Crash vorerst abgesagt?

Die Mini-Crashes von letzter Woche könnten als gesunde Korrektur verstanden werden

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Würde die Börse rational agieren, dann müsste der große Crash vorerst wieder abgesagt werden. So zeigen die US-Wirtschaftsdaten für das 2. Quartal einerseits wieder einen deutlichen Wachstumsschub von 3,4 Prozent. Die bei der Fed so beliebte Kernrate der Inflation (ohne Energie und Nahrungsmittel) ging – wie am Freitag bekannt wurde - überraschend deutlich auf 1,4 Prozent zurück und befindet sich nun wieder weit innerhalb der „Komfortzone“ der US-Notenbank. Die „goldilocks-economy“ ("Goldilocks Economy" in Gefahr?) läuft also wieder bestens, für Panikverkäufe wäre kein Grund und die Mini-Crashes der Vorwoche könnten als gesunde Korrektur und Einstiegschance betrachtet werden.

Für die Börse ist das deshalb so interessant, weil die Fed sehr einfach unmittelbaren Einfluss auf das Marktgeschehen nehmen kann. Das liegt an der Bedeutung der Fremdfinanzierung für die Märkte. Denn sehr viele Positionen (auch eigene) an den Aktienmärkten werden von den Brokerfirmen mit „margin“-Krediten unterstützt, welche die Broker ihrerseits bei den großen Geschäftsbanken refinanzieren. Letztlich entscheiden also die großen Geschäftsbanken, ob sie den leidenden Investoren helfen, ihre Positionen zu halten, oder ob diese mangels Kredit zu Liquidationsverkäufen gezwungen werden. Das könnte dann aber negativ auf den Markt rückkoppeln, so dass es wirklich zu dem kommt, was später als Crash bezeichnet wird.

Die Banken finden sich also in der Zwickmühle: Einerseits laufen sie Gefahr, gutes Geld schlechtem hinterher zu werfen, indem sie ihre vielleicht ohnehin zum Scheitern verdammten Kunden weiter finanzieren. Anderseits könnten sie gerade an diesem für sie so kostspieligen Scheitern selbst schuld sein, weil sie Kunden in der Not verlassen, deren Position vielleicht schon nächste Woche wieder satt im Plus sein könnte.

Vom Verhalten dieser Banken an Krisentagen dürfte also abhängen, ob eine Korrektur als Einstiegschance gesehen wird – wenn eben genug Kredit vorhanden ist – oder ob eine Kettenreaktion in Gang kommt und immer mehr Marktteilnehmer ihre Positionen auf den Markt werfen und es zum Crash kommt. Weil die Geschäftsbanken auf der eigenen Finanzierungsseite im Notfall ihrerseits stark von der Finanzierungsbereitschaft der Fed abhängen, bleibt die Frage, ob diese tatsächlich nach wie vor zu „allem“ bereit ist, und wo ihre Schmerzgrenze liegt.

Ein Blick zurück

Weil aber Fragen, die die Zukunft betreffen, nur schwer zu beantworten sind, sei hier ein kleiner Blick in die Vergangenheit gestattet, die uns vor fast genau zwanzig Jahren ein verblüffend ähnliches Finanzmarktszenario präsentierte.

Manche erinnern sich vielleicht noch an den Film „Wall Sreet“, in dem Oliver Stone ein Sittenbild der „gierigen 80er Jahre“ zeichnet und Michael Douglas den hartgesotten-korrupten Firmen-Raider Gordon Gecko gibt, der den damals an den Finanzmärkten handelnden Figuren nachempfunden war. Nun lassen sich zur aktuellen Situation erstaunliche Parallelen zu diesen für die Finanzmärkte ziemlich wilden Jahren finden. Unterschiede gibt es natürlich auch: So fehlt heute bislang noch ein echter, schwerer Aktiencrash, während am Montag den 19. Oktober 1987, ein legendärer Börsencrash stattfand, der heute als „black monday“ bekannt ist. Nachdem die Wall Street Leitindizes DJIA und S&P 500 damals schon in der Vorwoche rund neun Prozent nachgegeben hatten, brach am „Schwarzen Montag“ nackte Panik aus und die Kurse rasten im Tagesverlauf ganze 23 Prozent in die Tiefe.

