Covid-19-Impfung: Auf der Suche nach den 95 Prozent Wirksamkeit

Solidarität, Selbstschutz und Fremdschutz der Impfung – und die Kommunikationskampagne der Regierung. Wie war das noch mal wirklich? Hintergründe zu einer brisanten Debatte.

"Die Wirksamkeit war über alle Alters- und Geschlechtsgruppen und die gesamte diverse Studienpopulation hin konsistent; der Impfschutz bei Erwachsenen über 65 Jahren lag bei über 94 Prozent", lautete die Pressemitteilung von Biontech am 18. November 2020, die um die Welt ging.

Die Erleichterung war groß.

"Der von Biontech und Pfizer entwickelte Coronavirus-Impfstoff bietet laut aktuellen Daten einen 95-prozentigen Schutz vor Covid-19. Bisher war man von 'mehr als 90 Prozent' ausgegangen", ließ Spiegel Online wissen. Die Zeit erklärte, dass der "Corona-Impfstoffkandidat mit einer Effektivität von 95 Prozent vor Covid-19 schützt".

Die Süddeutsche Zeitung schrieb, "Die Wirksamkeit des Corona-Impfstoffs" liegt "bei 95 Prozent und damit noch höher als bislang bekannt". Die Pharmazeutische Zeitung unterstrich:

Während die Meldung von 90 Prozent Schutzwirkung des Mainzer Unternehmens Biontechs mit seinem US-Partner Pfizer noch auf der Auswertung von 94 Covid-19-Fällen basierte, sind es in der Phase-III-Studie mittlerweile 170 laborbestätigte Infektionen, davon 162 in der Placebogruppe und acht nach Impfung mit BNT162b2. Hieraus errechnen sich die 95 Prozent Wirksamkeit.

Herdenimmunität

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung erläuterte den Hintergrund:

Über die neunzig Prozent Erfolgsquote sollten wir uns aber auch noch aus einem anderen Grund freuen: Wenn der Impfstoff bei fast allen wirkt und sie sich nicht mehr infizieren, dann ist es auch wahrscheinlich, dass die Menschen insgesamt weniger das Virus verbreiten. Die Chancen, die Pandemie zu besiegen, steigen dann beträchtlich.

Und zwar werden die Chancen umso größer, je mehr Menschen sich auch wirklich impfen lassen. Um es auf eine Zahl zu bringen: Ungefähr zwei Drittel müssen geimpft werden, dann sind so viele Menschen immun gegen das Virus, dass das Virus ganz schlechte Karten hat, noch andere Menschen zu finden, in denen es sich weiter vermehren kann. Die Pandemie wird dann gestoppt. "Herdenimmunität" nennt man das.

FAZ

Das Ende von Corona schien greifbar nahe. "Wann wäre eine Herdenimmunität erreicht?", fragte der Deutschlandfunk. Die Antwort:

Darüber gehen die Meinungen auseinander. Das Bundesgesundheitsministerium rechnet bei einer Impfung von 60 Prozent der deutschen Bevölkerung damit, dass eine Herdenimmunität erreicht werden kann – das wäre laut Spahn bis Ende Sommer 2021 möglich. Die Experten der Weltgesundheitsorganisation schätzen, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung geimpft werden müssten.

Auf jeden Fall erschien die Impfung von Anfang an ein Akt der Solidarität, da sie weit über den reinen Selbstschutz hinausging. Das Ärzteblatt erklärte bereits Mitte Dezember 2020:

Die Impfung gegen Sars-CoV-2 ist freiwillig. Sie dient aber nicht nur dem Selbstschutz. Mehr denn je ist gerade diese Durchimpfung ein Akt großer Solidarität mit unseren Mitmenschen. Ziel ist, dass sich idealiter 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immunisieren lassen. Das ist ein gesellschaftlicher Kraftakt, aber eben auch der entscheidende Schritt zur Normalisierung unseres gesellschaftlichen Lebens.

