Covid und das britische Klassensystem
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Diese Winterkrise hat es in sich: Gartenparty in Nr. 10 während des Lockdowns, eine Million Arbeitskräfte im staatlichen NHS fehlen, sozial schlechter gestellte Personengruppen sind besonders von Corona betroffen
Am Beginn des Jahres 2022 steht die britische konservative Alleinregierung zunehmend auf wackeligen Beinen. Ein Anzeichen dafür sind die sich häufenden Angriffe auf Premierminister Boris Johnson in den Medien und durch Parteifreunde. Die Anlässe kommen derzeit fast täglich.
Der jüngste ist eine durch den Fernsehsender ITV geleakte E-Mail, die von Johnsons Sekretär an das Personal der Nr. 10 Downing Street gesendet wurde. Darin wird für den Abend des 20. Mai 2020 zu einer Gartenparty eingeladen. Getränke sind bitte selbst mitzubringen. Bring Your Own Booze.
Der Haken an der Sache ist, dass sich Großbritannien damals im mittels Notstandsgesetzgebung durchgesetzten Covid-19 Lockdown befand. Gartenpartys, wie sie in Johnsons Amtssitz organisiert wurden, waren bei hohen Strafen verboten. Selbst Treffen mit einzelnen Personen unter freiem Himmel waren nicht erlaubt. Derzeit ist unklar, ob es Johnson gelingen wird, den nun losgebrochenen Sturm auszunutzen. Die oppositionelle Labour-Partei gibt ihr Bestes, das Feuer anzufachen.
Immer wenn es schwierig wird, versteckt er sich
Am Dienstag gab es eine von der Opposition durchgesetzte dringende Fragestunde im Unterhaus, an der Johnson selbst nicht teilnahm, obwohl er keine sonstigen Amtstermine am selben Tag anberaumt hatte. Er ließ sich durch den Abgeordneten Michael Ellis vertreten. Das ist eine typische Johnson-Methode. Immer wenn es schwierig wird, versteckt er sich, auf dass es schnell vorbeigehen möge.
Seine ganze Hoffnung beruht derzeit darauf, dass nicht nachgewiesen wird, dass er gemeinsam mit seiner damaligen Verlobten an der Party teilgenommen hat. Entsprechende Nachfragen zum Thema hat Johnson bislang nicht beantwortet.
Die Polizei: Hier zurückhaltend, da prügelnd
Die Londoner Polizei hat inzwischen mitgeteilt, mit dem Büro der Nr. 10 Downing Street in Kontakt zu sein. Fraglich ist, ob Ermittlungen eingeleitet werden. Auch diese Zögerlichkeit sorgt in der britischen Bevölkerung für Unmut. Denn die britische Polizei hat in den vergangenen Covid-Jahren oft wenig zimperlich agiert. So wurden unter anderem Gewerkschafterinnen mit horrend hohen Geldstrafen belegt, weil sie Kundgebungen mit Abstand und Maske gegen die Zustände im staatlichen Gesundheitswesen organisiert hatten.
Weil die Londoner Polizei eine Trauerkundgebung für eine von einem Polizisten entführte, vergewaltigte und anschließend ermordete Frau gewaltsam abräumte, gab es im vergangenen Sommer wochenlang Massenproteste gegen Polizeigewalt, die nicht selten von Polizeigewalt begleitet wurden. Letztere könnte schon bald eine zusätzliche Legitimationsgrundlage haben, wenn das neue Sicherheitsgesetz in Kraft tritt, welches unter anderem "disruptive" Proteste unter Strafe stellen soll.
Während die einen ihren Job hinschmeißen, sind Zehntausende weitere in Quarantäne
Boris Johnsons Partyskandal verdeutlicht einmal mehr das britische Klassensystem. Die einen machen Gartenparty, die anderen schwitzen und räumen auf. Hier lauert ein weiteres potenzielles Problem für den Premierminister. Die Inflation steht derzeit bei 7,2 Prozent. Aber für das leidgeplagte Personal des Gesundheitswesens soll es nur eine Erhöhung von drei Prozent geben.
Dieser Umstand wird spätestens dann von Pflegekräften, Ärztinnen und anderen Mitarbeitenden des Gesundheitswesens thematisiert werden, wenn die derzeitige, durch die Omikron-Welle verschärfte Winterkrise halbwegs überstanden ist.
Diese Winterkrise hat es in sich. Auch ohne Covid-19 fehlen rund eine Million Arbeitskräfte im staatlichen NHS. Eine Zahl die aufgrund der stetig eskalierenden Belastungen der vergangenen Jahre stetig wächst. Auch im Bereich der privatisierten Pflegeheime ist der wachsende Personalmangel beobachtbar. Laut der Tageszeitung Guardian vom 6. Januar arbeiteten in den Pflegeheimen Englands im Oktober des vergangenen Jahres 60.000 Menschen weniger als im Mai.
Dies geht aus vom Thinktank "Health Foundation" aufbereiteten Zahlen hervor. Während die einen ihren Job hinschmeißen, sind Zehntausende weitere in Quarantäne. Auch deren Zahl wächst täglich. Ende Dezember waren es laut vom NHS-England veröffentlichten Zahlen rund 24.000 Beschäftigte, zwei Wochen zuvor "nur" rund 12.000. Eine Verdoppelung der Covid-Fälle unter dem Gesundheitspersonal innerhalb von 14 Tagen.
Notfallsituation
Derweil waren Anfang Januar 90 Prozent aller Notfallbetten in englischen Krankenhäusern belegt. Eine wachsende Zahl von Krankenhäusern erklärte eine Notfallsituation, teilweise wurde die Armee eingesetzt. Allein in Manchester haben laut Angaben der Organisation "Keep Our NHS Public" 17 Krankenhäuser so genannte "nicht dringende" Operationen auf unbestimmte Zeit verschoben.
Stand Januar ist Großbritannien das europäische Land mit der höchsten Zahl an Covid-19 Zahlen in Europa. Laut Statistikbehörde sind es 176.000 Tote seit Beginn der Pandemie. Das sind etwas mehr als die 150.000 von der britischen Regierung verlautbarten Todeszahlen, was an der genaueren Zählweise der Statistikbehörde liegt.
Unabhängig von diesen Diskrepanzen ist klar, dass sozial schlechter gestellte Personengruppen besonders stark von der Pandemie betroffen sind. 47.000 Tote werden aus Alten- und Pflegeheimen gemeldet. Sechs von zehn verstorbenen Personen sind Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. 30 Prozent aller mit Covid-19 auf den Intensivstationen liegenden Personen sind als "nicht weiß" klassifiziert, obwohl diese nur 14 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Letztere sind auch in Berufsgruppen überrepräsentiert, in denen es keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt. Auch nach zwei Jahren Pandemie besteht darauf in Großbritannien kein Rechtsanspruch. Das bedeutet, dass eine große Zahl von mit Omikron erkrankten Personen zur Arbeit gehen und dort andere Menschen anstecken wird, weil ein anderes Verhalten schlicht nicht leistbar ist.