Coronadebatte bei Attac: Der Spaltervirus

Seite 2: Das Ende des Wissenschaftlichen Beirats von Attac

Auch das Ende des Wissenschaftlichen Beirats von Attac – einer laut Sprecherin Distelrath eigenständigen Organisation, mit der Attac kooperiert habe – begann vergangenes Jahr mit einer Abgrenzung. Der Sozialwissenschaftler Stephan Lessenich, gerade als neuer Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gestartet, wurde von der FAZ über seine Verortung in der Linken und seiner Mitgliedschaft im Wissenschaftlichen Beirat von Attac befragt.

"Dort bin ich vor wenigen Tagen ausgetreten, weil einige Beiratsmitglieder Positionen vertreten haben, die man eher im Corona-Leugner-Milieu vermuten würde", antwortete Lessenich im Mai 2021. "Wenn ein Mitglied auf seiner persönlichen Homepage Merkel und Hitler nebeneinander abbildet, dann ist einfach Schicht – egal, wo man politisch steht."

Kurz nach Veröffentlichung des Interviews begann auf der Mailingliste des Wissenschaftlichen Beirats die Diskussion, in die Telepolis Einblick hatte. Es geht um Corona, den Hitler-Merkel-Vergleich und eine Distanzierung, die rasch geschrieben wird.

Der Vergleich selbst ist übrigens auf Instagram zu finden. Hier veröffentlicht der Politikwissenschaftler, Lyriker und Künstler Rudolph Bauer Bildmontagen. Am 16. April 2021 hatte er die Merkel-Raute und einen gestikulierenden Hitler montiert und mit "Gesten der Ermächtigung" beschrieben.

Bauer war es auch, der im April 2021 scharf kritisiert hatte, dass Attac Deutschland den Aufruf des "#unteilbar"-Bündnisses gegen "Querdenken" "Pandemieleugner:innen", die mit "Faschist:innen" protestierten unterstützte. Bauer hielt den Aufruf für "unsachliche Hetze" und stellte seine eigene Sicht der Dinge dagegen. Er hat sie in mehreren Aufsätzen niedergeschrieben und in einer Broschüre zusammengefasst. Sie heißt "Vernunft in Quarantäne – Der Lockdown als Zivilisationsbruch und Politikversagen" (Pad-Verlag).

Schon der Begriff "Zivilisationsbruch" im Untertitel weckte bei einigen Mitgliedern des Beirats Argwohn. Ist das nicht ein Vergleich mit dem NS-Faschismus als Zivilisationsbruch? Und dann noch das Hitler-Merkel-Bild sowie Bauers Analyse über den Medizin-Fundamentalismus der "Nazi Doctors" – wieder ein Vergleich zwischen den medizinischen Maßnahmen der Nazis und den medizinisch-hygienischen Maßnahmen in der Coronazeit.

Bauer schreibt:

Statt alle denkbaren medizinischen Anstrengungen zu unternehmen, um Patienten mit einer Covid-19-Erkrankung zu heilen, werden von Seiten der Regierungen in Bund und Ländern Maßnahmen notverordnet, die angeblich die Bekämpfung der Infektion durch das Corona-Virus bezwecken.

Er erkennt Parallelen zum totalitären Medizin-Fundamentalismus der Ärzte im NS-Faschismus und warnt im Text vor einer "Hygiene-Diktatur". Gerade die deutsche Politik neige in besonderer Weise zu antidemokratischen, autoritären und faschistischen Lösungen.

Auch die weiteren Texte der Broschüre analysieren aus der Sicht eines Politikwissenschaftlers die Versäumnisse und Gefahren der staatlichen Corona-Politik. Die Position Bauers ist deutlich, seine Kritik auch. Zuweilen wird er polemisch. Und dann trat er auch noch auf Veranstaltungen von Organisationen auf, die dem Attac-Konsens entgegenstehen sollen. Wieder die Kontaktschuld.

Die Mehrheit des Wissenschaftlichen Beirats kritisierte Bauer, seine Position und seine Polemik, mit der er auch auf der Mailingliste auftrat. Er argumentierte dabei immer auch inhaltlich, worauf sich nur wenige der anderen Mitglieder einlassen. Sie kritisierten stattdessen die verschiedenen Nazivergleiche.

Vermittelnde Stimmen wurden nicht gehört. Eine wissenschaftliche Debatte fand nicht statt, auch wenn einige Mitglieder sie einforderten. Gerade in einem Wissenschaftlichen Beirat müssten auch abweichende Meinungen gegenüber dem allgemeinen Konformitätsdruck ausgehalten werden, schrieb ein Mitglied.