Egbert Maibach-Nagel, Chefredakteur, Ärzteblatt

Am 30. Dezember 2020 freute sich das Bundesgesundheitsministerium über den gelungenen Start der Impfkampagne:

Impfen ist der Schlüssel raus aus dieser Pandemie.

Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn bat Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte: "Lassen auch Sie sich impfen! Sie haben eine doppelte Verantwortung. Sie sind Vorbild für viele und Sie schützen sich und andere."

Ganz in diesem Sinne ist auch das erste Plakat der Werbekampagne zur Impfung gestaltet. Dort wird der wartenden Bevölkerung erklärt:

Das Gesundheitspersonal geht voran, um sich für uns zu schützen.

Was für ein Schutz eigentlich?

Betrachtet man den Antrag für die Notzulassung von Biontech, fällt etwas auf: Der Schutz vor 95 Prozent bezieht sich auf einen Schutz vor Erkrankung, nicht vor Infektion.

Auch wenn im Zuge der Corona-Jahre oft ein positives Testergebnis als Erkrankung verstanden wurde, bei der es nur zu unterscheiden galt, ob es Symptome gibt und wie gefährlich sie sind, existiert seit jeher ein fundamentaler Unterschied zwischen Infektion und Erkrankung. Die Apotheken-Umschau beschreibt den Unterschied anschaulich:

Nicht jeder mit einem positiven Test wird zwangsläufig krank! Ist jemand infiziert ("angesteckt"), bedeutet das zunächst einmal nur: Das Virus hat es geschafft, in den Körper zu gelangen und sich dort zu vermehren. In den meisten Fällen erfolgt die Ansteckung über Speicheltröpfchen, die ein Infizierter zum Beispiel beim Husten, Niesen oder Sprechen verbreitet. Sie gelangen über Mund, Nase oder Augen in den Rachen anderer Menschen, wo sie sich vermehren. (…) Nicht alle, die sich angesteckt haben, werden krank. Bleiben Symptome aus, sprechen Ärzte und Ärztinnen von einer asymptomatischen Infektion.

Apotheken-Umschau

Die 95 Prozent beziehen sich auf den Schutz vor Erkrankung, nicht vor Infektion. Betrachtet man die eingangs zitierten Quellen, fällt auf, dass sie teilweise von 95 Prozent zum Schutz vor Erkrankung, teilweise von 95 Prozent Schutz vor Infektion sprechen (zum Beispiel die FAZ oder die Pharmazeutische Zeitung).

Offensichtlich herrschte am Anfang ein atemberaubendes Durcheinander, was die 95 Prozent eigentlich bedeuteten und wovor die Impfung schützt. Handelte es sich um Schutz vor Erkrankung (also Selbstschutz) oder auch Schutz vor Infektion (und damit Fremdschutz), sodass die Impfung ein Gebot der viel beschworenen Solidarität war?

Die Zulassung

Das Gutachten der Ema zum Antrag von Biontech auf Notfallzulassung vom 19. Februar 2021 sollte Klarheit schaffen. Dort heißt es explizit:

Derzeit ist nicht bekannt, ob der Impfstoff vor asymptomatischen Infektionen schützt und wie er sich auf die Virusübertragung auswirkt. Die Dauer des Schutzes ist nicht bekannt.

Ema, S. 97

und

Die Zulassungsstudie war nicht darauf ausgelegt, die Wirkung des Impfstoffs gegen die Übertragung von Sars-CoV-2 bei Personen zu bewerten, die nach der Impfung infiziert sind. Die Wirksamkeit des Impfstoffs bei der Verhinderung der Sars-CoV-2-Ausscheidung und -Übertragung, insbesondere bei Personen mit asymptomatischer Infektion, kann erst nach der Zulassung in epidemiologischen oder spezifischen klinischen Studien bewertet werden.:Ema, S. 132

Auf Nachfrage von Telepolis schreibt Biontech, dass die Studie auf die Beurteilung der Wirksamkeit zum Schutz vor Erkrankung, nicht aber vor einer asymptomatischen Infektion angelegt war.

