Das Bandbreiten-Dilemma

Laut dem englischen E-Commerce-Guru Charles Leadbeater haben Computer-Geeks das Netz ruiniert, nicht aufgebaut. Doch wie der Stagnation im Netz nach dem Dotcom-Wahn begegnen?

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Das Auftreten von Internet-Propheten ist kein rein amerikanisches Phänomen. England hat seine ganz eigenen Visionäre hervorgebracht und Charles Leadbeater ist einer von ihnen. Er ist Befürworter einer "Ökonomie der Ignoranz" , Autor von "Leben in dünner Luft: Die New Economy" , Berater der Regierung Blair in Sachen E-Commerce sowie des Technologiefonds Atlas Venture. Im vom 15. Januar dieses Jahres begrüßt er den "Neubeginn" des Internet; er stellt fest, dass "es mit dem Internet noch nicht vorbei ist. Wir stehen momentan nur am Ende des Wachstums der ersten Internet."1 Welch' Erleichterung inmitten all dieser Dumpfheit und den Depressionen an der NASDAQ. Es ist genau die Sorte Erlösung, die wir von einem aktiven Priester des organisierten Optimismus erwarten. Solcherlei Fluchtbewegungen in eine rosarote Zukunft sind jedoch allzu billig. Die Kluft zwischen der Masse, die mit geringer Bandbreite auf textbasierte Systeme angewiesen ist und den wenigen Glücklichen, die über große Bandbreiten auf Audio- und Videoströme zugreifen können, ist wirklich vorhanden. Telekommunikationsunternehmen und die IT-Industrie werden sich damit noch eine Zeit lang herumschlagen müssen, was einige Auswirkungen auf diejenigen haben wird, die Inhalte zur Verfügung stellen.

Leadbeater, ein Journalist, der früher für die Financial Times gearbeitet hat, datiert die Lebensspanne des "ersten Internet" auf die Jahre zwischen 1996 und 2000 - was gesichertem historischem Grundwissen widerspricht. Vergessen wir doch einfach die etwa 25 Jahre, die das Internet schon existiert hatte, bevor das World Wide Web auftauchte. Leadbeater ist sich seiner Fälscherei wohl bewusst. Er fälscht die Geschichte absichtlich, möchte die ASCII- und-Linux-Fraktion dadurch provozieren, indem er behauptet, dass das Internet aus dem Geist von E-Commerce und Dotcom-Boom hervorgegangen sei. Leadbeater möchte einer Art von neuem Voluntarismus Vorschub leisten, nach ihm bestimmt das Bewusstsein das Sein, nicht umgekehrt. Vergessen wir doch einfach diese Hackergeschichten, nach denen die Wurzeln des Internet in der militärischen und wissenschaftlichen Informatik zu suchen sind. Das Internet ist aus dem Willen zum E-Business heraus geboren worden! Einkaufen und Unterhaltung sind das wahre Wesen des Menschen. Sie sind die einzige und alleinige Quelle, der Motor und die Bestimmung des Netzes.

Anders als den meisten Propheten der New Economy fehlt Leadbeater die Sympathie für die Genialität der Internet-Technologie und für die Magier, die den Code schreiben, der ihr zugrunde liegt. Was er offen ausspricht, und was viele der gescheiterten Dotcom-Unternehmer wohl im Geheimen denken ist, dass das Internet das Joch der Technologie abschütteln sollte. Anwendungen und Protokolle, die einst dieses unglaubliche weltweite Computernetzwerk entstehen ließen, würden nun seine Weiterentwicklung behindern. Wie aber nun die Befreiung von diesen bremsenden Faktoren aussehen soll, ist eine andere Geschichte.

Wenn es nach Leadbeater geht, ist das "erste Internet" gescheitert, weil die Technologen und Computerfreaks am Ende über die Bosse, ihre Manager und die Webdesigner-Sklaven triumphiert hätten. Die Pioniere des Online-Geschäfts seien guten Willens und bereit gewesen, ihre ersten Kunden zu bedienen. Aber das große Publikum sei vom Hokuspokus der Geeks abgeschreckt worden. Die Kunden seien schon früh von der viel zu komplizierten und gleichzeitig kruden Anmutung dieser von den Medien hochgejubelten virtuellen Umgebung abgestoßen worden, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Keine noch so groß angelegte Werbekampagne in den traditionellen Medien hätte die Leute wieder dazu bringen können, nochmals Domain-Namen einzugeben, egal wie brillant diese auch gewählt gewesen sein mochten. Die ursprünglich viel zu teuren Aktienkurse der neuen Internet-Unternehmen waren auf der wackeligen Grundlage eines angenommenen linearen Umsatzwachstums berechnet gewesen und hatten nun ihre potentiellen Kunden verloren. Im Frühjahr 2000 kippte der IT-Goldrausch angesichts der gesättigten Märkte um und die Aktienkurse stürzten ab. Die Abwesenheit der eifrig One-click-kaufenden Online-Kunden war verantwortlich für die erste Rezession im Internet.

