Das Erd-Dorado
Energie aus der Tiefe - Eine Übersicht anlässlich der Inbetriebnahme von Deutschlands erstem Erdwärmekraftwerk in Neustadt-Glewe
Im letzten Jahrhundert durchstreiften Geologen die Erde auf der Suche nach dem schwarzen Gold. Nun könnte sich dank der Techniken, die für die Ölindustrie entwickelt wurden, ein neues Feld für die Erdkundler auftun, wenn die Erdwärme das einlöst, was manche Forscher heute versprechen, nämlich: Genug erneuerbaren, umweltfreundlichen Strom, um die gesamte Grundlast der BRD zu decken, und dazu noch das 2,5-Fache an Wärme. Gibt es einen Haken?
Im Februar 2003 hat das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) die erste umfassende Studie zu den Möglichkeiten geothermischer Stromerzeugung in Deutschland veröffentlicht. Dort wurde das technische Gesamtpotenzial auf spektakuläre 300.000 TWh geschätzt. Zum Vergleich: Die jährliche Bruttostromerzeugung in der BRD beträgt rund 550 TWh.
Somit würde die Geothermie theoretisch alleine ausreichen, um den gesamten Strombedarf der Bundesbürger bei gleichbleibendem Konsum für bis zu 550 Jahre zu decken. Das müsste sie nicht, denn man hat nicht nur noch rund 2,5 Jahrhunderte Kohle, sondern auch endlos Wind- und Sonnenenergie. Doch die Geothermie kann etwas, was andere erneuerbare Stromquellen - ausgenommen Biomasse - nicht können: dem Konsum angepasst hoch und heruntergefahren werden. Besser noch: Geothermische Kraftwerke können die angeblich "verlässlichen" Kohle- und Atomkraftwerke in Sachen Versorgungssicherheit bei weitem übertrumpfen, denn während letztere lediglich eine Verfügbarkeit von rund 60-70% aufweisen, sind geothermische Kraftwerke bis zu 95% verfügbar.
Im Sinne der Nachhaltigkeit wäre es auch nicht ratsam, die ganzen 300.000 TWh sofort aus dem Erdinnern herausholen zu wollen, denn man weiß heute nicht genau, wie lange eine Gesteinsformation braucht, um nach einer vollständigen Abkühlung sich wieder aufzuwärmen. Das TAB geht von "einigen Jahrhunderten oder länger" aus und setzt das regenerative Potential der geothermische Stromerzeugung auf knapp 300 TWh/a. Das deckt sich rein zufällig mit der heutigen Grundlast für die BRD. Die Erdwärme könnte also damit ewig die Hälfte des heutigen Konsums der BRD decken.
Das Funktionsprinzip der Geothermie ist einfach
Man holt die Wärme aus dem Erdinnern, um herkömmliche Turbinen für die Stromerzeugung anzutreiben, oder man verwendet die Wärme für die Heizung direkt. Im Allgemeinen nimmt die Temperatur unter der Erde alle 100m um 3° C zu. Man muss also nur rund 3 km tief bohren, um die 100°-Marke zu überschreiten. Solche Bohrungen gelten heute in der Ölindustrie nicht als besonders tief. 7 km gelten in der Praxis als Bohrgrenze, aber tiefer als 9 km wurde bereits Anfang der 1990er im kontinentalen Tiefbohrprojekt Windischeschenbach gebohrt.
Stellenweise sind jedoch weit höhere Temperaturen bei einer Tiefe von 3 km vorhanden, und die 100°-Marke entsprechend näher erreichbar. In Deutschland ist die größte solche Fläche im Rheingraben (zwischen Basel und Frankfurt) zu finden. Dort werden bei einer Tiefe von 3 km bereits 130° erreicht. In einem 1987 begonnenen Projekt im elsässischen Soultz-sous-Forêts - d.h. auf der französischen Seite des Rheingrabens - wurde vor ein paar Jahren bei 3,9 km Tiefe bereits die 200°-Marke überschritten. Inzwischen ist die Bohrung auf mehr als 5 km abgeteuft.