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) bestätigt indirekt, dass keine Daten zur Verhinderung von Infektionen beim Beginn der Impfkampagne vorlagen. Das Ministerium spricht auf Anfrage von Telepolis von einer "aktiven Immunisierung zur Vorbeugung von Covid-19". Die Stelle der Antwort im Wortlaut:

Die Indikation von Comirnaty® gemäß der Zulassung ist die aktive Immunisierung zur Vorbeugung von Covid-19 durch Sars-CoV-2 (siehe öffentliche Bewertungsberichte und Produktinformationstexte der zugelassenen Covid-19 Impfstoffe). In den zulassungsrelevanten klinischen Studien wurde die Wirksamkeit gegen symptomatische Covid-19 Erkrankungen untersucht. Zum Zeitpunkt der Zulassung lagen keine Studienergebnisse zur Schutzdauer des Impfstoffs vor.

BMG

An dieser Stelle gilt erst einmal festzuhalten, dass die Impfkampagne mit Hinweisen auf einen Schutz vor Infektion dank der Impfung zu einem Zeitpunkt begann, als darüber aber keinerlei Erkenntnisse vorlagen.

Spahns Aufruf an die Ärztinnen und Ärzte: "Lassen auch Sie sich impfen! Sie haben eine doppelte Verantwortung. Sie sind Vorbild für viele und Sie schützen sich und andere", entbehrte damals einer fundierten wissenschaftlicher Basis, weil es schlichtweg keinerlei Erkenntnisse über den Schutz vor asymptomatischer Infektion zu diesem Zeitpunkt gab.

Konkrete Zahlen zu einem möglichen Schutz vor einer asymptomatischen Infektion erschienen erstmals zwei Monate nach dem Startschuss für die Impfkampagne, am 24. Februar 2021 mit einer Studie über die Situation in Israel. Konkrete Zahlen für Deutschland gab es erst später.

Die wiederholte Anfrage von Telepolis an das Gesundheitsministerium, wann erstmals konkrete Zahlen für den Schutz vor Infektion in Deutschland vorlagen, konnte innerhalb eines Monats nicht beantwortet werden und das Ministerium bittet weiterhin noch um etwas weitere Geduld. Das RKI erklärte auf Anfrage von Telepolis:

Im Mai 2021 lagen dem RKI Daten aus fünf Studien vor, sodass erste Aussagen zur Impfeffektivität gegen asymptomatische Infektionen getroffen werden konnten und veröffentlicht wurden.

RKI

Das RKI veröffentlichte grundsätzlich keine Zahlen über den Schutz vor asymptomatischer Infektion aus dem einfachen Grunde, dass Geimpfte im Gegensatz zu Ungeimpften nur sehr selten testen ließen.

Ein Telepolis-Artikel des Autors hatte sich im August 2022 auf die Suche nach dem Infektionsschutz der Impfung gemacht. Der Suche gestaltete sich nicht einfach. Im Artikel heißt es:

Ende April beendete das RKI die wöchentliche Veröffentlichung der Daten zur Impfwirksamkeit. Im Wochenbericht vom 5. Mai ist zu lesen:

"Ab dem heutigen Donnerstag sind im Covid-19-Wochenbericht des RKI keine regelmäßigen Auswertungen zur Wirksamkeit der Covid-19-Impfung mehr vorgesehen; detailliertere Auswertungen werden künftig in einem separaten Bericht in größeren Intervallen erfolgen." (Wöchentlicher Lagebericht des RKI, 05.05.2022)

Erst am 7. Juli, also mehr als zwei Monate später, erschien dann der Bericht Monitoring des Covid-19-Impfgeschehens in Deutschland. In der Tat ist der Bericht sehr detailliert, allerdings vermisst man eine Darstellung über die Impfwirksamkeit zur Verhinderung symptomatischer Erkrankungen, so wie dies bis Ende April in der "Tabelle 3: Impfstatus der symptomatischen Covid-19-Fälle" aufbereitet wurde. Daten zu dieser hochrelevanten Frage? Leider Fehlanzeige.

