Cyberwar is going?
Lassen die Anschläge vom 11. September die Cyberwar-Debatte veralten?
Das an High-tech-Investoren und Silicon Valley-Anzeigenkunden orientierte Anlegermagazin "Red Herring" (San Fransisco) titelte sein 101. Heft (No. 11, August 14) "revolutionary war: smaller, faster, smarter". Das Cover zierte einmal nicht der CEO eines Start-Ups oder ein Venture Capitalist, sondern Lt. General Paul Kern, der Direktor des Army Acquisition Corps. Dies schien einigermaßen klar zu machen, warum es dem "Red Herring" diesmal ging. Inmitten der immer hoffnungsloser aussehenden Börsenbaisse wurde ein Retter ins Spiel gebracht, der dem Valley schon so oft in Flautenzeiten dadurch unter die Arme gegriffen hatte, dass es das Internet oder neue Supercomputer und Simulatoren entwickeln durfte: das Pentagon, resp. der Staat, resp. der Steuerzahler. Nun werde die in Sicherheitskreisen vieldiskutierte Revolution in Military Affairs (RMA) die Form von High-Tech-Investments annehmen. "The U.S. Military is embracing new technologies that will fundamentally change the way it wages war."
Unter Stichworten wie Cyberwar oder Infowar wurde diese Version des Kriegs im Internet-Zeitalter schon seit längerem diskutiert, auf der Ars Electronica etwa oder auch hier, in Telepolis. Die Frage, die sich nun aufdrängt, ist die: Haben die Ereignisse vom 11. September das Gerede vom Infowar oder von der RMA nicht als Blödsinn diskreditiert?
Zwar haben US-Sicherheitsexperten seit langem vor einem Angriff im Innern des Landes gewarnt, aber befürchtet wurden Anschläge auf Wirtschaft und Staat durch "Cyber-Attacken". Die USA, deren potentielle Gegner seit einem Jahrhundert Tausende von Meilen auf Distanz gehalten wurden, entdeckten in den letzten Jahren eine neue, ungeschützte Grenze, die "Fünfte Dimension" des Cyberspace, und einen neuen Feind, den Hacker oder Intruder, der mittels Medien im Innersten zuschlagen könnte.
Das US-Militär und ihre Think Tanks begannen unter den Stichworten Information Warfare und Cyberwar über Hacker-Attacken und Computerviren nachzudenken. Der erwartete Kampf würde ungewohnt sein, weil er einen gleichwertigen Gegner haben würde. Mit der noch jungen Powell-Doktrin der "application of overwhelming force" war es schon wieder vorbei, denn da auch alle Rechner des Pentagon auf dem freien Markt gekauft wurden und folglich nicht besser oder schlechter waren als die PCs auf unseren Schreibtischen, herrschte zwischen der Supermacht und dem Computer-Nerd "waffentechnische Chancengleichheit" (Friedrich Kittler).
"Nicht umsonst imaginiert ein famoses InfoWar-Szenario der RAND Corporation den Fall, dass im Jahr 2002 die USA ihren militärischen Beistand für ein einstürzendes saudisches Herrscherhaus einfach darum zurückziehen, weil Airbusse voll amerikanischer Touristen wie Steine vom Himmel über Chicago fallen", deren Software etwa von Indern geschrieben und sabotiert wurde (Kittler). Die vereinigten Streitkräfte der USA haben zumindest in ihrer Planung begonnen, sich auf den Cyberwar einzustellen.
Die sog. Joint Vision 2020 der Joint Chiefs of Staff fordert von der Armee der Zukunft eine "full spectrum dominance in all domains - space, sea, land, air, and information". Kein Wunder, dass "Red Herring" annehmen kann, Silicon Valley stehe eine segensreiche Flut von Aufträgen bevor, gilt es doch, die größte Militärmacht der Welt zur No. 1 im Cyberwar zu machen.
