Dagestan: Rückfall um 25 Jahre für Putin?
Die Anschläge in Dagestan zeigen die Schwäche der russischen Sicherheitsbehörden und gefährden eine wichtige Basis von Putins Präsidentschaft.
Im August 1999 drang eine Gruppe bewaffneter Militanter aus dem abtrünnigen Tschetschenien in die russische Teilrepublik Dagestan ein und eroberte mehrere Ortschaften. Moskau reagierte hart. Unter der Führung des noch jungen und wenig bekannten Ministerpräsidenten Wladimir Putin wurde eine Anti-Terror-Operation gestartet.
Stabilität gegen Einschränkung der Freiheit
Es war einer der Wendepunkte in der Karriere des ehemaligen KGB-Offiziers. Der Kampf gegen den Terror wurde Teil seines politischen Programms. In den folgenden sechs Monaten stiegen seine Umfragewerte um ein Vielfaches und er wurde zum Staatsoberhaupt. Heute, 25 Jahre später, hat sich daran nichts geändert.
Die Regierung des neuen Kremlchefs beruhte unter anderem auf einer Art Gesellschaftsvertrag: ein Gefühl der Sicherheit im Tausch gegen die Einschränkung politischer Rechte und Freiheiten.
Dieser Pakt hat lange funktioniert. Die Russen, oft wenig an Politik interessiert, waren Putin dankbar für die Stabilität und verschlossen die Augen vor Wahlen, die zunehmend keinen echten politischen Wettbewerb mehr beinhalteten.
Dagestan und der gescheiterte Gesellschaftsvertrag
Jetzt funktioniert der Vertrag nicht mehr. Am Sonntagabend griffen bewaffnete Männer zwei orthodoxe Kirchen und zwei Synagogen in Derbent und Machatschkala an, den beiden größten Städten Dagestans im Süden Russlands.
Nach jüngsten Angaben der Regierung wurden mehr als 20 Menschen getötet und etwa 30 verletzt. Die Straßenkämpfe dauerten die ganze Nacht und wurden erst am Montagmorgen beendet.
Kinder von Regierungsfunktionären beenden Ruhephase
.Bemerkenswert ist, dass sich unter den Angreifern zwei Söhne von Magomed Omarow, dem Oberhaupt einer der Regionen Dagestans, befanden. Nach dem Terrorakt wurde er sofort verhaftet und aus der Regierungspartei "Einiges Russland" ausgeschlossen.
Die Begründung lautete: "Handlungen, die die Partei diskreditieren".
Rückkehr des Terrors
Lange Zeit war es ruhig um den terroristischen Untergrund in Dagestan und im gesamten Nordkaukasus. In den frühen 2000er-Jahren schien das Problem zu verschwinden.
Mitte der 2010er-Jahre, als die Terrorgruppe Islamischer Staat im Nahen Osten ihren Aufstieg erlebte, schlossen sich bis zu 5.000 Menschen aus Russland den Kämpfern an. Die meisten von ihnen stammten aus Dagestan.
Rolle des russischen Geheimdienstes
Der russische Geheimdienst stellte denjenigen, die mit dem Gedankengut des IS sympathisierten und damit eine Gefahr innerhalb Russlands darstellten, bereitwillig Pässe aus, damit sie das Land verlassen konnten.
Was danach mit diesen Personen geschah, interessierte die Behörden kaum. Nach der Niederlage des IS in den Jahren 2016 und 2017 kehrten einige der überlebenden Terroristen in ihre Heimat zurück. In Dagestan, wo die offizielle Arbeitslosenquote bei knapp 13 Prozent liegt, war es für sie schwierig, wieder Arbeit zu finden.
Korruption und Armut im russischen Kaukasus
Die Situation in der komplexen Region, in der Dutzende verschiedene Völker leben, wird durch extreme Korruption und eine Clanstruktur verschärft. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2019 sind 49 Prozent der Einwohner Dagestans davon überzeugt, dass das Ausmaß der Korruption höher ist als in anderen Regionen Russlands.
Von allen Regionen des russischen Kaukasus starben im Krieg mit der Ukraine die meisten Menschen aus Dagestan, nach jüngsten Angaben mehr als 800. Die Dunkelziffer der Kriegstoten dürfte hoch sein. Es ist kein Zufall, dass gerade in Dagestan im September 2022, unmittelbar nach der von Putin angekündigten "Teilmobilmachung", große Antikriegsdemonstrationen stattfanden.