Das ist die Verschwörungstheorie der New Economists: Die Geeks sind schuld. Um Leadbeater sprechen zu lassen:

"Das seitenbasierte Internet ist langweilig. Das Volk will ein wirklich interaktives Erlebnis, mit Dramatik, Aufregung, Spielen und Witzen. Im ersten Internet wurde wenig für Inhalte ausgegeben, für die dann nichts verlangt wurde. Das Ergebnis: Legionen gelangweilter Konsumenten, die ein Medium benutzten, das für Computerfreaks gestaltet worden ist."

Leadbeater versucht, nonexistente Software herbeizuträumen und sie gleich zu verkaufen. Sie sollte diesmal nicht von irgendwelchen kalifornischen Anarcho-Kapitalisten entwickelt werden, sondern von den ganz Großen im Mediengeschäft - ganz im Stil von AOL-TimeWarner.

"Das Netz wird florieren, wenn es nicht mehr ein Reservat der Geeks ist und wenn die Geschwindigkeit und Bandbreite der Verbindungen nicht so wichtig sein werden wie das Erlebnis, das es den Kunden bieten wird."

Wie die Nachrichten- und Unterhaltungsindustrie Oberwasser bekommen soll, während sie gleichzeitig an die Grenzen des technologischen Know-hows stößt, bleibt unklar. Auf jeden Fall steht die Zähmung der Computerfreaks ganz oben auf der Liste der virtuellen Herrscherklasse - nicht mehr der Microsoft-Prozess. Die paranoide Angst vor Monopolen ist einer Furcht vor einer Fehlentwicklung der technischen Systeme gewichen, die sich in eine Richtung bewegten, in der es keine Märkte gäbe.

Die spielerische Zusammenarbeit zwischen Techs und Risikokapitalgebern ist beendet. Die Kreativität der Online-Experten ist auf eine andere Ebene des Ausdrucks gewandert, zum Beispiel in Richtung Peer-to-Peer-Netzwerke und Entwicklung von Open-Source-Software. Dezentrale Geschenkökonomien, aus denen im Vergleich zu den Hochzeiten des Webdesigns und der darauf folgenden Portals für Online-Inhalte und Dienstleistungen wesentlich schwieriger Profit geschlagen werden kann.

Wenn man auf die prähistorisch-primitive Zeit vor der Herabkunft des E-Commerce zurückblickt, dann verband man sich mit dem "ersten Internet [...] durch schwerfällige Personal Computer und schmalbandige Telefonkabel, die es einem erlaubten, begrenzte Informationsmengen herunterzuladen", schreibt Leadbeater. "Seine Hauptwährung sind Informationen, hauptsächlich in Form von Texten, und die Suche darin ist frustrierend langsam und chaotisch."

Als Online-Übermensch, der gerade aus der Zukunft zurückgekehrt ist und auch noch so nett ist, einige seiner Gedanken mit uns Erdenwürmern zu teilen, hat Leadbeater kein Mitleid mit den kruden Artefakten der Technologie aus dem letzten Jahrtausend, die uns immer noch umgibt:

"Die Webseiten, auf denen der Text dargestellt wird, sind überfrachtet und langweilig; sie bringen uns nicht den Spass und die Aufregung eines guten TV-Werbespots. Sie sind nur selten witzig - und das meist unfreiwillig."

Da muss jemand den guten Leadbeater vergackeiert haben. Vielleicht diese spaßigen Amerikaner? Jedenfalls ist er aufrichtig enttäuscht.

"Das Internet hat unmittelbar, personalisiert, interaktiv und reich an Inhalten sein sollen. Es hat sich als langsam, überfrachtet, schwer bedienbar und langweilig herausgestellt."

Hier hätte ein kurzer Blick auf die politische Ökonomie der Bandbreiten geholfen. Die Frage der Geschwindigkeit des Internet ist und wird immer von wirtschaftlichen und (cyber)geografischen Voraussetzungen bestimmt werden, wie die Karten zeigen ; nicht von der Technologie, die am Konsumenten-Ende verwendet wird.

