Das Dilemma einer politischen Fehlentwicklung
Der unaufhaltsame Niedergang der klassischen Volksparteien.
In Deutschland sterben nach und nach die klassischen Volksparteien. So wie im restlichen Europa auch. Ihr nachhaltiges Siechtum hat gleichermaßen die politischen Parteien der Mitte-Links wie der Mitte-Rechts erfasst. Seit etwa den 1960er Jahren herrschten in ganz Westeuropa die Volksparteien. Schon das 21. Jahrhundert wird nicht mehr das Zeitalter der Volksparteien sein. Doch was tritt an ihre Stelle?
Zurück bleibt auch bei den Politikern eine sprachlose Ratlosigkeit: Wie kommt man aus dem Elend wieder heraus? Am lächerlichsten führt das die zurzeit gerade zur Miniatur ihrer selbst geschrumpfte SPD vor, indem sie laut bekundet, dass sie mit unglaublich viel Spaß ihre fortgesetzte Schrumpfung begleitet. Mein Gott, ist das lustig! Andrea Nahles hat die Zauberformel gefunden: Wir machen uns einen Riesenspaß aus dem eigenen Untergang. Klingt wie der Tanz auf dem Vulkan.
Man kann ohne Bedenken von politischer Selbstauszehrung sprechen. Während die CDU/CSU in den 1950er und 1960er Jahren meist rund um 50 Prozent der Stimmen bekam und die SPD meist rund um 40 Prozent, sind beide "großen" Parteien in diesem Jahrhundert geschrumpft: Die CDU/CSU liegt meist bei etwas unter 30 und die SPD meist bei deutlich unter 20 Prozent. Zuletzt waren es sogar nur 14 Prozent. Die entwickelte Demokratie frisst auch ihre eigenen Parteien.
Und alle Hoffnungen sind längst zur Illusion geworden. Zuletzt wurden große Hoffnungen auf den Personalwechsel an der CDU-Spitze nach Angela Merkels Rücktritt vom Parteivorsitz gesetzt. Doch das ist falsch und könnte nur passieren, wenn der der Erfolg wesentlich an Personen hinge. Doch das tut er ja nicht. Es sind vielmehr die politischen Strukturen. Und an denen ändert sich absolut gar nichts. Also geht der Niedergang der Volksparteien unvermindert weiter. Er verläuft sehr robust, und zwar in fast allen demokratischen Ländern, und zeigt keine großen Schwankungen in Europa.
Am Anfang aller demokratischen Systeme der Neuzeit standen Gesinnungsparteien, denen es um grundlegende Weichenstellungen und fundamentale Orientierungen in Gesellschaft und Politik ging. Das waren Weltanschauungs- und Lebensgemeinschaften, denen ihre Anhänger meistens von ihrer Jugend an ein Leben lang bis zu ihrem Tod verbunden blieben.
Das galt auch noch für die frühen Jahre der Bundesrepublik. Damals ging es um Sozialismus oder Kapitalismus, soziale Marktwirtschaft oder Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, Westorientierung in der Außenpolitik oder Neutralität, Kalter Krieg oder Ostpolitik. Heute geht es um leichtere Themen: Hartz-IV-Sätze, Gesundheitssystem, Tierschutz, Schulgesetze.
Die Wähler sind gar nicht so blöd, wie die Volksparteien tun
Anhänger der SPD halten sich noch immer für ziemlich links, Anhänger der CDU noch immer für christlich-konservativ, Anhänger der CSU noch immer für christlich-sozial und Anhänger der FDP noch immer für liberale Vorkämpfer der Bürgerfreiheit. Die politische Realität ist über diese ideologischen Schützengräben, in die sich die Parteifunktionäre eingebuddelt haben, schon vor Jahrzehnten hinweggepanzert.
Denn in der Realität sind die politischen Parteien schon längst keine Gesinnungsgemeinschaften mehr, sondern Volksparteien, die versuchen, es jedermann recht zu machen und niemandem wehe zu tun. Sie streben danach, durch ein diffuses Erscheinungsbild und ein breit gefächertes Programmangebot die größtmögliche Zahl von Wählern anzusprechen - und das bis weit über die Grenze der totalen Profillosigkeit hinaus.
Der Begriff der Volkspartei läuft darauf hinaus, dass eine Partei das ganze Volk anspricht und nicht nur bestimmte Klassen, Konfessionen oder sozialmoralische Milieus. Programmatisch beliebig sind die Parteien dieses Typs nicht zwangsläufig, aber im Vergleich miteinander wirken sie schon sehr beliebig. Stets schwingt in dem Anspruch einer Volkspartei auch die Idee des Gemeinwohls mit.