Konfusion

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier konnte die anfängliche Impfzurückhaltung in Deutschland nicht verstehen und mahnte eindringlich:

Jede einzelne Impfung verhindere neue Infektionen und schütze Menschenleben. (…) Nehmen Sie Ihr Impfangebot wahr, wenn Sie an der Reihe sind. Schützen Sie sich selbst und andere!

Seine Rede hielt er am 25. Februar. Einen Tag nach Erscheinen der Studie aus Israel. Inwiefern seine Betonung der Wirksamkeit des Infektionsschutzes schon hochaktuell auf diesen Daten basiert und kein Missverständnis wie beispielsweise der obige Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war, kann nicht geklärt werden.

Allerdings hatte Steinmeier sich bereits Mitte Dezember mit einer fast identischen Botschaft an die Bevölkerung gewandt. Mit Hinweis auf die Herdenimmunität hatte er von einem "Akt gesamtgesellschaftlicher Solidarität" gesprochen, so dass der Verdacht naheliegt, dass sein erneuter Aufruf nicht Ergebnis der neuen Zahlen aus Israel war.

Eindeutig ist hingegen der Fall des Bayerischen Ministerpräsident Markus Söder. Er forderte bereits am 12. Januar 2021 eine Impfpflicht für das Pflegepersonal. Wohlgemerkt mahnte er dies also in einer Zeit an, als es keine einzige definitive Zahl über den Schutz vor asymptomatischen Infektionen und damit einen Fremdschutz gab. Dennoch argumentierte er:

Es geht ja beim Impfen nicht nur um den Eigenschutz, sondern um den Schutz des Nächsten.

Angesichts mehrerer Äußerungen führender Politiker (und ebenfalls einiger Journalisten), die vermutlich stellvertretend für eine Reihe weitere Stellungnahmen stehen, kann es nicht wirklich überraschen, dass sich zum Start der Impfkampagne bei der Bevölkerung mehrheitlich die Überzeugung eingestellt hatte, dass die Impfung auch vor einer asymptomatischen Infektion schützt und die Verhinderung der Weitergabe des Virus bereits bei der Zulassung mit Daten belegt gewesen sei.

In einer Umfrage Anfang Januar 2021 befürworten entsprechend rund 58 Prozent der Befragten die Frage, ob eine Corona-Impfpflicht für Pflegekräfte für zielführend sei, um die Risikogruppen besser zu schützen.

Wie zuvor erwähnt, zu diesem Zeitpunkt war dies aber kein Ausdruck von wissenschaftlicher Nüchternheit, sondern von unbelegtem Wunschdenken. Auf eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung antwortete eine Privatperson auf die Frage, ob sie sich impfen lassen werde, ganz in diesem Sinne:

"Auf jeden Fall! Sofort! Ich will doch wieder in mein altes Leben zurück. Außerdem ist es im Sinne der Solidarität zu meinen Mitmenschen, dass weder ich mich mit dem Virus anstecke, noch andere damit anstecken kann."

Frühe Bedenken

Bereits am 26. November 2020, eine Woche nach Veröffentlichung der 95 Prozent, betonte Peter Doshi, Mitherausgeber des renommierten British Medical Journals, dass die klinische Studie von Biontech keinerlei Aussage über den Schutz vor einer Infektion mache:

Lassen Sie uns dies in die richtige Perspektive rücken. Erstens wird eine relative Risikoreduzierung angegeben, nicht eine absolute Risikoreduzierung, die offenbar weniger als ein Prozent beträgt.

Zweitens beziehen sich diese Ergebnisse auf den primären Endpunkt der Studien, d. h. Covid-19 in praktisch allen Schweregraden, und nicht auf die Fähigkeit des Impfstoffs, Leben zu retten, oder die Fähigkeit, Infektionen zu verhindern, oder die Wirksamkeit in wichtigen Untergruppen (z. B. gebrechliche ältere Menschen). Diese bleiben weiterhin unbekannt.

