Das Geschäft mit der Aufmerksamkeit
Warum die "Währung" Aufmerksamkeit das Geld nicht ablösen wird, aber man von der Ausbeutung der Aufmerksamkeit sprechen muss
Aufmerksamkeit galt manchen als die neue Währung des Kommunikationszeitalters. Doch von der Zurückdrängung des Geldes, welche die Aufmerksamkeitsökonomen versprachen, ist nirgends etwas zu sehen. Was dafür rasant wächst, ist das Geschäft mit der Aufmerksamkeit – und die Aufmerksamkeitsausbeutung.
Viel Rummel um zwei Babys: Im Juli 2008 belagerten Paparazzi wochenlang eine Geburtsklinik in Nizza. Der Aufwand war allerdings vergeblich, denn die Klinik war gut abgeschirmt, und die Eltern Angelina Jolie und Brad Pitt verkauften die ersten Fotos mit ihren Neugeborenen exklusiv an einen Zeitungskonzern. Dabei sollen 14 Millionen US-$ geflossen sein. Gibt man in Googles Bilder-Suche das Stichwort "Baby" ein, erhält man etwa 200 Millionen Treffer, die meisten davon sind Fotos, die von stolzen Eltern kostenlos ins Internet gestellt wurden. Was ist es, was die Fotos der Promi-Zwillinge so viel wertvoller macht, als die der unbekannten Kinder? Kann man hier überhaupt von „Wert“ im üblichen Sinne sprechen?
Die rasche Antwort auf die erste Frage lautet: Es ist die Aufmerksamkeit, die von den berühmten Eltern auf die Kinder abfärbt. Millionen von Fans auf der ganzen Welt wollen wissen, wie die Sprösslinge ihrer Idole aussehen, und geben dafür gern ein paar Cent, Dollar oder Euro aus, die über die Verkaufsstrukturen von Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendern gesammelt und zu Geldströmen gebündelt werden, von denen nach vielfachen Ver- und Abzweigungen schließlich ein mehr oder weniger üppiges Rinnsal auch beim eigentlichen Ziel der Aufmerksamkeit ankommt, bzw. bei dessen Urhebern – im genannten Fall allerdings nicht den Urhebern der Fotos, sondern der Kinder. Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass Angelina und Brad das Geld an eine Stiftung gegeben haben, ihre eigene: die Jolie-Pitt Foundation. Auch das ist ein Teil des Geschäfts – des Geschäfts mit der Aufmerksamkeit.
Ende des letzten Jahrtausends begannen Wissenschaftler und Publizisten, "Aufmerksamkeit" nicht nur als psychisches Phänomen, sondern auch als ökonomische Kategorie zu entdecken. An erster Stelle sind hier Michael M. Goldhaber sowie der Architekturtheoretiker Georg Franck zu nennen, durch dessen Buch "Ökonomie der Aufmerksamkeit" die gleichnamige Theorie populär wurde. Quintessenz der „Aufmerksamkeitsökonomie“ in den Farben von Goldhaber und Franck ist eine neue Heilsverheißung: Die jetzige "Geldökonomie" werde alsbald in eine "Aufmerksamkeitsökonomie" übergehen, das Geld werde dabei von allein verschwinden und von der "neuen Währung Aufmerksamkeit“ komplett abgelöst, prophezeien sie. Schon jetzt sei Aufmerksamkeit quasi eine Parallelwährung, meint Goldhaber und begründet dies u.a. mit den zahlreichen Internet-Angeboten, die lediglich mit "Aufmerksamkeit" bezahlt werden müssen.
Fragen wir zuerst: Was versteckt sich eigentlich hinter dem reichlich schwammigen Begriff Aufmerksamkeit?