Die Stellungnahme nach dem Lessenich-Interview ist eine Abgrenzung. Sie richtet sich, so der Titel, "Gegen die Verharmlosung der Covid-19-Pandemie, Verschwörungsmythen und falsche Vergleiche mit dem Nationalsozialismus". Nicht alle waren damit einverstanden und so erschien sie nur mit den namentlichen Unterschriften einiger Mitglieder.

Bauer selbst hatte sich kurz vor der Veröffentlichung noch einmal mit einer scharfen Kritik gewehrt, wurde dann aber von der Mailingliste gestrichen. Kurze Zeit später wurde über die Auflösung des Beirats abgestimmt, er sei nicht mehr arbeitsfähig, schließlich hätten einige Mitglieder die "Hirngespinste" Bauers gedeckt. Von den 86 Mitgliedern nahmen 52 an der Abstimmung teil, 39 stimmen der Auflösung zu. Seitdem befindet sich der Beirat in einer "Phase der Reorganisation" heißt es auf der Website von Attac.

Der Koordinierungskreis von Attac Deutschland steht derzeit in Kontakt mit der Steuerungsgruppe des ehemaligen Beirats, um Ideen für dessen Wiederbelebung und Verjüngung zu entwickeln.

Attac-Sprecherin Distelrath

Moralisierung der Politik als Niedergangsphänomen

Peter Wahl war bis zuletzt Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat. Er ist Mitbegründer des deutschen Netzwerks und kann sich noch gut an die Auseinandersetzungen um die Abgrenzung von rechter Globalisierungskritik und Antisemitismus erinnern, wozu 2004 ein Reader des Wissenschaftlichen Beirats entstand.

Auch im Attac-Selbstverständnis aus dem Jahr 2000, an dessen Formulierung er beteiligt war, sind Antisemitismus, Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und ähnliche Ideologien kategorisch ausgeschlossen, 2002 wurde dies noch einmal bekräftigt.

Vorwürfe gegen Attac kehrten dennoch immer wieder, mal ging es um Kritik an Israel, mal um Personalisierung der kapitalistischen Verhältnisse. Insgesamt, so eine Einschätzung im Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Bundestags aus dem Jahr 2011, habe es sich um Einzelfälle gehandelt. Die führenden Kräfte bei Attac seien dadurch sensibilisiert worden und hätten sich kritisch mit dem Problem auseinandergesetzt.

Aber auch danach kam das Thema immer wieder auf, so Wahl. Spätestens seit dem Aufstieg der AfD gebe es Kreise bei Attac, die eine paranoide Wahrnehmung der Neurechten haben. Statt einer nüchternen Analyse auf der Basis kritischer Gesellschaftstheorie würde im Windschatten des linksliberalen Maistreams nur noch moralisiert.

Komplexe Probleme würden auf ein simples Schema von gut und böse reduziert. "Die Moralisierung von Politik ist in meinen Augen ein typisches Niedergangsphänomen", sagt Wahl im Gespräch mit unserer Redaktion. In den Strukturen der Organisation gebe es die gleichen Auseinandersetzungen wie generell in der Linken um Identitätspolitik und Klassenfrage.

Peter Wahl geht davon aus, dass einige führende Köpfe bei Attac versuchen, sich an den Zeitgeist anzupassen, in der Hoffnung, dass die Organisation für Jüngere interessanter wird. Und wer heute als junger Mensch mit dabei ist, der kenne die Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung und auch die der Auseinandersetzungen nicht.

Die erfolgreiche Zeit liege einige Zeit zurück, als Attac als pluralistisches Netzwerk mit Aktionen und großen Kongressen Themen setzen konnte und ein relevanter Faktor der gesellschaftlichen Linken war. "Wir müssen Kontroversen durch offene Diskussion bearbeiten, statt mit Ausgrenzungen, wenn das Netzwerk nicht als Sekte enden will", sagt Wahl.

Die AG Gesundheit von Attac Hamburg, von deren Kundgebungsteilnahme sich Attac Deutschland gerade abgegrenzt hat, ruft ihre Kritiker zum Dialog auf. Die gegenwärtige Spaltung innerhalb der gesellschaftlichen Linken müsse überwunden werden, da sie nur den neoliberalen Kräften und den Rechtsextremen nütze.

Die Teilnahme an Demonstrationen sei aus zwei Gründen sinnvoll: "um rechte Positionen zurückzudrängen" und "dazu beizutragen, dass sich eine Bewegung für demokratische und soziale Ziele formiert". Ein Gespräch mit der AG Gesundheit werde es möglichst bald geben, auch wegen eines anderen Ereignisses, sagt Attac-Sprecherin Distelrath.

Statt sich von rechten Kräften vereinnahmen zu lassen, komme es darauf an, eigene Aktivitäten zu entfalten. Und Johanna Darmstadt und ihre Mitstreiter? Sie riefen für den gestrigen erneut zu einer Demonstration am Hamburger Rathaus auf.