Drittens beziehen sich diese Ergebnisse auf einen Zeitpunkt relativ kurz nach der Impfung, und wir wissen nichts über die Wirksamkeit des Impfstoffs nach 3, 6 oder 12 Monaten, sodass wir diese Zahlen nicht mit anderen Impfstoffen wie Grippeimpfstoffen (die über eine ganze Saison hinweg beurteilt werden) vergleichen können.

Peter Doshi, BMJ

Wiederholt wies er auf die Notwendigkeit hin, auch die Rohdaten der klinischen Studien prüfen zu können.

Mitte März dieses Jahres war er dann selbst an einer Studie beteiligt, die erklärt, warum auch ganz grundsätzlich die 95 Prozent Impfwirksamkeit gegen Erkrankung mit Vorsicht zu genießen sind:

Bei den entscheidenden Covid-19-Impfstoffstudien wurde als primärer Endpunkt eine im Labor bestätigte, symptomatische Covid-19-Infektion zugrunde gelegt. Bei der Schätzung der Wirksamkeit des Impfstoffs wurden jedoch nicht alle Covid-Fälle berücksichtigt. Die Forscher begannen erst dann mit der Zählung der Fälle, wenn die Teilnehmer mindestens 14 Tage (bei Pfizer sieben Tage) nach Abschluss des Impfschemas geimpft waren, ein Zeitpunkt, den die Gesundheitsbehörden später als "vollständig geimpft" bezeichneten.

Die Gründe für den Ausschluss von Fällen, die vor Beginn dieses "Fallzählungsfensters" auftraten, wurden in den Studienprotokollen nicht dargelegt, und die Rechtmäßigkeit des Ausschlusses von Ereignissen nach der Randomisierung ist seit Langem umstritten. In einem Post-Marketing-Dokument von Pfizer heißt es jedoch, dass der Impfstoff in der ersten Zeit nach der Impfung noch nicht genügend Zeit hatte, das Immunsystem zu stimulieren.

Bei randomisierten Studien ist es einfach, das Zählfenster für "vollständig geimpfte" Fälle sowohl auf die Impfstoff- als auch auf die Placebo-Gruppe anzuwenden. In Kohortenstudien wird das Fallzählungsfenster jedoch nur auf die geimpfte Gruppe angewandt.

Da ungeimpfte Personen keine Placeboimpfungen erhalten, ist eine Zählung 14 Tage nach der zweiten Impfung einfach nicht möglich. Diese Asymmetrie, bei der das Zeitfenster für die Fallzählung Fälle in der geimpften, nicht aber in der ungeimpften Gruppe ausschließt, verzerrt die Schätzungen. Infolgedessen kann ein völlig unwirksamer Impfstoff als wesentlich wirksam erscheinen - 48 Prozent wirksam.

Peter Doshi

Das Verschwinden des Schutzes der Anderen

Bis in den Herbst 2021 war das Erreichen der Herdenimmunität in aller Munde. Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn ging beispielsweise am 22. September 2021 davon aus, dass im Frühjahr 2022 die Herdenimmunität erreicht sei.

Im Oktober freute sich noch Prof. Christian Hesse, Mathematiker und Leiter der Abteilung für Mathematische Statistik an der Universität Stuttgart, dass die Herdenimmunität bald erreicht sei.

Dann stieg der notwendige Anteil der Geimpften an der Bevölkerung immer mehr, um das erwünschte Ziel zu erreichen, bis niemand mehr von einer Herdenimmunität sprach.

Am 15. Oktober 2022 veröffentlichte das RKI zum Thema der Impfwirksamkeit folgende Aussage:

Über die Transmission (Übertragbarkeit des Virus) unter Omikron gibt es bisher keine ausreichenden Daten; sie scheint bei Geimpften weiterhin reduziert zu sein, wobei das Ausmaß der Reduktion nicht vollständig geklärt ist. Haushaltsstudien aus Norwegen und Dänemark zeigen, dass eine Impfung auch unter vorherrschender Zirkulation der Omikron-Variante die Übertragbarkeit um sechs bis 21 Prozent nach Grundimmunisierung und nach Auffrischimpfung um weitere fünf bis 20 Prozent reduziert.