Open your mind
Allgemein ist Aufmerksamkeit die (nicht nur) menschliche Fähigkeit, den oder die Sinne "zu öffnen". Man unterscheidet eine ungerichtete Aufmerksamkeit (Wachsamkeit, engl. awareness) von der gerichteten Aufmerksamkeit (engl. attention), z.B. dem aufmerksamen Zuhören bei einer Rede oder einem Musikstück. Letztere Aufmerksamkeit öffnet sozusagen einen Empfangskanal, der auf einen speziellen Sender ausgerichtet ist, wobei andere Sender (Nebengeräusche, Zwischenrufe) unterdrückt werden. Diese Aufmerksamkeit ist wie die erste perzeptiv und rein passiv, aber nun zusätzlich auch selektiv. Erst, wenn auch der Sender seine Aufmerksamkeit auf den oder die Empfänger richtet, wird Kommunikation möglich – trivial im Zwiegespräch, aber auch, wenn Musiker oder Sportler sich von Applaus und Anfeuerungsrufen zu Höchstleistungen anspornen lassen. Der Medienethiker Günter Thomas nennt diese dritte Variante kommunikative Aufmerksamkeit (PDF).
Aufmerksamkeit kann auf diese Weise nicht nur zur Qualität einer Leistung beitragen, sondern eine Leistung sogar erst ermöglichen. Im Live-Auftritt des Popstars steckt die kommunikative Aufmerksamkeit tausender Fans. Aber so hoch muss man gar nicht greifen. Auch in der Kinderzeichnung und im Schülergedicht steckt Aufmerksamkeit, sie steckt in jedem individuell, also „für“ jemanden hergestellten Produkt (dieser Jemand kann auch der Produzent selbst sein). Aufmerksamkeit unterscheidet künstlerische und handwerkliche Arbeit von Fließbandtätigkeit: Letztere erfordert lediglich Konzentration, die sich auf Maschinen und Roboter übertragen lässt. Aufmerksamkeit ist immer eine geistige Anstrengung, doch keinesfalls ist, wie es bei Franck heißt, jede geistige Arbeit schon Aufmerksamkeitsarbeit: Viele geistige Arbeiten sind ebenfalls „Fließbandtätigkeiten“, erkennbar daran, dass sie Computern übertragen werden können.
Die Aufmerksamkeit, die sich in einem individuell hergestellten Produkt manifestiert, kann für weitere Menschen erlebbar werden. Vom Liebeslied, das für einen einzigen Menschen geschaffen wurde, fühlen sich auch andere angesprochen. Sie fühlen nicht nur Leid und Glück des Künstlers mit, sondern auch die Zuwendung, die er in sein Werk gelegt hat. Das kann die Zuwendung zu einer Person, aber auch zu einer Idee sein. Vielleicht ist diese „ansteckende“ Wirkung von Aufmerksamkeit ebenfalls eine Leistung der vor noch nicht so langer Zeit entdeckten Spiegelneuronen im Gehirn, die den Menschen (und wahrscheinlich auch höheren Primaten) ein Mitfühlen (Empathie) erst möglich machen.
Sowohl die perzeptive als auch die kommunikative Aufmerksamkeit werden situationsgebunden und relativ flüchtig erlebt. Sehr viel dauerhafter ist eine weitere Bedeutungsvariante des Begriffes: Aufmerksamkeit im Sinne von (Be-)Achtung und Wertschätzung, bei Franck akkumulierte Aufmerksamkeit genannt. In der Tat führt wiederholte situative Aufmerksamkeit zu einer Änderung der Wertschätzung einer Person oder Sache. Auch die Aufmerksamkeiten und die damit implizit verbundenen Bewertungen durch andere Personen können die eigene Wertschätzung einer Person oder Sache stark beeinflussen. Umgekehrt beeinflusst die verinnerlichte Wertschätzung die Aufmerksamkeit, die wir in einer konkreten Situation aufbringen. In einer erhitzten Diskussion findet derjenige die meiste Aufmerksamkeit, der die höchste Wertschätzung genießt.
Aufmerksamkeitsaustausch
Aufmerksamkeit im Sinne von Zuwendung ist lebenswichtig. Säuglinge verkümmern, wenn sie über Wärme und Nahrung hinaus nicht auch ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit erhalten. Später ist die kommunikative Aufmerksamkeit der "soziale Kitt", der Gruppen von Menschen verbindet. Geben und Empfangen von Aufmerksamkeit erschafft, verändert und stabilisiert soziale Netze und Rangordnungen. Die menschliche Sprache selbst ist, so meinen neuerdings Sprachforscher, nicht entstanden, um Informationen zu übertragen, sondern um sich dieser gegenseitigen Aufmerksamkeit (zuerst zwischen Mutter und Kind) auch über größere Entfernungen versichern zu können. Zudem garantiert ein hohes Maß an erfahrener Aufmerksamkeit meist auch einen hohen Fortpflanzungserfolg.
