Darf es ein bisschen mehr sein?

Armut als Ware in der Goodwill-Industrie

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Von ihrem Gründungsmythos, der Tafelidee (die so viele Menschen "charmant" oder "überzeugend" finden), entfernt sich die Tafelbewegung immer häufiger. Vor 20 Jahren bestand diese Idee darin, überflüssige, aber noch verzehrfähige Lebensmittel an bedürftige Menschen zu verteilen. Inzwischen ist Armenspeisung zu einem marktförmigen Unternehmen geworden.

Eins-Mehr-Aktionen für "Hartware"

Jedes Jahr lässt sich das kurz vor Weihnachten in deutschen Supermärkten beobachten. Etwas Sonderbares passiert. Die Tafeln rufen dazu auf, (zusätzliche) Lebensmittel zu kaufen, die dann am Eingang des Supermarktes eingesammelt und an den nächsten Ausgabentagen der Tafeln an Bedürftige verteilt werden. Vor allem wird dabei um "Hartware" gebeten, also Lebensmittel, die lange haltbar sind und nicht zum üblichen Angebot der Tafeln gehören.

"Eins mehr!" heißt die bekannteste dieser öffentlichen Sammelaktionen. Sie wurde von der Berliner Tafel ersonnen und hat sich längst als Standard etabliert. Dabei ist den ErfinderInnen selbst bewusst, dass sie von den eigenen Tafel-Prämissen abweichen. Zur Legitimation heißt es auf der Webseite:

Der Grund, vom eigentlichen Tafel-Prinzip, dem Einsammeln überflüssiger Waren, abzuweichen, ist einfach: Einen Schoko-Nikolaus oder ein Krokant-Ei bekommt die Tafel erst Wochen nach den eigentlichen Festen. Waren wie Kaffee oder Salami sind immer rar. "Eins mehr!" ist die Chance, den Menschen dreimal im Jahr die Feiertage etwas schöner zu gestalten.

Die Eins-Mehr-Aktionen sind inzwischen bundesweit beliebt und gehören zum Selbstdarstellungsrepertoire der Tafelbewegung. Kaum eine andere Marketingaktion zeigt deutlicher, dass die Tafeln gerade keine soziale Bewegung sind (als die sie sich gerne bezeichnen), sondern ein "moralisches Unternehmen", dass innerhalb einer immer weiter um sich greifenden Armutsökonomie inzwischen einen festen Platz eingenommen hat. Moralische Unternehmen vermarkten keine Produkte, sondern gute Gefühle.

Armut als Ware

Innerhalb der Armutsökonomie ersetzt die Abspeisung der Armen mittels Kampagnen wie "Eins mehr!" eine nachhaltige Armutsbekämpfungspolitik. Armut wird zu einer Ware ("Kommodifizierung") innerhalb eines stetig wachsenden Marktes, dessen Prototyp die Tafeln sind. Dem vormodernen Inneren ("Armenspeisung") steht ein immer moderneres Äußeres ("Wohltätigkeitsagenturen") gegenüber. Deutlich wird dies z.B. durch die Einführung von Spendensiegeln, die den Tafeln das Vertrauen gegenüber ihren Spendern und Sponsoren sichern.

Der Bundesverband Deutsche Tafel e.V. ließ sich mit dem DZI-Spendensiegel auszeichnen, das vom "Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen" verliehen wird und eine "nachprüfbare, sparsame und satzungsgemäße Verwendung" eingehender Spenden attestiert. Nachprüfbar, sparsam und satzungsgemäß bedeutet aber nicht automatisch auch sinnvoll. Denn wer im großen Stil Lebensmittel zukauft, der hilft nicht nur "die Feiertage schöner zu gestalten" (Berliner Tafel) sondern stabilisiert gerade dasjenige System, das eigentlich überflüssig sein sollte.

Bildunterschrift

In armutsökonomischen Märkten werden keine Produkte herstellt, sondern handlungsentlastende Images. Die Tafeln (inzwischen selbst eine eingetragene und juristisch geschützte Marke!) produzieren als moralische Agenturen ein Image, das sich perfekt in den Funktionssystemen Wirtschaft ("Corporate Social Responsibility"), Politik ("Bürgerschaftliches Engagement") und Medien ("Hilfe für die Armen") vermarkten lässt. Die Bundes-Tafeln dominieren dabei das Feld des privatisierten Armutsmanagements. Um ihren Markenwert zu steigern, inszenieren sie in regelmäßigen Abständen Pseudoereignisse (z.B. Lebensmittelwetten mit prominenten Politikern) oder stützen sich auf Exklusivverträge mit Sponsoren (z.B. Lidl, Rewe). Sie operieren nach marktförmigen Expansionslogiken ("Tonnenideologie") und erstellen "Wirkungsbilanzen" wie gewinnorientierte Unternehmen.

Zusammen bedeutet dies eine Veränderung des Charakters freiwilligen Engagements. In armutsökonomischen Märkten gesellt sich zur Ökonomisierung des Sozialen auch die Ökonomisierung des Engagements. Die Folge davon ist, dass zivilgesellschaftliches Engagement in einem neuen Maßstab kalkulier- und einplanbar wird. Aus Bereitschaftspotenzialen und spontanen Hilfeimpulsen werden systematisch berechenbare Hilfeleistungen gemacht. Durch die Selbstverständlichkeitskeitsunterstellung, mit der das innerhalb der armutsökonomischen Goodwill-Industrie geschieht, vollziehen sich ein Werteverlust und eine moralische Korrumpierung "freiwilligen" Engagements.

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