Ebenso wie heute wurden die großen Geschäfte damals jedoch nicht mit Aktien gemacht, sondern mit „High Yeald Bonds“ (Hochzinsanleihen), wobei die makroökonomische Erklärung für diese Anleihen-Booms in beiden Fällen bei den im Vergleich zu den jeweiligen Vorperioden sehr niedrigen Langzeitzinsen und Inflationsraten liegen dürfte. Vielleicht hatte der damalig Mega-Crash deshalb auch kaum realwirtschaftliche Folgen, obwohl er immerhin prozentuell der schwerste Kurssturz der NYSE überhaupt war (abgesehen von der Eröffnung nach Beginn des ersten Weltkriegs, nachdem die NYSE mehrere Monaten geschlossen war).

Genauso wie heute wurden die „high-yields“ damals einerseits aus Eigenheim-Hypotheken gespeist; anderseits wurde mit „Junk Bonds“ (Unternehmensanleihen mit niedrigem Rating) zuerst eine radikale Modernisierung der US-Industrie finanziert, die später in ein fremdfinanziertes Übernahmefieber mündete, das mit der bis vor kurzem tobenden „private equity“-Manie durchaus vergleichbar war. So wie heute wurden damals einerseits die kurzfristigen Finanzierungen von mittelständischen Unternehmen marktfähig gemacht, die zuvor die alleinige Domäne der Geschäftsbanken und Versicherungen gewesen waren; anderseits wurden die Eigenheimhypotheken aus den Bilanzen der US-Bausparkassen („Savings & Loan“) in marktfähige „Mortgage Backed Securities“ (MBS) verwandelt, was insgesamt einen Kreditboom auslöste, der mit dem heutigen ebenfalls gut vergleichbar ist.

Wie bei jedem Boom kam es freilich auch in den 80ern zum bösen Erwachen. Das Bankhaus Drexl Lambert, das insgesamt gut 500 Mrd. USD an Junk Bonds emittiert hatte und deren Michael Milken den Handel mit Junk Bonds jahrelang kontrollierte, feuerte Milken nach einer Reihe übler Insiderskandale in Schimpf und Schande. Drexel Lambert wurde zu hohen Strafzahlungen verurteilt, blieb dann auf einem Berg von Zwischenfinanzierungen für Unternehmensübernahmen sitzen und brach 1991 zusammen, als diese Kredite in der Rezession Not leidend wurden. Ob sich auch hier eine Parallele findet, wird sich indes erst herausstellen. Die 300 Mrd. USD an Private Equity Überbrückungskrediten für Unternehmenskäufe, die sich laut Medienberichten noch in den Büchern der Investmentbanken befinden, harren dort laut Bloomberg nach wie vor auf willige Käufer.

Die Rezession, die die USA damals nach dem Boom ereilt hatte, war jedenfalls nicht durch den Börsenkrach verursacht worden, der da bereits vier Jahre zurück lag. Sondern die Flaute setzte erst ein, als sich die später begebenen Junkbonds als eher wertlos herausstellten und der Hypothekenboom zu Ende ging. Dieser endete im Savings & Loan Desaster, bei dem gut ein Viertel aller amerikanischen Bausparkassen Pleite gingen und die Regierung später mehr als 125 Mrd. USD einschießen musste, um das Schlimmste zu verhindern.

Auf Termin spekuliert und „abgesichert“ wurde 1987 allerdings auch sehr viel, und tatsächlich dürfte der Hauptteil des gewaltigen Absturzes am Black Monday auf Arbitragegeschäfte mit dem Index-Terminmarkt und auf automatische Verkauforders aus dem damals erstmals in großem Stil ausgeübten Computerhandel zurückzuführen sein. Das Leverage war im Markt vermutlich nicht wesentlich niedriger als heute, denn zusätzlich zu den Margin-Krediten bei direkt gehaltenen Aktienpositionen erfolgten Absicherungen und Spekulation vor allem über standardisierte Index-Terminkontrakte, die anfangs nur eine minimale „initial margin“ von zehn Prozent erforderte. Allerdings wurde diese „mark-to-market“ bewertet, was bedeutete, dass die Konten täglich abgerechnet wurden, so dass bei Gewinnen am Brokerkonto Geld frei wurde, bei Verlusten, die den Kontostand unter eine bestimmte Marke („maintenance margin“) abfallen ließen, hingegen ein „margin call“ erfolgte und eine Zahlung geleistet werden musste. Dann musste auf die höhere „initial margin“ aufgezahlt werden, was bei stark fallenden Kursen zu einer starken Dynamisierung beigetragen haben dürfte.