Monotheistische Religionen, die sich ab dem 7. Jh. v. Chr. in fast allen Teilen der Welt durchsetzten, unterscheiden sich vom Göttergewimmel der Vorzeit vor allem dadurch, dass der "Eine Gott" Aufmerksamkeit nicht nur empfängt, sondern auch ungeteilt – aber auch ohne die Möglichkeit des Entrinnens - zurück gibt. In einer Vielgötterwelt kann man sich noch einen wohl gesonnenen Gott aussuchen, ja sogar Fehden zwischen den Göttern für persönliche Vorteile nutzen. Diese Wahl hat man in den totalitären Reichen monotheistischer Religionen nicht mehr. "Gott sieht Dich!" ist der Ansporn und die Drohung, mit der seit Jahrtausenden Menschen zu Opfern, zu Gehorsam, zu Wohltätigkeiten, aber auch zu Verbrechen ge- und verführt werden. Die Götter der Antike haben dagegen zwar gerne Opfer und direktere Liebesgaben von den Menschen genommen, sich aber ansonsten nicht sehr für diese interessiert. Im Namen von Zeus oder Jupiter einen Krieg zu führen, das wäre den Griechen und Römern deshalb auch nie in den Sinn gekommen.
Im Vermögen, Aufmerksamkeit zu akkumulieren, werden selbst die monotheistischen Götter von heutigen Popstars manchmal noch übertroffen. Gewaltige "Sammler" von Aufmerksamkeit sind zudem weltweit bekannte Marken wie Coca-Cola und einige Sportbekleidungsmarken.
Egal, ob man den alten oder den neuen Göttern opfert (letzteren durch Kauf der Pop-CD oder des Turnschuhs) - in der Regel kann man darauf hoffen, etwas vom Einsatz in Form von Aufmerksamkeit zurück zu erlangen. Auf den Turnschuhträger färbt ein wenig vom Ansehen des Herstellers ab. Auch die Aufmerksamkeit Gottes ist für Gläubige nicht nur theoretische Gewissheit: Zwar sind Gotteserscheinungen selten, doch überwachen Heere von Stellvertretern mehr oder weniger streng das gottgefällige Denken und Handeln ihrer Schäfchen, und die untersten Chargen kümmern sich oft auch praktisch und hilfreich um Zuwendung und Beistand suchende Menschen. Ein Leben völlig ohne erhaltene Aufmerksamkeit dürfte für die meisten Menschen unerträglich sein – für Manche ist aber schon die Aufmerksamkeit und Anerkennung weniger Gleichgesinnter genug Rückhalt, um es mit dem Rest der Welt aufzunehmen. Auch so erklären sich Grufti-Moden und Sekten-Ideologien.
Zuwendung in Serie
Während Babys und Kleinkinder noch die direkte und ganzheitliche Zuwendung eines Menschen benötigen, um zu gedeihen, genügt mit zunehmenden Alter auch eine abstraktere Form der Zuwendung. Radio und Fernsehen erlauben es, Zuwendung fast beliebig zu vervielfältigen und dennoch jedem Empfänger das Gefühl zu geben, er würde direkt angesprochen. Bühne und Rednertribüne stehen für die sozusagen vorindustrielle Form solcher "Serienfertigung" von Zuwendung, die modernen Medien erlauben deren industrielle "Massenproduktion". Weil aber der Popstar mit seiner Musik objektiv gar nicht jeden einzelnen seiner Fans "meinen" kann, schließt Georg Franck, die von den Fans individuell oft sehr stark empfundene Aufmerksamkeit sei "illusionär". Doch das halte ich für einen irreführenden Begriff: Eine Kopie ist zwar kein Original, aber auch keine Illusion – auch die Torte aus der Tiefkühltruhe ist keine Illusion, nur weil sie nicht individuell, sondern in einer Großbäckerei gebacken wurde und vielleicht nicht so "wie bei Muttern" schmeckt.