Doch nun ist es ganz anders gekommen. Die Flugzeuge fielen nicht vom Himmel, sondern stürzten in Gebäude. Nicht die Software wurde mit irgendwelchen Programmiertricks ausgeschaltet, wie die RAND Corporation befürchtete, sondern die Flugzeuge wurden von Terroristen entführt, und die neuen Herren der Cockpits nahmen tödliche Kursänderungen vor. Ein CIA-Experte bezeichnete die größte terroristische Operation aller Zeiten treffend mit der Formel "low tech - high concept". Die gut ausgebildeten Terroristen benötigten nicht einmal avancierte Waffen, um die Piloten zu überwältigen und zivile Maschinen in furchtbare, mit Zehntausenden von Litern Kerosin gefüllte Waffen zu verwandeln. Dafür war nicht jenes Hightech-Equipment nötig, das die InfoWar-Experten in ihren Szenarien Hollywood-gerecht herbeischrieben, sondern ein paar Dollar für Flugtickets, ein paar Messer und die feste Entschlossenheit, sich selbst und anderen den Tod zu geben.
Die "einzige Weltmacht", deren militärische "Hegemonie" alle "Kriegsgefahr vom Tisch" gewischt hat (Z. Brzezinski), wurde nicht von der befürchteten Proliferation von ABC-Waffen und Raketentechnologie an rogue states getroffen, sondern von einem todesbreiten Dutzend. Der "Cyberkrieg", so meinten John Arquilla (Naval Postgraduate School, Monterney, Cal.) und David Ronfeldt (RAND Corporation) in ihrem legendären Artikel "Cyberwar is coming!"1, sei ein "Weg, die entscheidenden Kämpfe während eines Konfliktes unblutig auszutragen." Die Terroristen haben sich für einen überaus blutigen Angriff auf Washington und New York entschieden. Die "Fünfte Dimension" haben sie links liegen lassen.
Netzkrieg und Cyberwar, so hatten Arquilla und Ronfeldt einst versprochen, seien "auf einzigartige Weise zur Bekämpfung nichtstaatlicher Akteure geeignet" wie etwa "Terroristen- und Verbrecherorganisationen". Angesichts der Paranoia, die USA hörten mit Echelon und NSA ab, was immer sie nur wollten, wirkte die These einigermaßen plausibel. Man würde vorher wissen, was geplant werde, weil auch weltweit operierende Terror- und Mafiaorganisationen auf Telekommunikation angewiesen seien, um Aktionen zu koordinieren. Doch so richtig die Feststellung von Arquilla, Ronfeldt und Autoren wie van Crefeld auch ist, dass die künftigen Kriege nicht zwischen regulären Armeen von Staaten, sondern gegen Terroristen, Guerilleros oder Banditen geführt werden, so sehr hat die Hoffnung getrogen, dass die neue "Cyberkriegsdoktrin" des US-Militärs (Colin Powell) die USA in irgendeiner Weise gegen die Angriffe solcher nicht-staatlicher Feinde gewappnet habe.
Man könnte eher behaupten, die Terroristen selbst hätten bereits die erste Schlacht im Cyberkrieg gegen die USA gewonnen, denn die Furcht vor weiteren und noch furchtbareren Anschlägen (Bio- und Chemie-Waffen) ist so groß und die ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen sind so rigoros, dass man vermuten darf, die USA verhielten sich so, als hätten sie bereits weitere und härtere Schläge erleiden müssen - genau dieses psychische Gefühl zu vermitteln, ist eine Taktik des Cyberwar.
Dass George W. Bush die Army in Alarmbereitschaft versetzt und verspricht, "to protect the American people", wirkt dagegen hilflos, denn der neue Lowtech-Feind kann von keiner Armee besiegt werden. Während die US Air Force verzweifelt Jagdflugzeuge aufsteigen lässt, um die Luftherrschaft über New York und Washington, D.C. symbolisch wiederzugewinnen, erklären Sicherheitsberater und Terrorexperten der zweiten Reihe resigniert, gegen derartige Angriffe gebe es keinen Schutz, da jedes Fahrzeug: Schiffe, Autos, Busse, Züge zur Waffe werden kann.