Wenn Politiker im Wahlkampf stehen, befinden sie sich da in einer veritablen Klemme; denn sie können ihren potenziellen Wählern ja unmöglich sagen: "Im Grunde genommen wollen wir alle so ziemlich das Gleiche und vor allem wollen wir in schöne Positionen gewählt werden."
Also müssen sie mit aufgeblasener Rhetorik das Trennende betonen. Und wo selbst das nicht geht, müssen sie bis zum Überdruss behaupten, dass ihre eigene Partei alles stets viel besser kann als alle anderen: "Wir haben die besseren Konzepte", lautet so eine der abgewetztesten Spruchweisheiten von Wahlkämpfern gleich welcher Partei. Sie haben es allerdings noch nicht kapiert, dass die Wählerinnen und Wähler ihnen schon längst kein Wort mehr glauben und sich diesen Humbug auch nicht länger anhören möchten.
So herrscht eine parteipolitische Rhetorik, die jede ernsthafte Diskussion im Keim erstickt, weil die eine Seite stets ablehnen muss, was die andere fordert. Und so kommt es auch immer wieder dazu, dass Oppositionspolitiker mit größter Leidenschaft Forderungen formulieren, die sie noch kurze Zeit zuvor als Regierungspolitiker energisch abgelehnt haben - oder auch umgekehrt.
Es ist eine Situation wie beim Marketing für Produkte. Die sind in ihrer stofflich-technischen Qualität einander auch meist ziemlich ähnlich. Um die Einzigartigkeit des eigenen Marketingartikels hervorzuheben, kitzeln Marketingleute die "unique selling proposition (U.S.P.)" hervor, das einzigartige Verkaufsargument, das der Marke dann ihre Alleinstellung im Markt gewährleistet und sie für potenzielle Käufer attraktiv macht. Denn nur durch Mordsgetöse lassen sich Marken voneinander unterscheiden, die sich in der Produktqualität nicht mehr voneinander unterscheiden.
Dasselbe Ziel verfolgen die Politiker in ihren Wahlkämpfen, den großen Marketingkampagnen der politischen Parteien. Das führt dazu, dass Anhänger einer politischen Partei rhetorisch zu einer großen Gesinnungsgemeinschaft zusammengeschweißt werden und sich auch als solche verstehen, obwohl sie das schon längst nicht mehr sind.
Die Bevölkerung hat dieses abstoßende Spiel von Anfang an begriffen und auch richtig eingeordnet, als die Politiker ihnen noch einzureden versuchten, das sei "Politikverdrossenheit" und von allergrößten Übel, weil sie ja an den Grundfesten des demokratischen Gemeinwesens rüttelt. Doch daran gerüttelt haben von Anfang an die Politiker, die damit eine neue Dimension der Verlogenheit zur Methode der demokratischen Politik erhoben.
Die politischen Parteien habe keine Bindekraft mehr
Alle Parteien umwerben die politische Mitte und verzichten auf klare Programmatik. Und da die Mitte als unideologisch gilt, haben sich die Allerweltsparteien von den früheren weltanschaulichen Begründungen ihrer selbst getrennt - sie haben "Ballast abgeworfen", so nennen die das.
Die Beliebigkeit löst Loyalitäten und Machtgefüge auf. Die tragenden Klassen der Vergangenheit - Arbeiter, Bauern, Bürger - sind dahingeschmolzen und haben an ökonomischer, kultureller und erst recht politischer Bedeutung verloren. Sie haben sich gewissermaßen in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft aufgelöst.
Als soziokulturelle Einheiten fungieren Parteien schon längst nicht mehr, und ihre politische Bindekraft hat nachgelassen. Selbst unter den Mitgliedern der großen Parteien hat jeweils mehr als ein Drittel der Mitglieder schon mal eine andere Partei gewählt. Unter den Wählern haben so gut wie alle schon einmal oder mehrmals eine andere Partei gewählt.
Um in der Mitte Stimmen zu sammeln, haben die Volksparteien Spin-Doktoren engagiert, Marketingberater hinzugezogen, PR-Fachleute für ihre Wahlkämpfe engagiert, Tele- und Image-Experten für ihre Spitzenfiguren konsultiert. Sie verkaufen ihre Politiker wie Hundefutter, Waschpulver oder Klosettreiniger. Die Wahlkämpfe sind telegen und stromlinienförmig, die politischen Auseinandersetzungen sterbenslangweilig geworden.