Kriegsgeschwächte Sicherheitsbehörden
Der Krieg in der Ukraine hat auch zu einer Schwächung der russischen Sicherheitsbehörden geführt. Viele Sicherheitskräfte, die zuvor den terroristischen Untergrund im Kaukasus bekämpften, sind nun mit der Überwachung der besetzten Gebiete in der Ukraine und der Suche nach der "fünften Kolonne" dort beschäftigt.
Dabei sind sie recht erfolgreich, wenn es darum geht, Russen festzunehmen, die in sozialen Netzwerken gegen den Krieg schreiben oder auf der Straße gegen den Krieg protestieren.
Sicherheitsbehörden eingeschränkt aktionsfähig
Allerdings haben Polizei und Geheimdienste durch diese Konzentration auch die Fähigkeit verloren, Terroranschläge zu verhindern oder gefährliche Aktivisten dingfest zu machen. Nicht zuletzt deshalb drang im März eine gut organisierte Gruppe von IS-Kämpfern ungehindert und bewaffnet in das Veranstaltungszentrum Crocus City Hall am Stadtrand von Moskau ein.
Sie erschossen 145 Menschen und verließen den Tatort zunächst unbehelligt in ihren eigenen Autos. Wenige Stunden später wurden sie nahe der ukrainischen Grenze festgenommen. Es war der größte Terrorakt in Russland seit dem tragischen Geiseldrama von Beslan im Jahr 2004.
Am 16. Juni nahmen militante IS-Kämpfer in einem Untersuchungsgefängnis in Rostow am Don Geiseln. Fünf der Extremisten wurden getötet, die Geiseln befreit.
Kein Schuldeingeständnis der Behörden
In all diesen Fällen haben die russischen Behörden ihre Fehler nicht zugegeben, sondern versucht, die Ereignisse mit der Anwesenheit eines äußeren Feindes zu erklären. Über eine sogenannte "ukrainische Spur" wurde versucht, Kiew oder die Nato für die Ereignisse verantwortlich zu machen.
"Das ist eine absolut zynische Provokation. Sorgfältig geplant von unseren Feinden im Ausland, von ihnen finanziert und genau darauf ausgelegt, Zwietracht zu säen", kommentierte Walentina Matwijenko, Vorsitzende des Föderationsrates, die Anschläge nach dem Terrorakt in Dagestan.
Anwürfe gegen Ukraine
Selbst der dagestanische Regionalchef Sergej Melikow brachte den Anschlag mit dem Krieg in der Ukraine in Verbindung. "Wir müssen verstehen, dass der Krieg auch zu uns kommt. Wir haben ihn schon früher gespürt, aber jetzt sind wir direkt mit dem Krieg konfrontiert", so der Spitzenpolitiker.
Tatsächlich deutet der Terrorakt in Dagestan in Kombination mit seinen Vorgängern in jüngster Zeit darauf hin, dass die russischen Sicherheitsbehörden nicht mehr in der Lage sind, den terroristischen Untergrund zu bekämpfen. Weder in Machatschkala noch in Moskau können sich die Bürgerinnen und Bürger noch sicher fühlen.
Die Alternativlosigkeit des Kreml
Es ist offensichtlich, dass sich im von Korruption und Arbeitslosigkeit geprägten Dagestan immer mehr junge Menschen dem Islamismus zuwenden. Viele von ihnen werden sich auch in Zukunft verschiedenen Terrorgruppen anschließen. Die russische Macht bietet ihnen nur die Alternative, für ihre Ziele in der Ukraine zu sterben.
Der Islamische Staat ist heute ein Netzwerk mit Untergruppen auf der ganzen Welt. Im März, nach dem Terrorakt in Moskau, wurde der russische Ableger erstmals seit Jahren wieder als eigenständige Organisation hervorgehoben.
Für Putin selbst waren die Ereignisse in Dagestan ein schmerzhafter Moment. Er weigerte sich sogar, den Russen öffentlich sein Beileid auszusprechen, um keine Schwäche zu zeigen.
Sein Gesellschaftsvertrag von vor 25 Jahren, der Tausch von Sicherheit gegen politische Freiheit, ist massiv untergraben worden. Eine Alternative hat der alternde Präsident nicht.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, unter den Militanten habe sich auch der bekannte Mixed-Martial-Arts-Kämpfer Khabib Nurmagomedov befunden. Das war falsch. Richtig ist: Nurmagomedov hat sich deutlich gegen die islamistische Terrorattacke in Dagestan positioniert.