Die Geschwindigkeit des Internet ist eine launische Angelegenheit, die ständig im Fluss ist und nicht nur davon abhängt, wieviel man in seine Hardware investiert, sondern auch davon, wo man sich befindet, welchen Anschluss man benutzt und einigen Faktoren mehr. Geschwindigkeit ist subjektiv und wird von Kultur zu Kultur verschieden wahrgenommen. Zahlreiche unbekannte Faktoren können uns plötzlich vom ungestörten Surfen abhalten. Ein gerissenes Unterseekabel, ein wichtiges unterirdisches Kabel, das von einem Traktor beschädigt wird, Augenblicke, in denen sämtliche User der amerikanischen Ostküste gleichzeitig im Netz zu sein scheinen oder eine defekte Schaltzentrale bei MCI, AT&T, NTT oder BT. In den letzten Jahren hat sich die Bandbreiten-Situation recht schnell gebessert, aber dieser Fortschritt ist zu langsam vonstatten gegangen, als dass es die Nutzer hätten merken können. Die Ankunft von zehn Millionen Newbies hat die neuen Kapazitäten aufgefressen, wobei es in letzter Zeit Anzeichen einer Verringerung der Bandbreite gibt, was wiederum auf überhöhte Preise zurückzuführen ist; auf "fehlende Nachfrage", wie es die Wirtschaftspresse nennt.

Anstatt aber die Gegenwart zu untersuchen, zieht sich Leadbeater fix in die Vergangenheit zurück. "Das nächste Internet wird immer und überall erreichbar sein, und das nicht nur durch klobige Computer." Charles' Zukunft: Ein Bonanza der Zugangsmöglichkeiten: "Die Telekommunikationsverbindungen werden ebenso drahtlos funktionieren wie die Überlandleitungen - und sie werden breitbandig sein." Er verspricht nicht weniger als den Himmel auf Erden. "Das zweite Internet wird interaktiver sein; Spiele und Animationen überall." Kurz und bündig:

"Das zweite Internet - drahtlos, überall verfügbar, schnell, voll von qualitativ hochwertiger Unterhaltung, Schauspielkunst und Qualität (Tautologie im Original! D. Übers.) - wird unser Leben verändern; wie wir wählen, einkaufen, sparen, kommunizieren und lernen."

Offensichtlich hat Leadbeater nicht die "13 Dinge, die man über Breitband wissen sollte"2 gelesen. Aber er ist sich schon bewusst, dass er sein Techno-Utopia nicht über Nacht wird schaffen können. "Die Einzelteile für das nächste Internet werden nicht vor drei Jahren verfügbar sein." Das ist interessant! Drei Jahre sind eine Ewigkeit, wenn man sie in Internet-Zeit umrechnet. Besonders, wenn wir uns daran erinnern, mit welcher Geschwindigkeit der Technologieboom der wilden 90er abgelaufen ist. Die drei Jahre, während derer sich das Web etablierte (1994-1997) und die noch kürzere Zeit, in der die Dotcom-Manie von hundert auf null abgebremst hat (1998-2000). Aber lassen Sie uns einmal annehmen, dass Leadbeater hier recht hat. Es könnte in der Tat viele Jahre dauern, bis Breitband und Kabelmodem ausreichend viele Haushalte in den westlichen Ländern durchdrungen haben, um eine kritische Masse an potentiellen Kunden darzustellen. Entscheidend wichtige Zeit, die den Gewerbetreibenden im Internet und den meisten Nutzern nicht zur Verfügung steht. Wir können alarmierende Leitartikel auf Sites wie www.streamingmedia.com darüber lesen, wie die Bandbreitenstagnation das Geschäft mit den Netzradio- und Netzvideo-Diensten auszutrocknen droht. Nur diejenigen, die sich eine Langzeitstrategie zurechtgelegt haben, werden überleben.

Ähnlich sieht es bei den wild aus dem Boden sprießenden Peer-to-Peer-Netzwerken aus. Napster ist von Studenten an Universitäten aufgebaut worden, die Festplattenspeicherplatz und Internet-Verbindungen ihrer Institute benutzt haben. Eine übergroßer Anteil der 64 Millionen Napster-Benutzer verfügt nur über 56K-Modems und ist hauptsächlich daran interessiert, Dateien herunterzuladen und nicht daran, sie anderen zur Verfügung zu stellen, was hauptsächlich auf die technischen Beschränkungen zurückzuführen ist. Sie sind einfach nicht die ganze Zeit online. Echte Peer-to-Peer-Netzwerke werden erst dann erfolgreich sein, wenn eine kritische Masse von Nutzern eine ständige Verbindung zum Netz hat. Bis dahin wird das Verhältnis zwischen Uploads und Downloads unausgewogen bleiben.

