Das Geheimnis des gerechten Staates
Die vom vorsokratischen Philosophen Thales erwünschte Polis wurde nicht verwirklicht
Einst wurde Thales, einer der Sieben Weisen, gefragt, welche die beste Stadt sei. Seine wirkungsvolle Antwort: "Jene, in der es weder zu reiche noch zu arme Menschen gibt."
Thales' Antwort verdient es, auch heute noch sorgfältig analysiert zu werden. Heute erst recht. In den Jahrtausenden, die uns vom alten und ehrwürdigen Thales trennen, wurde nicht nur sein Vorschlag nicht befolgt, es scheint sogar, der Westen habe sich erfolgreich darum bemüht, ihn in jeder Hinsicht zu missachten und politische Systeme zu erschaffen, die das Gegenteil dessen darstellen, was der Weise aus Milet erwünscht hatte.
Die Maßlosigkeit, die sich als der Horizont des ausschließlichen Sinns unserer Zeit darstellt, hat sich auch auf der politischen Ebene der Verwaltung der Polis durchgesetzt, die inzwischen zur Kosmopolis geworden ist: Sie hat sich als extreme Ungleichheit bewahrheitet, als maximaler Unterschied zwischen Arm und Reich, als unüberwindbarer Abgrund zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen.
Paradoxerweise ist dann das eingetreten, was ein anderer Weiser namens Johann Gottlieb Fichte und deutschen Ursprungs genau im Jahr 1800 sagen konnte, wobei ich nicht sagen kann, ob er sich dabei implizit auf die Weisheit seines alten griechischen Kollegen berief: Es ist jeder Vernunft zuwider, dass in einem Staat gleichzeitig die existieren, die im Überfluss leben, und diejenigen, denen das Notwendige fehlt.
Man nehme den Grenzfall des Unternehmers Marchionne, der, Ironie des Schicksals, einen Abschluss in eben jener Philosophie hat, von der Thales und Fichte Exponenten ersten Ranges sind: Marchionne verdient 30.000 Mal mehr als einer seiner Arbeiter. Dem ist nichts hinzuzufügen. Die von Thales erwünschte Polis wurde nicht verwirklicht. An ihrer Stelle haben wir nun eine spektrale Horrorfilm-Landschaft: die opulente Gesellschaft, in der manche am Straßenrand verhungern; das Beste, was uns die Wirklichkeit des fortgeschrittenen Kapitalismus und Zynismus bieten kann. "There is no alternative", so lautet das Mantra, das sie uns immer wieder vorleiern, damit niemand auf die Idee kommt, zu Thales und Fichte zurückzukehren. Oder es zumindest zu versuchen.
Fichte, der ebenfalls die Neuzeit bewohnte, hinterlässt eine bemerkenswerte Beschreibung dieser Realität, in der wir heute leben und der sich die Pathologien im Vergleich zu seinen Zeiten intensiviert haben: ein Zeitalter der vollständigen Sündhaftigkeit. Mehr noch als der Sternenhimmel steht über uns heute das moralische Gesetz.
Diego Fusaro, 1983 in Turin geboren, lehrt Philosophie an der Mailänder Universität. In seinen Büchern beschreibt er die Widersprüche des Systems und des Lebens des postmodernen Menschen. Fusaro betreibt die Website filosofico.net.Übersetzung Jenny Perelli.