Wie man heute weiß, verfielen damals aber nicht nur die Spekulanten und Investoren in Panik, sondern auch die Geschäftsbanken, die sich fragten, ob sie den fallenden Markt noch weiter finanzieren sollten. Nach dem „Schwarzen Montag“ beruhigten sich die Märkte auch tatsächlich erst dann, als die Fed am Dienstag noch vor Börseneröffnung betonte, dass sie bereitstehe, um dem Wirtschafts- und Finanzsystem Liquidität zuzuführen. Das Senior-Management der New Yorker Fed hatte zudem die Chefs der großen New Yorker und Chicagoer (wo die Terminbörse angesiedelt ist) Geschäfts- und Investmentbankenbanken angerufen und versichert, falls nötig mit Liquidität auszuhelfen. John S. Reed, der Chairman der Citicorp, erzählte später, er habe am 20. Oktober nach einem Telefonat mit E. Gerald Corrigan, dem Präsidenten der New Yorker Fed, den Kredit an die Wertpapierhändler von zuvor 200 bis 400 Millionen USD auf 1,4 Milliarden USD ausgedehnt. Und so stabilisierten sich nach anfänglichen Unsicherheiten am Nachmittag die Kurse. Zwei Jahre später waren die Verluste wieder aufgeholt und neue Höchststände erreicht.

Wenn man schon einen Vergleich ziehen will, dann hätten wir letzte Woche zwar einen kräftigen Kurseinbruch gehabt – Bloomberg spricht von 2,1 Billionen (2100 Milliarden) Dollar an weltweiten Verlusten an Marktkapitalisierung -, vom sich Abzeichnen einer mit 1987 vergleichbaren Panik kann aber nicht die Rede sein. Zum einen war der letzte Freitag trotz weltweiter Verluste im Vergleich recht ruhig verlaufen. So war weder ein großer Verfallstag an den Terminmärkten, wie es der Freitag vor dem Black Monday gewesen ist, noch kamen negative Sonderfaktoren zum Tragen. 1987 war am Freitag wegen eines Unwetters hingegen die Londoner City praktisch geschlossen gewesen, so dass viele Geldmanager ihre Positionen nicht hatten überwachen können und am Montag entsprechend nervös ins Büro kamen, um die seit Freitag überfälligen Verkäufe vorzunehmen.

Allerdings dürften auch beim letztwöchigen Mini-Crash die Terminmärkte eine erhebliche Rolle gespielt haben. Denn eines der beliebtesten Spiele der professionellen Spekulanten ist angesichts der stetigen Kursverläufe derzeit das „Schreiben“ von „out of the money“ Optionen. Der Schreiber räumt dem Optionskäufer das Recht ein, einen Index oder eine Aktie zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft zu einem bestimmten Preis zu kaufen bzw. zu verkaufen, wobei er annimmt, dass dieser hohe (niedrige) Preis während der Laufzeit ohnehin nicht erreicht wird und die Option einfach verfällt. Bei fast 80 Prozent aller Optionen ist dies tatsächlich der Fall, und der Spekulant kann sich über die im Voraus kassierte Prämie freuen. Kommen die Kurse aber stark in Bewegung, müssen sich die Optionsschreiber im Markt zu den für sie sehr ungünstigen Marktpreisen eindecken und erleiden einen Verlust, der die Prämie dann oft um das Mehrfache übersteigt. Dadurch gewinnen starke Kursbewegungen zwar automatisch an zusätzlicher Dynamik, die großen Positionen dürften inzwischen aber abgearbeitet sein.

Die von Bloomberg mit „Cheapest Stocks in 16 Years …“ betitelte „Top-Story“ zitiert dann auch nur Fondsmanager und Investmentbanker, die unisono von großartigen Einstiegschancen und starken Fundamentaldaten schwärmen. Wenn man den Umfragen glauben schenken darf, dann waren 1987 hingegen Käufer wie Verkäufer überzeugt, dass die Aktien generell deutlich überbewertet waren. Heute ist hingegen vom Gegenteil die Rede. Vergleicht man die Kursverläufe von 1987 mit den aktuellen Charts, so zeigt sich indes dann eine große Übereinstimmung, wenn man den aktuellen Stand mit dem Stand von etwa einem Jahr vor dem Black Monday vergleicht. Leider pflegt sich die Geschichte nicht zu wiederholen.