Coronavirus: Ausbruch im August 2019?
Eine Studie der Harvard Medical School gibt mehr Fragen auf, als sie klärt
Das mehr als angespannte Verhältnis zwischen den USA und China wird sich kaum beruhigt haben, wenn in wenigen Wochen – zum Missfallen einiger chinesischer Netizens – die US-Botschaft in Wuhan wieder öffnet. Der Ärger über Trumps haltlose Vorwürfe dürfte tief sitzen: Seit Monaten schießt der US-Präsident gegen China; bezichtigt Peking der Lüge. Nun behauptet eine Studie der Harvard Medical School Anzeichen dafür gefunden zu haben, dass das Sars-CoV-2 schon seit August 2019 in Wuhan zirkuliert. Doch die Studie verwendet fragwürdige Methoden und zieht voreilig Schlüsse.
Die am 9. Juni als Vorabdruck veröffentlichte Studie der Harvard Medical School will Hinweise "auf eine Krankheitsaktivität im Herbst 2019" gefunden haben. Hinter der Studie steht die einfache Logik, dass Krankheiten kollektiv zu bestimmten Verhaltensweisen führen: Man googelt die Symptome und fährt gegebenenfalls mit dem Auto zur Behandlung ins Krankenhaus. So analysierten die Forscher um John Brownstein vom Boston Children's Hospital Satellitenaufnahmen von sechs Krankenhäusern in Wuhan und Anfragen zu Krankheitssymptomen auf der chinesischen Suchmaschine Baidu.
In Zusammenarbeit mit der Firma RS Metrics, die Satellitenbilder für Privatkunden analysiert, trugen die Forscher Bilder, die von privaten Satelliten rund um den Globus aufgenommen wurden, zusammen. Sie zählten dann die geparkten Autos vor großen Krankenhäusern in Wuhan in den letzten zwei Jahren. Darunter befanden sich Fotos, die während des Herbstes 2019 etwa jede Woche oder jede zweite Woche aufgenommen wurden. Von den etwa 350 Einzelbildern fanden die Forscher etwa 111 brauchbare Bilder, frei von Smog, Wolken oder dem Schatten hoher Gebäude, die den Blick auf die Parklpätze erschweren könnten.
Satellitenbilder und Suchanfragen
"Was wir versuchen, ist die Aktivität zu betrachten, wieviel Zulauf ein Krankenhaus hat", sagte Brownstein dem Sender ABC News. "Und das tun wir, indem wir die Autos zählen." Die Parkplätze würden voller, wenn ein Krankenhaus ausgelastet sei. Gründe hierfür seien, dass "in der Gemeinde etwas passiert, eine Infektion wächst und die Leute einen Arzt aufsuchen müssen".
Brownsteins Team fand heraus, dass es zwischen 2018 und 2020 einen allgemeinen Anstieg der Parkplatzbelegung gab. Zwischen September und Oktober 2019 wiesen fünf der sechs Krankenhäuser das höchste relative Tagesvolumen der analysierten Reihe auf. In der Zeit waren deutlich mehr Autos als an Vergleichstagen im Vorjahr vor den Krankenhäusern geparkt. Daraus zogen die Wissenschaftler den Schluss, dass die Krankenhäuser in Wuhan schon etliche Monate vor der offiziellen Meldung des Ausbruchs signifikant stärker frequentiert wurden. Der Höchststand der Parkplatzbelegung sei im Dezember erreicht worden.
Die Auffälligkeiten der Satellitenbildanalyse kombinierten die Forscher mit einer Auswertung von häufig gesuchten krankheitsbezogenen Begriffen "Husten" und "Durchfall" auf Baidu, der chinesischen Suchmaschine. Während Suchanfragen zu "Husten" saisonale Schwankungen zeigten, die mit der jährlichen Grippesaison zusammenfielen, sei "Durchfall" ein eher Covid-19-spezifisches Symptom – und dieser Begriff sei ab August 2019 verstärkt gesucht worden. Im August stellten wir einen deutlichen Anstieg bei der Suche nach Durchfallerkrankungen fest, der in früheren Grippesaisons nicht beobachtet wurde, so die Forscher.
