Dabei sein ist alles, oder?
Mitspracherecht der Nutzer bei ICANN steht zur Debatte
"Langweilig" zu sein, ist das erklärte Ziel der ICANN-Führung. Langweilig, weil es doch "nur" um ein paar technische Parameter bei der Vergabe von Namen, Nummern geht. Bei der routinemäßigen Jahrestagung wäre das der Organisation auch beinahe gelungen, durch die Ankündigung eines außerordentlichen "Sicherheitsspecials" die notorischen Kritiker endgültig los zu werden. ICANN-Watch-Redakteur Ted Byfield gehörte zu denen, die die Sitzung ausgesessen haben und mit einer der kontroversesten Debatten um das Mitspracherecht des Cyberproletariats belohnt wurden (Ted Byfield: ICANN Defending our Bodily Fluids). Die gewählten Nutzervertreter um Andy Müller-Maguhn konnten dabei erst einmal einen Etappensieg verzeichnen. Von der endgültigen Entscheidung über die sogenannten At-large-Direktoren im kommenden Frühjahr hängt möglicherweise mehr ab, als ICANNs Führung sich selbst klar macht.
Zufrieden ist eigentlich niemand so richtig mit der Arbeit der privaten Organisation, die seit Ende 1998 für die organisatorischen Fragen des Domain Name Systems zuständig ist. Sicher, die Nutzer müssen heute ihre com-Domains nicht mehr bei Network Solutions, inzwischen VeriSign, einkaufen. Mit etwas Glück und, vor allem, viel Hartnäckigkeit können sie ihre Domains vielleicht sogar vom ehemaligen Monopolisten zu einem Anbieter ihrer Wahl migrieren. Im kommenden Jahr muss VeriSign überdies die org-Domain an einen Mitbewerber abgeben. Und wer von .com die Nase voll hat, dem stehen heute ein paar Alternativen zur Verfügung, zum Beispiel eine info-, eine biz- oder eine persönliche name-Domain, auch wenn das aus Sicht der Nutzer nicht gerade in Internet-üblicher Geschwindigkeit eingeführt realisiert wurde.
Zufrieden sind daher immerhin vor allem diejenigen, die heute im Geschäft sind, ICANNs akkreditierte Registrare, die gleich auch noch Anbieter der neuen Registries sind - auch VeriSign mischt kräftig mit; als Mitglied von Afilias, als Anbieter internationalisierter Domains, als nach wie vor führend im Registry- und Registrargeschäft. Wer nicht zum Zuge kam mit seiner Bewerbung um eine Neuregistry, sieht das ganz anders - die World Health Organization zum Beispiel, verschiedene Betreiber alternativer Root-Zonen - wie Image Online Design mit .web.
Kartellrechtlich nicht unbedenklich, so lautet daher jetzt auch das Urteil vom ICANN-kritischen Juraprofessor Michael Froomkin, dem Gründer von ICANN-Watch. Wenn nur die US-Regierung, von deren Gnaden ICANN abhängig bleibt, sich einmal klarer äußern würde, ob ICANN nun wirklich privat ist oder nicht, meint Froomkin. Entweder soll die DNS-Aufsicht dem Markt - und damit möglichen Schadenersatzklagen unterlegener Bewerber - unterworfen werden oder die US-Regierung sollte die Organisation besser kontrollieren. Schluss mit dem Zwitterwesen, das weder von der Wirtschafts- noch von Verwaltungsseite zur Verantwortung gezogen werden kann.
Den zentralen A-Root-Server wird die US-Administration ohnehin kaum an die ICANN abgeben, der dahingehende Passus im Vertrag zwischen dem Department of Commerce (DoC) und der ICANN ist das Papier nicht wert, auf das er geschrieben ist. Die Manager der Länderdomains in aller Welt bekommen das dadurch zu spüren, dass jede noch so kleine Routineänderung im Root-Zone-File über den Tisch des DoC geht (ICANN zu langsam bei Krisen im DNS). Als ICANNs Präsident in Marina del Rey auch noch recht brüsk eine geschäftsmäßige vertragliche Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen ICANN und den Länderdomain-Managern ablehnte - ICANN wird nie Service-Vertrag unterschreiben" - war auch der vom RIPE in den Vorstand entsandte Direktor Rob Blokzijl "not amused".
Die Dominanz der USA dürfte aber über kurz oder lang andere Regierungen erneut auf den Plan rufen. Die Sonderstellung der US-Regierung, der starke Einfluss US-amerikanischer Unternehmen und die Konzentration der ICANN-Geschäfte im Büro in Kalifornien - jeder Faktor für sich würde möglicherweise hingenommen, zumal sich die Zusammengenommen aber machen sie ICANN aber doch zu einer recht einseitigen Veranstaltung. Noch ist niemand mit einer Alternative für die DNS-Regulierung aufgestanden, aber in Europa und in Asien wird durchaus darüber nachgedacht, wie es nach ICANN weitergehen könnte. Und die ITU, ursprünglich einmal als Alternative im Gespräch, macht sich gerade fit in den Konfliktfeldern - wie etwa den derzeit von VeriSign aggressiv eingeführten internationalisierten Domains.