Einer der ersten, der im 20. Jahrhundert die neuen elektronischen Möglichkeiten zur Aufmerksamkeitsvervielfältigung rigoros und sehr erfolgreich einsetzte, war Goebbels. Die Nazis forcierten bereits kurz nach der Machtergreifung die Verbreitung des – gleichgeschalteten - Rundfunks sowohl politisch als auch ökonomisch. Der im Volksmund "Goebbelsschnauze" genannte Volksempfänger, angeboten zu einem Einheitspreis von 76 Reichsmark, sollte es jedem Deutschen ermöglichen, die "Stimme des Führers" zu hören. Die Zahl der Rundfunkhörer verdreifachte sich in wenigen Jahren (von 4,2 Millionen 1932 auf 12,5 Millionen 1939). Seitdem gehört die Ausnutzung der Massenmedien zur Massenverführung zum Standard "totalitärer" Staaten – und zur kaum hinterfragten, selbstverständlichen Strategie privatwirtschaftlicher Werbung. Die Mediengesellschaft ist nicht nur, aber auch eine Manipulationsgesellschaft.
Jahrmarkt der Eitelkeiten
Wo Menschen zusammenkommen, kommt es zum Austausch von Aufmerksamkeit. Das ist so selbstverständlich, dass die „kleine Aufmerksamkeit“ als Synonym für ein billiges, aber individuell ausgesuchtes Geschenk sprichwörtlich geworden ist. Private und religiöse Feiern, Partys, Ausstellungseröffnungen, die Pausen von Theater- und Konzertaufführungen sind regelrechte Märkte für den Aufmerksamkeitsaustausch, seine Formen reichen von der Laudatio über das Kompliment und den Small Talk bis zum heimlichen Blick. Natürlich ist die Aufmerksamkeit einiger Personen begehrter als die anderer, sie steht „hoch im Kurs“, – eine Metapher, die schon einiges über das Wesen der Aufmerksamkeit aussagt. Bei allen diesen Austauschvorgängen wird mit „Naturalien“ gehandelt: Aufmerksamkeit gegen Aufmerksamkeit. Geld spielt nur am Rande eine Rolle, denn man muss zumindest die Rahmenbedingungen erkaufen, sei es die Eintrittskarte oder die passende Kleidung (quasi die Standmiete auf dem Aufmerksamkeitsmarktplatz).
Mit dem World Wide Web entstand vor etwa 15 Jahren ein Aufmerksamkeitsmarktplatz, der sich über die ganze Welt erstreckt und zu dem jeder Zugang hat – zumindest theoretisch. Social Networks verbinden Menschen, die sich im real life niemals begegnen würden. Aufmerksamkeit lässt sich hier auch exakt messen: in Webhits, Klickraten und Downloadzahlen. Und es ist offensichtlich, dass Geld in weiten Teilen des Internets kaum eine Rolle spielt. Wer selbst Inhalte bereitstellt, erntet damit erst einmal nur Aufmerksamkeit. Die Umsonst-Kultur des Internets scheint, zum großen Schrecken der konventionellen Medienkonzerne, die herkömmliche Geldwirtschaft zu untergraben. Die Konzerne reagieren wie die Saurier auf den Umweltwandel: Sie wollen die alte, heile Welt zurück. Erst wenige beginnen zu begreifen, dass im Internet eine andere Ökonomie herrscht als im Supermarkt.
Ein ökonomisches Paradoxon
Doch das ist nicht die zitierte „Aufmerksamkeitsökonomie“, deren griffige Kernthese lautet, die „Währung“ Aufmerksamkeit werde das Geld in absehbarer Zeit ablösen. Qualität und damit Wert der Aufmerksamkeit hängen in hohem Maße von der Person oder Institution ab, welche sie vergibt. Eine "falsche" Aufmerksamkeit kann nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich sein. Keine Währung darf solchen unkalkulierbaren Einflüssen unterliegen. Reale Geldwährungen hängen zwar in geringem Maß auch vom Ansehen der herausgebenden Staaten ab, generell aber gilt, was schon die alten Römer wussten: Pecunia non olet (Geld stinkt nicht). Aufmerksamkeit lässt sich - ganz im Gegensatz zum Geld - nicht vom Geruch ihrer Herkunft reinwaschen. Diese simple Tatsache entlarvt die Behauptung, Aufmerksamkeit könne die Rolle einer Währung übernehmen, als Humbug.
