Das Ende des konservativen Safe Space

"Vorwürfe von Sprechverboten und Moralkeulen" Bild: Pixabay / CC0

Meinungsdiktatur! Gesinnungsterror! Regelmäßig beschwören Konservative den Untergang von Demokratie, Meinungsfreiheit oder gleich dem gesamten Abendland. Dabei geht nur eines unter: ihre Diskurshoheit

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Das Jahr war fast geschafft, da stand Deutschland doch noch einmal kurz vor dem Untergang. Von "grünlinker Bürgerkriegsgesinnung" schrieb ein Kommentator der Jungen Freiheit. "Bestmenschen" würden die "politische Gesinnung im Lande diktieren", echauffierte sich ein AfD-Vorsitzender. Kinder von Mitgliedern dessen Partei seien "die neuen Judenkinder", befand Ex-CDU-Rechtsaußen Erika Steinbach auf Twitter.

Was war da passiert? Hatten tatsächlich über Nacht Gestapo-ähnliche Antifa-Trupps die Macht übernommen, die Stammtische der Republik in Brand gesetzt und jeden, der kein "Refugees Welcome"-Logo vorweisen konnte, in die Gosse geprügelt?

Natürlich nicht. Der wahre Anlass für die Empörung war weitaus banaler: Eine Waldorfschule im Berliner Süden hatte einem Kind die Aufnahme verwehrt. Die Begründung: die Parteimitgliedschaft des Vaters. Damit hatten die Schulvertreter nicht nur gegen die eigenen Anti-Diskriminierungsbestimmungen verstoßen, sondern womöglich auch gegen das Berliner Schulgesetz.

Sicherlich ein Grund für Kritik, vielleicht sogar ein Fall fürs Schulamt. Aber war der Vergleich mit dem Stalinismus, wie ihn auch der Literatur- und Medienwissenschaftler Alexander Kissler im Deutschlandfunk heranzog, nicht etwas zu hoch gegriffen?

Man könnte über solche Fälle über das Ziel hinausschießender Empörung hinwegklicken, gehörte es nicht mittlerweile zum medialen Alltag, aus den nichtigsten Anlässen Weltuntergangszenarien zu generieren: Meinungsdiktatur! Kulturbarbarei! Gesinnungsterror! Tod der Debattenkultur! Moralische Erpressung! Sprachfaschismus! So hallt es beinahe täglich aus Feuilletons, Facebook-Feeds und Talkshows.

Als ein paar Studis aus Marzahn die Kunstfreiheit bedrohten

Die Anlässe sind so beliebig wie austauschbar: Mal ist es ein außer Kontrolle geratener Polizeieinsatz vor einer Flüchtlingsunterkunft, der das Ende des Rechtsstaats herbeiführt (FAZ). Mal wird aus ein paar linken Kunstkritikern, das "trojanische Pferd totalitärer Macht" (NZZ). Eine Kita-Broschüre erinnert da schon einmal schnell an Nazi-Kinderaufmärsche (Tichys Einblick). Und #metoo wird zum "feministischen Volkssturm", der alle Männer "ins Lager der moralisch Minderwertigen" einsperren wolle (Die Zeit).

Kein Fall echten oder vermeintlichen linken Fehlverhaltens dürfte im vergangenen Jahr energischere Weltuntergangprophezeiungen hervorgerufen haben als der Streit um ein Gedicht an einer Berliner Hochschule. Als Studentenvertreter der Alice-Salomon-FH ein Gedicht des Lyrikers Eugen Gomringer von ihrer Hauswand verbannen wollten, gab es sicherlich viele Gründe, die Entscheidung zu kritisieren: als überheblich, als Ausdruck fehlenden Respekts vor dem Künstler, vielleicht als Anflug studentischen Größenwahns.

Aber warum hatte man bei vielen Kommentaren zum Thema eher den Eindruck, es handle sich um einen UNESCO-Bericht aus Afghanistan oder Nigeria und nicht um einen Beitrag zu den Vorgängen an einer deutschen 3000-Leute-Uni? Von "Tugendterroristen" und "Schariapolizei", schrieb der Chefredakteur der "Welt am Sonntag" Peter Huth. Einen "erschreckenden Akt der Kulturbarbarei" machte Kulturstaatsministerin Monika Grütters aus.

Drohte aus Marzahn-Hellersdorf wirklich der "Generalangriff auf unsere Kultur und damit auf unsere Freiheit" (noch einmal Huth) oder sind es vielleicht doch eher die Köpfe mancher Kommentatoren, in denen der intellektuelle Ausnahmezustand ausgebrochen ist?

Konservative Hypochonder

Der Vorwurf der Überempfindlichkeit trifft für gewöhnlich Linke. Diese - so eine Kritik aus konservativer Ecke - versuchten mit Sprechverboten, Moralkeulen oder dem Überstreichen von Hauswänden, ihre Welt in einen linken "Safe Space" zu verwandeln. Daran ist nicht alles falsch. Aber vielleicht lässt sich damit auch gut das Phänomen rechter Empörung verstehen: So wie einige Linke jedes fehlenden Gender-Sternchen als Manifestation patriarchalischer Machtanspruches deuten, reicht manchem hypersensiblen Konservativen im Zweifel schon ein #metoo-Tweet, um in die in die nächste Weltuntergangvision getriggert zu werden.

Mit der Resilienz eines genderfluiden Youtube-Influencers durchforsten Politiker, Feuilletonisten und Kommentatoren die nichtigsten Abweichungen von der konservativen Norm: Zu wenig Schweinefleisch in der Kita? Zu viele Brüste im Kika? Steht da etwa Südseekönig? Und dort ein Halal-Zertifikat auf der Toblerone?

Dabei hat der konservative Hypochonder nicht mit allem unrecht: Es findet derzeit tatsächlich ein Zivilisationsbruch statt. Aber nicht die Welt von Meinungs-, Kunst- oder Debattenfreiheit bricht derzeit zusammen, sondern die konservative Diskurshoheit.

Wenn sie den kleinsten Widerspruch zum Anlass nehmen, Meinungsfreiheit einzufordern, dann sehnen sie sich in Wahrheit allzu oft nach ihrem konservativen Safe Space zurück. Zurück in eine Zeit, bevor all die Muslime, Schwulen, Flüchtlinge und Feminist*innen anfingen, mit eigenen Meinungen und Interessen zu nerven.

Die gute Nachricht aber ist: Über all das und sein Gegenteil darf weiter gemeckert werden. Wer will, kann auch im neuen Jahr den Untergang von Demokratie, Freiheit und Abendland prophezeien. Die einen mit Gender-Sternchen, die anderen mit drei Ausrufezeichen. Auch in Zukunft wird kein Mann gezwungen werden, einen anderen Mann zu heiraten.

Nur wer möchte, kann das neuerdings tun. Auch morgen wird man noch ohne schriftliche Zustimmung Sex haben und eine Bratwurst essen können - letzteres auch breitbeinig in der U-Bahn. Und ab und zu wird ein Grünen-Politiker, eine Gender-Professorin oder eine Privatschule mit einer fragwürdigen Entscheidung von sich reden machen, ohne dass dadurch stalinistischer Gesinnungsterror Einzug hält. Außer vielleicht im eigenen Kopf.