Dort wird im trockenen Gestein ("hot dry rock" oder HDR) eine sogenannte "Bohrungsdublette" verwendet: In einer Bohrung wird ein Wärmeübertragungsmedium (z.B. Wasser) in die Erde injiziert und aus einer zweiten Bohrung wieder herausgefördert. Dabei fungiert das Gestein zwischen den Bohrungen als Wärmetauscher.
Auf der deutschen Seite des Rheins wird in einem ähnlichen Projekt in Bad Urach bei Stuttgart 4 km tief ins kristalline Gestein gebohrt. Ende 2002 wurde dann erstmals bestätigt, dass das Gestein als Wärmetauscher erfolgreich fungiert; das injizierte Wasser fließt wie geplant durch die Risse im Urgestein von der einen Bohrung zur anderen, wo es wieder hochgepumpt werden kann. Dies ist die größte Gefahr für Investoren, denn die Bohrungen sind sehr teuer, und keiner kann garantieren, dass die Verbindung durch die Risse zwischen den Bohrlöchern als Wärmetauscher tatsächlich klappen wird.
Laut TAB-Bericht soll das HDR-Verfahren rund 95% des Potenzials in Deutschland ausmachen. Eine andere Möglichkeit stellen Aquifere dar. Dieses Prinzip wurde bereits Anfang der 1980er an der Müritz (also zu DDR-Zeiten) erforscht - allerdings nicht zur Stromerzeugung, sondern um die Wärme aus dem heißen Wasser ins Fernwärmenetz zu speisen.
Neuerdings wird jedoch bei der Aquifer in Neustadt-Glewe (Mecklenburg- Vorpommern) ein anderes organisches Medium (Perfluorpentan) verwendet, das den Siedepunkt bereits bei knapp 30° erreicht, d.h. das heiße Wasser aus der Erde wird verwendet, um das Perfluorpentan in einem geschlossenen Kreislauf zum Kochen zu bringen, wodurch Strom erzeugt wird. Dieses Verfahren heißt "Organic Rankine Cycle" oder ORC. Damit ist die Anlage in Neustadt-Glewe, die gestern eingeweiht wurde, das erste geothermische Kraftwerk in Deutschland.
Solche Aquifere erweisen sich in einer anderen Hinsicht als sehr nützlich: Die überschüssige Wärme aus den Sommermonaten kann dort für den Winter gespeichert werden. Seit einigen Jahren wird dieses Verfahren in einer Wohnsiedlung namens HELIOS in Rostock-Brinckmanshöhe in der Praxis erprobt. Im Grunde genommen könnte man die Erdwärme genauso gut für die Kühlung verwenden, denn die Erde kurz unter der Oberfläche ist kühler als die Luft im Sommer. Auch dies wird bereits gemacht, zum Beispiel im neuen Bürogebäude der GWI AG bei Bonn. Dort sollen sich die Investitionen laut den Technikern von der EWS Erdwärme-Systeme GmbH bereits nach drei Jahren bezahlt machen. Die Heiz- und Kühlleistung beträgt rund 600 kW.
Erdwärme auf der ganzen Erde
Deutschland ist jedoch keineswegs Vorreiter dieser Entwicklungen - im Gegenteil. Das erste geothermische Kraftwerk wird seinen 100-jährigen Jubiläum nächstes Jahr in Lardello/Italien feiern. Doch wie bei vielen erneuerbaren Energien ging die Entwicklung der Geothermie Ende der 1970er Jahre in den USA richtig los, und heute gewinnen die USA immer noch am meisten Energie aus der Erdwärme, obwohl die dort installierte Leistung seit 1990 kaum gestiegen ist. Seitdem haben vor allem Mexiko und die Philippinen nachgezogen; in den Philippinen ist die Geothermie schon heute die größte Energiequelle vor Kohle und Öl. Zum Vergleich: Strom aus Erdwärme deckt weniger als 0,5% des Strombedarfs in den USA.
In Europa ist Island Pro-Kopf-Vorreiter, besonders für thermische Energie: Rund 86% der Wärme für isländische Haushalte werden durch die Erdwärme gewonnen. Auf Island hat man so viel Erdwärme, dass dort bereits Tomaten in geothermisch beheizten Gewächshäusern angebaut werden - der vulkanische Boden eignet sich außerdem hervorragend dazu.