Andererseits ist nicht zu übersehen, dass der Aufmerksamkeit im Internet (und in der modernen Medienwelt überhaupt) nicht nur eine wachsende, sondern irgendwie auch eine ganz besondere Rolle zukommt. Aufmerksamkeit ist ein begehrtes Gut. Die Aufmerksamkeitsökonomen verweisen zu recht darauf, dass es insbesondere für Wissenschaftler, Künstler und Geistesarbeiter oft viel wichtiger ist, mit ihren Leistungen "Aufmerksamkeit" zu erringen, als dafür (zusätzliches) Geld zu erhalten. Es ist richtig, dass es im Internet ein wachsendes Angebot an kostenlosen Informationen und Produkten gibt, für die man noch vor Jahren viel Geld hätte zahlen müssen (z.B. Wikipedia, freie Software). Und natürlich findet im Internet – wie im realen Leben - auch ein direkter Austausch von Aufmerksamkeit statt. Ob dieser Austausch wächst, sei dahingestellt.
Was nachweisbar wächst (sichtbar am Werbeumsatz ), ist der Austausch von Aufmerksamkeit gegen Geld. Wenn von 10 000 Besuchern einer Webseite hundert auf einen Werbebanner klicken und einer davon kauft, lässt sich ein „Wert“ des Banners aus drei Zahlen eindeutig errechnen: Dem Verkaufsgewinn, dem genannten statistischen Durchschnitt sowie der Beliebtheit der Webseite, gemessen als Zugriffszahl. Die Aufmerksamkeit, welche die Webseite auf sich zieht, färbt sozusagen auf den Werbebanner ab. Von „Abfärben“ war aber schon eingangs die Rede – bei den durch keinerlei eigene Leistung, lediglich durch ihre berühmten Eltern berühmten Zwillingen. Hier schließt sich der Kreis und wir sind wieder bei der Eingangsfrage, jetzt etwas allgemeiner formuliert: Welchen Wert hat Aufmerksamkeit?
Auf den ersten Blick scheint es, als hinge der ökonomische Wert der Aufmerksamkeit, welche eine Webseite (zum Beispiel die, die Sie gerade anschauen) auf sich zieht, nur von den erzielbaren Werbeeinnahmen ab – und so werden Websites ja auch taxiert und gehandelt. Jeder Klick mehr, aber auch jedes zusätzlich schaltbare Werbebanner erhöhen den Wert. Doch damit geraten wir in eine Zwickmühle: Die Werbung ist ja gerade nicht Ziel der Aufmerksamkeit, sondern stellt im Gegenteil eine Störung dar. Je mehr und auffälligere Werbebanner, desto unattraktiver wird die Webseite selbst. Man stelle sich einen Supermarkt vor, der desto weniger frequentiert wird, je mehr Waren er anbietet. Ein Paradoxon, dass sich sofort auflöst, wenn man das Internet nicht mit einem Supermarkt, sondern mit einem Fischteich vergleicht: Es werden Köder ausgeworfen, die Haken haben. Sozusagen kostenloses Futter für alle, um bei einigen fette Beute zu machen.
Aber bevor ich näher auf diese Aufmerksamkeitsausbeutung eingehe, zurück zu der Frage, welchen Wert Aufmerksamkeit hat. Offenbar lässt sie sich gar nicht beantworten – ebenso wenig wie die Frage, welchen Wert eine Aktie hat.
Spekulativer Wert
Für die Aktie gilt: Ihr Wert ist immer zugleich konkret und spekulativ, hängt vom Unternehmen, von der allgemeinen Wirtschafts- und Marktlage, von Zukunftsaussichten und weiteren schwer wägbaren Bedingungen ab. Ähnliches gilt für die Aufmerksamkeit, die einer Person oder Sache entgegengebracht wird. Auch sie hängt sowohl von Erfahrungen wie von Erwartungen ab, sie hat einen Tageskurs, der sich innerhalb von Minuten dramatisch verändern kann. Sprechen wir also von Aufmerksamkeitsaktien, in denen sich ideelle Werte wie Anziehungskraft, Wertschätzung und Vertrauen ausdrücken. Diese Art von Aufmerksamkeit (bei Franck akkumulierte Aufmerksamkeit genannt) darf nicht mit Bekanntheit verwechselt werden. Die Pleite machte die Bank Lehman Brothers am 15. September 2008 quasi über Nacht weltbekannt, die Wertschätzung sank zum gleichen Zeitpunkt jedoch rapide. Mit den Aktien der Bank stürzten auch die Aufmerksamkeitsaktien ins Bodenlose.