Entstanden waren die politischen Parteien einst als Sammelbecken ideologischer Orientierung, als kraftvoller Ausdruck sozialer Lagen und gesellschaftlicher Lager. Das gab ihnen Fundament, Farbe, Idee, Ethos, Antrieb und auch Personal. Das alles gibt es nicht mehr. Der Parteienwettbewerb hat sich substanziell entpolitisiert. In ihnen ringen nicht mehr soziale Lebenswelten mit unterschiedlichen Entwürfen für eine gute Politik und Gesellschaft.
Parteien dieses Typs bezeichnete der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Otto Kirchheimer schon 1965 als "catchall parties"1, als Allerweltsparteien: "Die Umwandlung zu Allerweltsparteien ist ein Phänomen des Wettbewerbs. Eine Partei neigt dazu, sich dem erfolgreichen Stil ihres Kontrahenten anzupassen, weil sie hofft, am Tag der Wahl gut abzuschneiden, oder weil sie befürchtet, Wähler zu verlieren."2
Volksparteien ohne Volk
In Deutschland waren die 1960er und 1970er Jahre die hohe Zeit der Volksparteien. 1961 hatten erreichten die beiden großen Parteien zusammen 81,5 Prozent der Wählerstimmen, 1969 waren es 88,8 Prozent und 1972 sogar 91,2 Prozent. Das war der Höhepunkt. Seither verlieren haben beide große Parteien in Deutschland und auch in Westeuropa an Zuspruch verloren.
Die Folgen dieser Entwicklung des parteienpolitischen Spektrums sind im buchstäblichen Sinn fatal. Sie führen zur alsbaldigen Auszehrung der klassischen Volksparteien. Eben diese Auszehrung findet in diesen Jahren, Monaten und Wochen in den meisten repräsentativen Demokratien der westlichen Welt gerade statt.
Der Abschied von Kernüberzeugungen hat die Parteien keineswegs freier gemacht. Er hat ihnen eher die Orientierungssicherheit genommen, hat Loyalitäten reduziert, ihre Stabilität beeinträchtigt. Die überzeugungs- und lagerlosen Parteien sind abhängiger nach außen geworden: von den Einflüsterungen und Kurzatmigkeiten der Demoskopen, von den Konjunkturen der politischen Leitartikel, von den Launen einer hybriden Kundenmentalität. Denn Allerweltspolitik schleift die autonomen Maßstäbe und unzweideutigen Wertvorstellungen, die dafür nötig sind.
So sind Allerweltsparteien stets Agenten der obwaltenden Entwicklungsprozesse beziehungsweise der herrschenden Deutungen davon. Und so erscheinen ihnen gegenüber stets solche Parteien ungleich dynamischer und forscher, die ihre Anhänger mit scharfen und eindeutigen Parolen in Stimmung bringen, die den eigensinnigen Zerschnitt des gordischen Knotens zum Programm machen. Die Allerweltspartei und der neue Populismus bedingen einander.
Im Zuge dieser Dialektik verlieren oft gerade Allerweltsparteien ihren Charakter als Groß- und Volkspartei. Denn sie verlieren an innerer Kraft, die aber unverzichtbar ist, um nach außen anziehend zu wirken, um kluge und ehrgeizige Mitglieder zu gewinnen, auch um Kraft- und Führungsnaturen zu rekrutieren.
Den Volksparteien kommt das Volk abhanden. Die SPD hat in den letzten zehn Jahren mehr als 10 Millionen Wähler, die CDU in den letzten vier Jahren mehr als 4 Millionen und die CSU gut 400.000 Wähler verloren. Im Vergleich mit SPD und CDU war der Einbruch der CSU bei der letzten Bundestagswahl mit mehr als zehn Prozent der höchste. Zusammen kamen Union und SPD nur noch auf knapp über 50 Prozent der Stimmen.
Die Politiker, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die politischen Gesinnungsparteien zu gesichtslosen Allerweltsparteien umzubauen, haben nicht die höhere List der Vernunft bedacht, die im Wesen dieser Entfernung von der politischen Demokratie liegt: Die Wähler merken nach und nach, dass die Politik und die Politiker sich einen feuchten Kehricht um sie kümmern.
Um die Mehrheit der Wähler zu erreichen, unterhalten die Allerweltsparteien Verbindungen zu verschiedenen Interessenverbänden, die ihnen ein "Massenreservoir leicht zugänglicher Wähler bieten"3.