Der At-large-Frage und der damit insgesamt verbundenen Neustrukturierung der Organisation kommt in dieser Situation eine wichtige Rolle zu (Wer ist das "Selbst" in Self-Government?. Zu gerne hätten ICANNs Hauptamtliche das Thema recht klein gehalten und mit der Entgegennahme des Abschlußbericht des handverlesenen At-large-Study Komittees (ALSC) gleich Fakten zu schaffen - so zumindest Byfields nicht unplausible Verschwörungstheorie. Schon hat sich die Sprachregelung durchgesetzt, dass es doch viel mehr auf das Feedback der Nutzer ankommt, Wahl und Zahl der Direktoren dagegen zweitrangig seien. "Ich bin noch nicht überzeugt, dass wir eine solche Wahl wirklich die effektivste Art für uns ist, uns über Anliegen und Probleme der Nutzer zu informieren", sagt ICANNs Vorsitzender Vint Cerf. Dabei sein ist alles, mit entscheiden dagegen zweitrangig. Ein Motto, das übrigens auch für manche Entscheidung der Direktoren zutrifft, denn von den Entwürfen des ICANN-Büros abweichende Entscheidungen sind vergleichsweise selten.
Was eine starke At-large-Fraktion bewegen kann, haben drei der At-large-Direktoren erstmals bewiesen, als man das ursprünglich At-large-Konzept - die fifty-fifty-Verteilung der Direktorensitze für Nutzer und Experten, beziehungsweise Unternehmen - vorzeitig beerdigen wollte. Andy Müller-Maguhn und seinen Kollegen aus Brasilien und den USA, Ivan Moura Campos und Karl Auerbach setzten sich mit einigen kleinen, aber feinen Formulierungsänderungen durch (ICANN: Defending Our Precious Bodily Fluids). Ihre endgültige Entscheidung über die Zukunft von At-large im kommenden Frühjahr wird so nicht "in Übereinstimmung", sondern "unter Würdigung" der ALSC-Vorschläge getroffen werden. Damit haben sie es sich offen gehalten, gegen die Verteilung der Direktorensitze an Nutzer, Provider und Entwickler zu je einem Drittel zu stimmen. Auch die allgemein heftig kritisierte Beschränkung der Wählerschaft auf Domaininhaber kann noch gekippt werden.
Wenn die At-large-Direktoren bei der entscheidenden Sitzung in Accra im März noch einmal etwas für die At-large-Gemeinde herausholen wollen, müssten sie allerdings ihre Hausaufgaben machen und die "Massen" hinter sich scharen. Bislang, so versicherten Esther Dyson und Carl Bildt vom ALSC, hätten sie kaum Rückmeldungen von Nutzerseite bekommen. "Die Leute interessiert vor allem, ob das System funktioniert," versicherte der schwedische Diplomat. Das ALSC hat in professioneller Politikermanier unmittelbar nach seiner Niederlage in einer Pressemitteilung seinen Sieg verkündet: "ICANN-Vorstand stimmt den Prinzipien des At-large-Berichtes zu".
Die ehrenamtlichen At-large-Direktoren dagegen sind wieder in ihre Real-life-Verpflichtungen abgetaucht. Freilich fehlt ihnen auch die satte finanzielle Ausstattung eines ALSC von runden 450.000 US-Dollar. Immerhin in diesem Punkt muss man dem ALSC-Bericht wohl recht geben: Wenn die Finanzierung nicht von den Nutzern selbst kommt, kommt sie vermutlich nirgend woher. Eine von der ICANN prinzipiell unabhängige Finanzierung durch die Nutzer dagegen würde At-large auch ermöglichen, sich seine eigenen Gutachten zu bestellen. Dass sie sich mit einem Gegenvorschlag durchsetzen und im kommenden November doch noch neun - oder gar die von Karl Auerbach gewünschten 18 - Direktoren für die Nutzer in den Vorstand einziehen, ist wenig wahrscheinlich.
Den Verzicht auf die Nutzervertretung - der von Vertretern der Techniker-Fraktion wie dem deutschen ISOC-Chef Klaus Birkenbihl favorisiert wird, die At-large für einen Beitrag zum Wasserkopf der Organisation halten - kann sich die ICANN aber nicht wirklich leisten. Eine abgespeckte ICANN ohne At-large und dann bitte gleich auch mit kleinerem Direktorium mag fokussierter in ihren Diskussionen sein. Sie ist aber auch deutlich leichter ersetzbar, zumal die eigentlichen technischen Aufgaben nach wie vor von den Standardisierungsorganisationen und die markenrechtlichen Fragen von Organisationen wie der WIPO gelöst werden.
ICANN ist genau die Diskussionsplattform, die die Organisation nicht sein will. Als solche ist sie austauschbar. Direkt gewählte Vertreter von Nutzern aus verschiedenen Ländern wieder abzusetzen, dürfte aber auch den Regierungen schwerer fallen. Das erklärt vielleicht teilweise deren Dilemma bei der Beurteilung des Mitbestimmungsmodells - einerseits hätten sie gerne eine bessere Balance zwischen US- und internationalen Interessen, andererseits sehen sie sich selbst als Sachwalter des öffentlichen Interesses. Die von der NGO und Academic Study Group (NAIS) beschworene Legitimation, die der ICANN aus einem starken At-large-Standbein erwachsen würde, würde die Organisation in der Tat vor möglicher Konkurrenz schützten - sei es aus dem Regierungslager oder von anderer Seite. Das werden ICANNs Hauptamtliche, Ehrenamtliche und Kritiker allesamt beim Streit um die zukünftige Struktur der Organisation mit bedenken müssen. Wie war das doch gleich? - "Dabei sein ist alles."