Das Bild ist nicht die Wirklichkeit

Die moderne Architektur ist das Ende eines langen Entwicklungsprozesses

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Am Beeindruckendsten argumentiert, wer mit einem furchterregenden Schlag auf das herkömmliche Wissen beginnt und dann niemals mehr die Initiative preisgibt. Ein Beispiel dafür ist der aggressive Clifford Stoll. Beruflich ist er ein Astronom, aus Berufung jedoch ein mentaler Boxer, ein Kreuzfahrer gegen den von ihm sogenannte Internetwahnsinn.

Unter dem Internetwahnsinn versteht er nicht die Dot.com-Blase von 1999. Er meint damit die umfassende Zerstörung des Lernens durch die Online-Ausbildung und die Computerpanik, also die Furcht, dass Studenten und Schüler in einer Art des Dritte-Welt-Wissens zurückbleiben würden, von dem es kein Entkommen mehr geben kann, wenn nicht die neueste Software vorhanden ist. Um dieses schreckliche Schicksal zu vermeiden, wird für das Geld, mit dem Lehrer bezahlt werden sollten, für Computer und Internetverbindungen, Software, Wartungsverträge und Expertengehälter ausgegeben. Ganze Bibliotheken und Labors werden in Computerräume verwandelt, chemische Experimente werden durch Simulationen ersetzt und gedankenreiche Darstellungen müssen glatten Montagen weichen, die aus dem Netz heruntergeladen werden.

In seinen Vorträgen malt Stoll ein Bild einer Ausbildungslandschaft, in der das Internet alle Curricula einsaugt und sowohl die Themen als auch die Lernmethoden diktiert. Als Folge stellen sich Themen wie das wichtig klingende "Lehren von Computerfertigkeiten" als nichts anderes heraus als das Umgehen mit Textverarbeitung, Emails und Internetzugang. Das sind "Fertigkeiten", die man in wenigen Tagen, wenn nicht Stunden lernt.

So weit ich weiß, hat Stoll seine Aufmerksamkeit noch nicht der Verwendung von Computern in der Architektur zugewandt, aber es ist leicht zu erraten, wie er dies tun würde. Aus seiner Sicht stellt die Einsicht, dass die Wirklichkeit sich grundsätzlich von der Simulation unterscheidet, das Fundament dar, so dass Bilder kein Ersatz für wirkliche Dinge sein können. Das ist nirgends deutlicher erkennbar als in der Welt der computererzeugten Bilder, die vom Architekten bewohnt wird. Wir alle haben die Gruppen von Architekturexperten gesehen, die digitalisierte Bilder studieren, die von keiner menschlichen Hand berührt wurden und deren finsterer Himmel von Suchscheinwerfern durchschnitten wird, die eine haarsträubende, aber völlig falsche Ähnlichkeit mit dem zur Diskussion stehenden Projekt besitzen. Sogar der die Bilder herstellende Subunternehmer selbst, also die Typen mit einer Tonne an neuester Computerausrüstung und einer maschinenartigen Fähigkeit, damit umzugehen, stöhnen auf, wenn der Planungsbeamte oder der Mann von der English Heritage weitere sechs teure Bilder aus vier verschiedenen Perspektiven verlangt, um die Verhandlungen zu erleichtern, die, auch wenn es offensichtlich um die Bewertung einer anderen Leiterplatte für eine funktionierende Stadt geht, als Parodie des Auswahlprozesses von Kunstwerken enden, welche in der Royal Academy Summer Exhibition ausgestellt werden.

In solchen endlosen Mixturen von Unsinn erhellt die Welt der Architektur den Stollschen Verlust an Authentizität viel deutlicher, als dies die Welt der Ausbildung jemals könnte. Aber es gibt noch weitere Erkenntnisse, die sich daraus gewinnen lassen.

Ein anderer Professor aus Kalifornien, Mario Carpo vom Guggenberg Research Institute, hat dasselbe Phänomen aus einem völlig unterschiedlichen Gesichtspunkt thematisiert. In seiner brillanten Studie "Architecture in the Age of Printing", in der er die Ursprünge der modernen Architektur auf Gutenberg und die Erfindung der beweglichen Lettern zurückführt, hebt er die Bedeutung des Unterschieds zwischen Verlegen und Drucken hervor, die nicht immer verbunden waren. Es gab Veröffentlichungen vor dem Druck, sagt er, und jetzt gibt es mit dem Computer Veröffentlichungen nach dem Druck. Die 500-jährige Allianz zwischen Druck und Veröffentlichung, die McLuhan als Gutenberg-Galaxie beschrieben hat, ist vorbei. Und mit ihr ist auch die Notwendigkeit für Architektur aus austauschbaren Teilen verschwunden, die von der Erfindung der beweglichen Letter geprägt sind.

Die Bedeutung dessen lässt sich erfassen, wenn man die Kunstgeschichte auf den Kopf stellt und die moderne Architektur an das Ende eines alten Entwicklungsprozesses platziert, anstatt an den Beginn eines neuen.