Diese Verbindung ist deshalb notwendig, weil die Wählerschaft in einem Allerweltsparteiensystem keine langfristigen Parteibindungen hat und angesichts der bis auf Details und Äußerlichkeiten gleichen Parteiprogramme politisch desillusioniert ist. Die Wähler und Wählerinnen haben "bei der Wahl keine Wahl" und verhalten sich apathisch. Somit wird auch das Wahlergebnis beliebig, die entscheidenden Faktoren "stehen oft in keiner Beziehung zur Leistung der Partei"4.
Allerweltsparteien bluten nach und nach aus
Der Heidelberger Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt beschreibt die Allerweltsparteien so: Sie bieten keinen Schutz für gesellschaftliche Positionen, sie fungieren nicht mehr als Anlegeplatz für eine intellektuelle Ambition; ihnen fehlt ein Bild von der Zukunft. Sie bluten normativ allmählich aus - und gefährden dadurch ihren eigenen Bestand. Den Parteimitgliedern mangelt es an ideellen Motivationen für ehrenamtliche Aktivitäten; den Parteianführern fehlen die Maßstäbe und Leitsterne für ihr politisches Handeln.
Doch die Chose ging total nach hinten los; denn kaum etwas hat die reale Mitte der Gesellschaft derart abgestoßen wie diese Entmündigungsstrategien der politischen Parteien. Die Milieuforschung hat geradezu bedrückende Belege dafür geliefert, wie sehr die Mitte der Bevölkerung inzwischen davon überzeugt ist, dass man längst in nachdemokratische Zustände driftet. Die Mitte bleibt dem demokratischen Willensbildungsprozess einfach fern.
Allerdings protestiert die Mitte dagegen nicht; sie organisiert keine Demonstrationen, formuliert keine Protestpamphlete. Die Mitte bleibt einfach weg, macht nicht mehr mit, wendet sich - ziemlich gleichgültig - von der Politik ab.
Und so sind politische Parteien kaum noch vitale Repräsentanzen von gelebten Lebenswelten. Sie bilden vielmehr ein eigenes Biotop, das den Mangel an Zuwendung von unten fast ganz durch die Alimentation von oben, durch den Staat, kompensieren lässt. Der Staat schafft die Demokratie durch Alimentation der politischen Parteien nach und nach ab.
Die Volksparteien sind staatlich alimentierte Schmarotzer
Fast alle politischen Parteien in westlichen Demokratien leben von öffentlichen Finanzmitteln. Regierungsbeteiligung, mittels derer man sich die Zuarbeit von Beamten, Referenten, Sekretariaten sichert, ist inzwischen essenziell für den Fortbestand der politischen Organisation in allen entwickelten Demokratien geworden. Ohne könnten sie keine zwei Tage in der Wildbahn der Freiheit überleben. Die politischen Parteien sind staatlich alimentierte Schmarotzer.
Allerdings haben die Parteien wieder einmal die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Sie waren und sind so einfältig zu glauben, man könnte das machen, ohne dass die Wähler davon etwas merken. Doch die waren sich schon bald darüber im Klaren, dass sie von den politischen Akteuren nur verschaukelt werden.
Noch bis in die 1960er Jahre hinein gingen begabte junge Leute in die politischen Parteien, später in die sozialen Bewegungen. Seit den 1980er Jahren ist Parteipolitik immer uninteressanter geworden. Viele junge Menschen interessieren sich noch für Politik, schrecken aber vor dem Gekungel in den Hinterzimmern der Politik zurück. Doch den politischen Parteien scheint das egal zu sein. Sie füllen auch dann noch die Parlamente, wenn nur wenige Bürger überhaupt noch zur Wahl gehen.
Übrigens auch dies ein weiteres Zeichen für die selbstzerstörerische Eigendynamik in entwickelten Demokratien. Im Streben, für möglichst viele Wähler attraktiv zu sein, mutieren die alten Weltanschauungsparteien von einst zu Allerweltsparteien und verlieren dadurch ihr klares Profil und mit ihm nach und nach auch ihre Wähler.
Schaut man die Entwicklungen in Europa an, so überrascht die Parallelität der Wählerverluste der zwei Gruppen von Volksparteien. Für Mitte-links begann er 1973 auf einem westeuropäischen Niveau von etwa 37 Prozent der Wählerstimmen und endete vorläufig 2015 bei knapp 23 Prozent.