Um die thermische Energie im großen Stil zu verwenden, braucht man jedoch Fernwärmenetze. Leider sind diese in Deutschland schlecht ausgebaut, so dass das thermische Potenzial - immerhin laut TAB-Bericht bis zum 2,5-Fachen des elektrischen Potenzials - kaum realisierbar ist. Da könnte sich Deutschland ein Stück vom Nachbarn abschneiden: In Österreich betreibt jede dritte Kommune ein Fernwärmenetz.
Was spricht denn dagegen?
Wie umweltfreundlich ist die Geothermie überhaupt? Zunächst muss man sagen, dass vieles noch nicht 100% sicher ist. So hatte man befürchtet, dass das Herumspielen an tektonisch labilen Stellen zu Erdbeben führen könnte, aber das scheint jetzt sehr unwahrscheinlich.
Im HRD-Verfahren, betone Dr. Dagmar Oertel vom TAB gegenüber Telepolis, werden bereits bestehende Risse benutzt, nicht etwa neue gemacht. Man erwartet auch nicht, dass die Erdeoberfläche absinken wird, wie dies mancherorts bei Ölbohrungen passiert, denn man entnimmt der Erde nichts; das Wärmeträgermedium wird lediglich zirkuliert. In ersten Experimenten an Geysiren dagegen wurde in den USA und Neuseeland z.B. das Chloridwasser einfach in die Kraftwerke umgeleitet und nicht wieder in die Erde injiziert. Resultat: Die Quellen trockneten aus. In Kalifornien ist man deshalb auf die Idee gekommen, im größten geothermischen Feld der Welt (750 MW) aufbereitetes Abwasser in die Geysire zu injizieren, damit diese nicht austrocknen.
Die Zirkulierung ist auch deshalb wichtig, weil das Wasser aus den unterirdischen Aquiferen hochgradig salzhaltig ist und sowieso nicht einfach in den nächsten Bach abgepumpt werden darf. Gleiches gilt für Mineralien und andere Substanzen, die eventuell mitzirkuliert, aber nicht freigesetzt werden. Selbst wenn Veränderungen 3-5 km tief vorkämen, dürfte die Biosphäre überhaupt nichts mitbekommen. Eine Gefahr könnte von der Abwärme ausgehen, denn die Effizienz der geothermischen Kraftwerke beträgt lediglich rund 10%, d.h. 90% der Wärme würde theoretisch in die Umwelt entweichen. Gerade hier würde es helfen, wenn die Abwärme in Fernwärmenetze eingespeist werden könnte.
Es spricht momentan also nur eines gegen die Geothermie: der Preis. Unter günstigen Bedingungen dürfte in Deutschland die Kilowattstunde Erdwärme für die Stromerzeugung (also ohne Nutzung der Abwärme in Fernwärmenetzen) weniger als 15 Cent kosten, aber selbst das wäre rund doppelt so viel im Schnitt wie die Windenergie und dreimal so viel wie Strom aus Kohlekraftwerken. Nur manchmal, wenn z.B. Aquifere bodennah sind oder Wärmepumpen für Kühlzwecke verwendet werden, ist die Erdwärme konkurrenzfähig. Der kWh-Preis für geothermische Wärme liegt im günstigsten Fall bei 3-5 Cent. Ein solches System wird unter dem Reichstagsgebäude verwendet, aber selbst George Bush hat eine solche Wärmepumpe als Klimaanlage auf seiner Ranch in Texas. Doch mittelfristig wird die Kohle teurer, und außerdem sind die enorm hohen externen Kosten für Kohle in den 5 Cent pro kWh nicht mit eingerechnet. Die externen Kosten der Geothermie sind dagegen vernachlässigbar.
Uns kann also ruhig die Kohle ausgehen - an Strom wird es uns nicht fehlen, und der wird sauber sein. Man muss nur bereit sein, etwas mehr dafür zu bezahlen - und den Traum von der billigen Atomenergie aufgeben. Doch darauf werden wir später zurückkommen müssen.
Craig Morris ist Fachübersetzer für Energie, neue Technologien und Finanzen bei www.petiteplanete.org.