"Das Geräusch von Maschinengewehren war unsere Musik"
Seite 2: "Die meisten deutschen Soldaten wollten keinen Krieg, aber Hitler hatte es so befohlen"
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Im Zweiten Weltkrieg hat die Rote Armee insgesamt 8,7 Millionen Soldaten verloren. Muchametgalijew ist Jahrgang 1925. Ganze Jahrgänge von jungen Männern der Sowjetunion - unmittelbar davor geboren - wurden fast vollständig vernichtet. Gott sei Dank verlangt der gegenwärtige Krieg im Donbass nicht Opfer von gleichem Ausmaß, obwohl es für diejenigen, die ihre Geliebten, ihre Gehfähigkeit oder ihre Häuser verloren haben, wenig Trost bieten wird. Ungefähr 10.000 Menschen sind ums Leben gekommen und ca. zwei Millionen sind auf der Flucht, seitdem die Kämpfe vor mehr als zwei Jahren anfingen. Mit den Chorstimmen im Hintergrund führt Ramasan Muchametgalijew seinen Bericht weiter.
"Ich wurde in ein Krankenhaus gebracht. Nachdem ich wieder gesund wurde, haben wir weiter in Weißrussland gekämpft. In Ostpreußen - außerhalb von Königsberg - schlug eine Granate neben mir ein. Danach könnte ich für mehrere Tage nichts hören. Der Luftdruck der Explosion zerstörte mein Ohr. Es ist nie wieder richtig zusammenwachsen, so dass ich nun ein Hörgerät benutzen muss", sagt er und zeigt mit seiner Hand hinter sein Ohrläppchen, wo ein kleiner Mechanismus sitzt.
Der Mandolinenspieler, der den Chor begleitet, zog mit seiner Truppeneinheit weiter durch Polen und Pommern: "Ich kämpfte sowohl in Danzig als auch in Warschau. Ich habe Abzeichen von allen Städten, zu deren Einnahme ich beigetragen habe, aber ich erinnere mich nicht mehr so gut an ihre Namen."
"Wir machten uns auf den Weg weiter nach Westen, nach Deutschland. Die letzte Schlacht, die ich kämpfte, war in Prenzlau. Als der Krieg Anfang Mai 1945 endete, befand ich mich 72 Kilometer außerhalb von Berlin, wenn ich mich richtig erinnere. Schon ein paar Tage danach sind wir nach Berlin gefahren, um uns die Stadt anzusehen."
An einen von seinen Feinden von damals erinnert sich Ramasan Muchametgalijew besonders gut. "Die Faschisten waren unterschiedlich. Wir hatten einen jungen Deutschen gefangen genommen. Er war ein ganz normaler Mensch, so wie ich. Die meisten deutschen Soldaten wollten keinen Krieg, aber Hitler hatte es so befohlen. Man wurde gezwungen, in den Krieg zu ziehen und man musste gehen."
Das Chormitglied Wladislaw Wolkov, der eifrig seine Fähigkeiten als Solist zu zeigen versucht, unterbricht: "Steh auf, du großes Land", singt er aus voller Brust.
Der sowjetische Marsch, der jetzt durch den Raum rollt, war sehr beliebt und flößte der Bevölkerung Mut am Anfang des Großen Vaterländischen Krieges ein, erklärt er. "Steh auf, du großes Land. Steh auf und kämpfe bis zum Tod. Gegen die dunklen faschistischen Kräfte. Gegen die verfluchte Hord,," geht das pompöse Musikstuck weiter.
In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs arbeitete der nun 85-jährige Wolkow als Schiffsjunge auf einem sowjetischen Kriegsschiff in der Ostsee.
Er greift nach ein paar Schwarz-Weiß-Fotos in seiner Tasche: Dort steht er nur halb erwachsen in einer Seemannuniform. Ein kommunistischer Stern mit Hammer und Sichel in der Mitte schmückt den charakteristischen Matrosenhut.
"Der Kriegsminister machte eine Verordnung, damit ganz junge Burschen wie ich auch auf den Schiffen dienen konnten. Es bestand ein großer Mangel an Männern in der letzten Kriegsjahren", sagt er.
Bevor Wolkow segeln ging, überlebte er im Gegensatz zu seiner Mutter die Blockade von Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg.
Urenkel bei den Separatisten
"Ich lebte mit meiner Mutter und Schwester in Leningrad. Die Deutschen hatten die Stadt eingekesselt. Das Brot war rationiert. 50 Gramm pro Tag bekamen wir. Es gab kein Brennholz, so dass die Einwohner mit ihren Möbeln heizten. Es gab Salz und Wasser, also tranken wir gekochtes Salzwasser. Die Leichen wurden auf Schlitten weggefahren und einfach im Schnee begraben. Meine Mutter starb - an Hunger und Kälte. Was hätte ich dagegen machen können? Ich war 11 damals."
Bevor sich Wolkow in Slowjansk ansiedelte, arbeitete der ehemalige Schiffsjunge 30 Jahre in den Minen von Jenakijewe - einer Stadt, die sich nun unter der Kontrolle der Separatisten befindet. Dort leben seine Tochter, sein Enkel und sein Urenkel. Nach 70 Jahren Frieden in der Ukraine holte der Krieg Wolkow wieder ein. Die Schlacht um Slowjansk im Frühjahr 2014 erlebte er hautnah.
"Häuser brannten ab. Bombensplitter flogen in unserem Hof herum. In unserer Wohnung gab es kein Wasser, kein Strom und kein Gas. Ich saß einfach drinnen und wartete, bis die Soldaten weiterzogen und fertig mit dem Töten waren", sagt er, als die Melodie hinter ihm heute zum letzten Mal ausklingt.
Die Gesangsstunde ist zu Ende. Ramasan Muchametgalijew steckt die Mandoline in ihr Etui und macht den Reißverschluss zu. Mehrere Chormitglieder verabreden sich, heute Abend auf ein Konzert zu gehen. Sie summen und plaudern auf ihrem Weg Richtung Bushaltestelle.