Der dramatische Abstieg begann Ende der 1990er Jahre, als die wichtigsten sozialdemokratischen Parteien den "dritten Weg" erfanden, also vermeintlichen ideologischen Ballast abwarfen. Paradoxerweise mündete die ausgeprägte Catch-all-Strategie schon mittelfristig in starke Wählerverluste - ein wichtiger Hinweis darauf, dass sich für die Mitte-links-Parteien die Preisgabe ihres ideologischen Markenkerns längerfristig nicht in Gewinnen, sondern in Wählerverlusten ausdrückt.
Dramatisch ist der Verfall in den Niederlanden, wo die Partij van de Arbeid (PvdA) 2017 nur noch 5,7 Prozent der Stimmen erhielt und in der politischen Bedeutungslosigkeit versank. Bei den Mitte-rechts-Volksparteien setzte der Wählerverlust früher ein und verlief kontinuierlicher. Er begann zu Beginn der 1960er Jahre, als diese Parteien noch 47 Prozent der Wähler gewinnen konnten. Er endete vorläufig im Jahr 2015 auf einem Durchschnittsniveau unter 30 Prozent.
Mit Ausnahme der CSU führte die lange Drift der Mitte-rechts-Parteien aus dem rechtskonservativen politischen Raum in die Mitte des Parteienspektrums zu einer Beschädigung des konservativen Markenkerns. Sie öffnete einen rechten Raum, in dem sich seit gut 20 Jahren rechtspopulistische Parteien etablieren.
Die meisten Mitglieder suchen in und durch Parteien berufliches Fortkommen. Die Parteien bestimmen über die Besetzung zahlreicher, auch außerstaatlicher Führungspositionen. Radio- und Fernsehanstalten, Energieunternehmen, der öffentliche Geld- und Kreditsektor, ein Großteil der Verkehrsbetriebe, Behörden, Ämter und Ministerien sind auch Versorgungsunternehmen für Parteigänger und -mitglieder.5 Das trägt zusätzlich zur ideologischen Indifferenz bei. Versorgungsdenken und der daraus folgende politische Opportunismus relativieren politische Bekenntnisse und die Verantwortung für das Ganze.
Entkräftete und ermattete Allerweltsparteien sind am Ende dieses ganzen Auszehrungsprozesses Mitte eigentlich nur durch ihre semantischen Ansprüche, nicht durch ihre wirkliche Erdung und Repräsentanz in den elementaren Lebensbereichen der Gesellschaft. Infolgedessen reagiert die Gesellschaft auch zunehmend gleichgültig auf die übervorsichtigen, politisch entleerten Allerweltsparteien, ärgert sich einzig über die immensen Kosten, die dafür gleichwohl aufzuwenden sind, empört sich zuweilen über Verfilzung, Kartellisierung, gar Korruption.
Franz Walter
Das ist das Charakteristikum der allgemeinen politischen Konstellation: Um in politische Ämter zu gelangen, braucht man einen Trickreichtum, der einen Kandidaten für eine Reihe von Dingen qualifizieren mag: auf jeden Fall nicht zum Führen eines politischen Amts und schon gar nicht für das Tragen ernsthafter Verantwortung. Das erklärt auch, warum so viele Politiker in neuen Ämtern so lange und so hilflos herumhampeln. Sie müssen erst lernen, was sie angeblich schon längst so gut beherrschen.
Damit da kein Missverständnis entsteht: Ich behaupte nicht, dass alle Abgeordneten geschwätzige Luschen sind - obwohl es viele gibt, auf die auch das zutrifft. Es geht darum, dass die in der repräsentativen Demokratie geltenden Rekrutierungsmethoden so gut wie keine Qualifikation erfordern außer Zettelchen verteilen, Versammlungen leiten, Plakate kleben, Reden halten und ein bisschen herumintrigieren.
Natürlich können dennoch häufig Hochqualifizierte durch die Ochsentour rekrutiert werden. Aber nicht wegen der Rekrutierungsanforderungen, sondern trotzdem.
Selbst in absoluten Monarchien war das anders. Der Adel wurde ein Leben lang dafür ausgebildet, Führungsaufgaben und Verantwortung wahrzunehmen. Das System war darauf ausgerichtet, ausgebildete Verantwortungsträger zu generieren. Das ist dennoch oft genug auch völlig schief gegangen.
Entscheidend aber ist: Das System war darauf ausgerichtet. Das System der repräsentativen Demokratie und der Volksparteien ist es nicht, und das ist seine Crux, genauer gesagt: Das ist einer der vielen Gründe, warum die Kluft zwischen der Bevölkerung und ihren Politikern immer größer wird.