Auf die Zunahme der Symptomsuche folgte dann im Oktober und November ein Anstieg des Verkehrsaufkommens auf Krankenhausparkplätzen sowie eine Zunahme nach der Suche "Husten". Die Vermutung liege nahe, "dass eine breite Übertragung in der Gemeinschaft zu akuteren Fällen geführt haben könnte, die ärztliche Behandlung erfordern, was zu einer höheren Viruslast und schlimmeren Symptomen geführt hat." Nach Beginn des Lockdowns in Wuhan am 23. Januar 2020 sei ein starker Rückgang des Krankenhausverkehrs und der Daten zu Suchanfragen zu verzeichnen.
Suggestive Ergebnisse
Doch die Methoden Brownsteins stoßen auch auf Zweifel. Keith Neal, emeritierter Professor für Epidemiologie von Infektionskrankheiten an der Universität von Nottingham, weist darauf hin, dass eines der Krankenhäuser das Kinderkrankenhaus von Wuhan ist. Da vergleichsweise insgesamt nur wenige Kinder mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurden, liege es nahe, dass es wahrscheinlich nicht um Covid-19 ging, sagte er.
Die Forscher greifen außerdem auf Satellitenbilder zurück, die zu unterschiedlichen Tageszeiten und Winkeln aufgenommen wurden. Die Vergleichbarkeit hinkt und damit die Aussagekraft. Außerdem fehlt es an Bildern aus größeren Zeiträumen davor. Ebenfalls ist zumindest bei einem Krankenhaus klar erkennbar, dass die geringe Zahl geparkter Autos im Jahr zuvor auf eine Baustelle zurückzuführen ist. Die Ergebnisse seien allenfalls "suggestiv".
Andere Forscher waren zudem nicht in der Lage, die Suchmaschinen-Trends auf Baidu zu reproduzieren. Ebenfalls habe es im gleichen Zeitraum keinen Anstieg bei der Suche nach "Lungenentzündung" oder "Grippe" gegeben. Auch gibt es Probleme in der sprachlichen Unterscheidung zwischen der medizinischen und dem umgangsprachlichen Verwendung des Begriffs "Durchfall", über die die Studie nicht aufklärt. Ein Statistiker schreibt auf Twitter: "Es ist unklar, welche chinesischen Wörter für "Diarrhöe" @johnbrownstein's Team zur Analyse der Suchmaschinendaten verwendet hat. Die am häufigsten verwendeten chinesischen Wörter für 'Diarrhöe' sind '腹泻' und '拉肚子', aber keines von beiden hat vor Januar 2020 eine Zunahme des Suchvolumens auf Baidu gezeigt."
Drastischere Kritik formuliert Björn Nashan, ein ehemaliger Präsident der Deutschen Transplantationsgesellschaft. "Der Artikel stützt sich auf eine Menge Spekulationen", sagte Nashan der Global Times. Solche Artikel würden zu besonderen Zeiten veröffentlicht, um Aufmerksamkeit zu generieren. "Es ist Corona-Zeit, es ist Harvard und der normale Prozess der Überprüfung von Aufsätzen ist ausgesetzt. Also wird eine Menge lächerliches Zeug publiziert", sagte er.
Zwar geben die Forscher in der Studie zu, dass ihre Methoden mit Einschränkungen verbunden sind, daher könne die "retrospektive Analyse nicht nachweisen, dass das erhöhte Krankenhaus- und Suchmaschinenaufkommen mit dem SARS-CoV-2-Virus zusammenhängt". Doch bereits einen Tag vor der Veröffentlichung wurden die Erkenntnisse der Studie von dem Sender ABC News, der John Brownstein zu seinen wissenschaftlichen Experten zählt, mit exklusiven Bildern ausgestrahlt. Von Fox News aufgegriffen, landeten die voreiligen Schlüsse des noch nicht begutachteten Vorabdrucks schließlich in Trumps Twitterfeed. Zu befürchten ist, dass die "Harvard-Studie" sich damit einreiht in die unnachgiebigen Anstrengungen der Trump-Regierung, den Vorwurf am Leben zu erhalten, dass China länger von der Pandemie gewusst haben soll, als es behauptet.