bedingungen weitere Belastungen auferlegt. Die ZeroCovid-Befürworterin Bini Adamczak hat in einem SoZ-Kommentar diese Politik zu Recht als irrational bezeichnet.
"So präzise die Prognosen, mit der die pandemischen Wellen vorhergesagt wurden, so groß die Überraschung, wenn sie tatsächlich eintraten", schreibt Adamczak. Da kann man ihr nur zustimmen, auch wenn man kein Befürworter von ZeroCovid ist. Gerade sieht man wieder, dass alle scheinbar staunend ein Corona-Geschehen verfolgen, das nun gar nicht überraschend ist.
Schon werden die ersten Clubs in NRW wieder geschlossen und die Meldungen über neue Ansteckungen häufen sich. Wie lange wird es dauern, bis ein neuer Lockdown wieder für unausweichlich erklärt wird, auch wenn Politiker aller Parteien diesen jetzt noch kategorisch ausschließen?
Dann wird es auch in Deutschland wieder neue Proteste auf den Straßen geben. Die Frage wird nur sein, ob sie nach dem Modell Griechenland von rechten, irrationalen Kräften und Impfgegnern dominiert sind oder ob nach dem Modell Frankreich die soziale Frage und Impfungen für Alle nicht nur im globalen Norden im Mittelpunkt stehen.