Aber wenn es dagegen keinen Schutz gibt, dann muss man sich, so lautet offenbar die seltsame Logik der Cyberwar-Anhänger, eben vor etwas schützen, vor dem man sich schützen kann. Gerade nach den Attentaten, so der Cyberwar-Experte und -Lobbyist James Adams in der FAZ (20. 9. 2001), müsse man sich klar machen, welch schutzloses Ziel die Welt der vernetzten Rechner in den USA für jeden "Cyber-Terroristen" biete. Allein der "I love you"-Virus habe Kosten in der Höhe "zwischen 4 und 15 Milliarden Dollar" verursacht - "das entspricht den materiellen Schäden, die das Flächenbombardement einer amerikanischen Kleinstadt anrichten würde." Der Vergleich allein ist zynisch genug - aber man kann auch intelligenter den eigenen Nutzen verfolgen.
Denn interessant an dem "Red Herring"-Aufmacher über RMA ist nun nicht, dass ein verzweifeltes, anzeigenschwaches Anlegermagazin die alte Infowar-Debatte nachbetet in der Hoffnung, das Pentagon werde der Nasdaq wieder Auftrieb verschaffen, sondern - anders als bei Adams - die Neujustierung der Debatte auf genau die Probleme, die uns seit dem 11. September beschäftigen: "Islamic fundamentalism and future terrorism", "asymmetric warfare", "guerrilla- or terrorist style attacks" sowie, um Namen zu nennen, "Afghanistan, with its support of Osama bin Laden". Die Gesprächspartner, auf die sich die "Red Herring"-Autoren beziehen, sind nahezu allesamt ranghohe (teils ehemalige) Offiziere (Admiral Owens, Lieutenant General Paul Kern, Col. Bruce Jette ... und auch John Arquilla). Man ist sich einig: der Golf-Krieg "was not a new kind of war, but the last of the old ones" (das klingt so anders als bei Paul Virilio).
Desert Storm konnte erstens unter Bedingungen nahezu absoluter Aufklärung (ohne den sprichwörtlichen "fog of war", der in Afghanistan ganz buchstäblich der Hightech-Aufklärung die Sicht raubt) geführt werden und zweitens mit überwältigender Überlegenheit an Waffen und Soldaten. Doch die Ära der "interstate wars fought on clear battlefields" ist nun vorbei, denn die neuen Feinde Amerikas - "Islamic fundamentalism and future terrorism" - sind sich ihrer militärischen Unterlegenheit bewusst und stellen sich daher auf "asymmetric warfare" ein. Dies bedeutet zum einen, dass sie ihre Kräfte niemals massieren werden, um nicht Opfer einen massiven US-Schlages zu werden (daher keine Antwort auf die Fragen: wo ist bin Ladin? Wo steht seine Truppe?), und zum anderen, dass sie den offenen Kampf vermeiden werden, um statt dessen "guerrilla- or terrorist style attacks" zu führen. Auf diesen Krieg seien die USA aber nicht vorbereitet. Damit hat das Anlegermagazin, dessen Top-Hundred-Liste aus dem letzten Jahr sich liest wie ein Crash-Report, leider Recht behalten.
Die Armee, die dafür nötig sei, werde aus dezentralen "small, nimble special forces" bestehen, "commanding tremendous of firepower and able to call down yet more", die vernetzt als "battle swarm" zusammenarbeiten. Vom Gegner lernen, heißt siegen lernen. Erste Schritte dahin hat die Army mit ihrem Land Warrior Program bereits unternommen, das eine High-Tech-Firma entwickelt. Doch dass sich dieses Programm, das das US-Militär auf den neuen Feind vorbereitete, tatsächlich in großem Stil verfolgt werden würde, mag im August noch niemand glauben: Andrew Krepinevich vom Center for Strategic and Budgetary Assessment wird im "Red Herring" mit der Vermutung zitiert, "that the military won't accept significant change until some disaster forces it to." Dieses Unglück ist eingetreten. Beginnt nun die RMA?