Die Hohepriester des professionellen Optimismus werden auf die ewig rosige Zukunft verweisen und großartige Wachstumsziffern präsentieren, die beweisen sollen, dass sich die Bandbreitenkluft verkleinert. Eine ständig wachsende Zahl von Nutzern könnte oder könnte noch nicht grosse Bandbreiten zu ihrer Verfügung haben. Die Frage ist nur: Wann? Die Produzenten von Inhalten für Streaming-Dienste verlangen die Bandbreite JETZT. Nicht erst nächstes Jahr oder in einem Jahrzehnt. Die Telefongesellschaften auf der ganzen Welt zögern (absichtlich?), genügend Bandbreite zur Verfügung zu stellen, indem sie die Umstellung ihrer Netzwerke auf DSL-Geschwindigkeit immer weiter nach hinten hinausschieben . Investitionen in Hochleistungszugänge mit Flat Rate generieren nicht viel mehr Gewinne als die derzeit vorhandene Infrastruktur. Es ist eh besser, nur mit einigen wenigen zahlungskräftigen Geschäftskunden zu tun zu haben, als mit Millionen nerviger Privatkunden, die nur ein paar Pfennige für ihren Aufenthalt im Paradies der großen Bandbreite zu zahlen bereit sind.

Die Zukunft rächt sich an denen, die schon geistig in ihr angekommen sind. Es ist enttäuschend leer und einsam da draußen: Vielversprechend, aber ohne Kunden. Diejenigen, die keine Bandbreiten-Optimisten werden wollen, haben die Möglichkeit, ein paar Schritte zurückzugehen und sich wieder der produktiven Atmosphäre der Low-tech-Bastelei hinzugeben. Die Wahl zwischen der konzeptionellen Sackgasse aus breitbandig gestreamten 3-D-Bildern einerseits und rückständigem ASCII-Fundamentalismus lässt letztere Alternative zunehmend attraktiver erscheinen - und beunruhigender. Wohin sollen Kunstprojekte und gemeinschaftliche Netzwerke sich nun wenden? Im weltweit wartenden 56K-Mainstream steckenbleiben? Sich als Avantgarde gerieren, DSL voraussetzen und in einer elitären Welt weniger wohlbestallter Freaks enden? Einen Zeitsprung zurück machen und wieder hinter einem Unix-Prompt herumfrickeln? Sich dem WAP-Desaster anschließen? Auf die i-mode-Invasion aus Japan warten? Eure Wahl! Natürlich wollen wir alles auf einmal, aber das ist eine zu einfache Ausrede. In einer idealen Welt sollten Inhalte von Geräten aller Plattformen gelesen werden können. So wie es aussieht, bleiben viele Nutzer einfach bei ihren PCs und GSM-Telefonen und haben keine Lust, sich auf eine neue Technologie einzulassen, die einfach nicht ihre Versprechungen einlösen kann.

Die Streaming-Media-Industrie scheint sich bereits entschieden zu haben: Sie zieht sich aus dem Inhalte-für-Endverbraucher-Markt zurück und versucht ihr Glück auf dem lukrativen Nischenmarkt der Mediendienstleistungen für Geschäftsanwendungen .

Was wir hier sehen, ist die Wiederkehr eines ähnlichen Dilemmas vom Anfang der 90er Jahre, zwischen Offline-Multimedia-3D-Interaktiv-Fernsehen mit virtueller Realität und dem real existierenden Datenraum, dem Internet, der damals gerade dabei war, seinen entscheidenden aber ästhetisch enttäuschenden Quantensprung vom Gefrickel mit Unix-Kerneln hin zur Anwendung des HyperText Transfer Protocol (HTTP) zu machen.

Kooperative Nachrichtenfiltersites wie Slashdot und Plastic stehen vor demselben Dilemma. Abgesehen von den problematischen Verleger-Richtlinien und der ungelösten Frage, wem solche Datenbanken nun gehören, die in Gemeinschaftsarbeit entstanden sind, gibt es immer noch jene, die außerhalb der Oasen mit Netzzugang leben und denen es nicht möglich ist, an wichtigen Diskursen teilzunehmen, die zunehmend nur noch in Online-Webforen stattfinden. Der Meinungsaustausch im Internet bewegt sich langsam aber sicher von den Newsgroups und E-Mail-Listen weg und hin zu Websites, die nach permanenter Online-Präsenz verlangen. Damit wird der vorausgesetzte demokatische und ausgleichende Charakter von E-Mail unterminiert. Das Dilemma: Auf dem Niveau von E-Mail bleiben oder den Sprung ins Web-Forum wagen?

Es ist eine falsche aber nichtsdestotrotz reale Wahlmöglichkeit, die uns vorliegt. Das Netz ist dabei, sich in verschiedene, möglicherweise inhaltlich widersprüchliche Richtungen zu entwickeln. Das harmonische Zusammenwachsen von Web, Fernsehen, PC und mobilen Geräten ist noch nicht in Sicht. Anstatt auf Konvergenz stehen alle Zeichen auf digitale Divergenz, wobei schwierige Entscheidungen darüber getroffen werden müssen, welche Standards und Geräte verwendet werden sollen.

Übersetzung aus dem Englischen: Günter Hack