RKI

Vom Fremdschutz der Impfung, der logischerweise die Grundvoraussetzung für Impfpflichten und 2G-Regelungen war und auf dem zahlreiche verbale Angriffe gegen Ungeimpfte basierte, war nicht mehr viel geblieben. (Wohlgemerkt: Corona-Impfpflicht für Soldatinnen und Soldaten bleibt vorerst bestehen, wie noch Ende Mai 2023 entschieden wurde).

Ab dem 7. Februar 2023 findet man auf derselben Webseite des RKI dann nur noch folgende lapidare Aussage:

Nach erstem Auftreten der Omikron-Variante wurde eine reduzierte Wirksamkeit gegen Transmission beobachtet im Vergleich zur zuvor zirkulierenden Delta-Variante. Die Virusvariante hat sich seit Durchführung der bekannten Studien weiter verändert, wobei zur aktuell zirkulierenden Subvariante von Omikron keine Daten zum Transmissionsschutz bekannt sind.

RKI

Einen ähnlichen Schwund quasi jeglichen Fremdschutzes gibt es auch auf der Webseite des Bundesgesundheitsministeriums zu entdecken. Ab dem 6. Juli 2022 lautete die wohlbekannte Aussage:

Impfungen schützen nicht nur geimpfte Menschen selbst, sondern auch andere: Denn vollständig geimpfte Menschen übertragen das Corona-Virus nur selten.

Am 23. Januar 2023 wird diese dann geändert, drei Monate, nachdem das RKI einen nur noch sehr geringen Infektionsschutz der Impfung angegeben hatte. Nun beantwortet das Bundesgesundheitsministerium die Frage "Wie kann ich mich und andere vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus schützen" nicht mehr mit dem Ratschlag zur Impfung.

Diese wird noch nur als "Schutz vor schweren Krankheitsverläufen" empfohlen.

Vermengung

Prof. Alexander Kekulé, Virologe und Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie der Universität Halle, äußerte sich gegenüber Telepolis zu dem Phänomen, dass oftmals die 95 Prozent als Schutz vor Infektion und nicht als Schutz vor Erkrankung verstanden wurden:

Die Zulassungsstudien untersuchten die "vaccine effciency" (VE) in Bezug auf die Verhinderung symptomatischer Covid-19 Fälle. Darauf bezog sich auch die VE von ca. 95 Prozent.

Das ist auch bei anderen Impfstoffen so üblich. Dass in gleichem Maße (teilweise asymptomatische) Infektionen verhindert würden, hat kein seriöser Fachmann behauptet. Aber ja, in der Politik wurde das bekanntlich ungut vermengt.

Alexander Kekulé

Prof. Klaus Stöhr, Virologe und Epidemiologe und ehemaliger Leiter des Globalen Influenza-Programms und Sars-Forschungskoordinator der WHO, antwortete auf telefonische Anfrage von Telepolis, Experten sei immer klar gewesen, dass eine Impfung gegen ein Virus, das über die Nasenschleimhaut in den Körper dringt, niemals zu einer sterilen Immunität führen kann, wenn sie in den Arm gespritzt wird. Deswegen haben die Impfstofffirmen auch in ihren klinischen Studien nicht darauf untersucht.

Der Beleg einer Wirksamkeit gegen eine Infektion als Voraussetzung der Zulassung bei der Ema und die Vorstellung einer möglichen Herdenimmunität sei immer absurd gewesen. Der fehlerhafte Glaube der Bevölkerung im Winter 2020/21, die Impfung schütze zu 95 Prozent vor Ansteckung, hingegen zeigt, wie irreführend die Kommunikationskampagne der Regierung gewesen sei.