Wer einer Person oder Sache Aufmerksamkeit „schenkt“, erwirbt damit eine unsichtbare Aufmerksamkeitsaktie – und zahlt dafür etwas Lebenszeit und Zuwendungsarbeit. Die Aufmerksamkeitsaktie kann sich auszahlen (für Menschen, die daran glauben, vielleicht erst in einem anderen Leben), oder auch nicht. Solche „Pleiten“ unserer privaten Aufmerksamkeitsobjekte vergisst man, oder man lässt sich scheiden. Wer einen Markenturnschuh kauft, erwirbt damit ebenfalls eine Aufmerksamkeitsaktie, deren stofflicher Ausdruck sich aber nun in Form des Logos mehr oder weniger auffällig am Produkt befindet. Bezahlt wird die Aufmerksamkeitsaktie in diesem Fall mit Geld. Auch eine "Dividende" lässt sich aus dem Tragen solch eines Markenartikels ziehen, nämlich die Aufmerksamkeit anderer Menschen. Noch viel stärker wird diese Analogie zur Aktie an Statussymbolen wie einer Rolex-Uhr oder einem Luxusauto deutlich, die nicht wegen ihres primären Gebrauchswerts (Zeitanzeige, Mobilität) gekauft werden, sondern wegen des Ansehens, das vom Ansehen der Marke auf denjenigen abfärbt, der sich diese Marke leisten kann. Er wird sozusagen Teilhaber der Marke, ganz ähnlich wie ein Besitzer von realen Aktien Mitbesitzer der realen Firma wird.
Die massenhafte Aufmerksamkeit, die einem Star oder einer Produktmarke zufließt, ist quasi deren "Börsenwert" an der "Aufmerksamkeitsbörse". Die oben so genannten Marktplätze für Aufmerksamkeit gleichen also eher Börsen, wo der Kurs in jedem Moment neu ausgehandelt wird. Der Börsenwert eines Stars hängt ebenso wie der Börsenwert eines Unternehmens von der Nachfrage ab, hier nach den realen Aktien, dort nach den Aufmerksamkeitsaktien. Reale Aktien steigen oder fallen (auch) mit dem Ansehen einer Firma, die virtuellen Aufmerksamkeitsaktien repräsentieren dieses Ansehen direkt.
Die "Herausgabe" von Aufmerksamkeitsaktien hat gegenüber der von realen Aktien viele Vorteile. Während Letztere meist nur einmalig und in begrenzter Stückzahl emittiert werden können und damit auch nur einmalig Geld bringen, ist die Anzahl von Aufmerksamkeitsaktien theoretisch unbegrenzt. Aus jedem Produktverkauf lässt sich ein gewisser Anteil an Einnahmen realisieren, der nur auf den Markennamen entfällt, also zieht der Markenbesitzer aus einer endlichen Leistung (nämlich der, die Marke zu kreieren und auf dem Markt durchzusetzen) einen theoretisch unerschöpflichen Gewinn – zumindest solange unerschöpflich, wie sich Abnehmer für seine Produkte finden und die Marke selbst sich nicht "erschöpft". Eine Marke unterliegt, da sie "reine Information" ist, zwar keinem physischen, jedoch einem moralischen Verschleiß. Eine Kleidermarke kann unmodisch werden, eine Technologie über Nacht von einer besseren in den Schatten gestellt und damit entwertet werden. Deshalb bedürfen Marken und andere Informationsprodukte in der Regel einer Pflege, um "up to date" zu bleiben. Die weltweit wertvollsten Marken hießen 2008 (nach einer Studie der Markforschungsgruppe Millward Brown) „Google“ mit 86,1 Milliarden US-$, gefolgt von "General Electric" (71,4 Mrd.) und "Microsoft" (70,9 Mrd.) "Coca-Cola" landete auf Platz vier (58,2 Mrd.)
The winner takes it all
Aufmerksamkeit ist ein wunderbares Gut, und vielen Menschen, denen die Aufmerksamkeit anderer zufällt oder die sie sich erarbeiten, ist sie Lohn und Ansporn zugleich. Doch Aufmerksamkeit ist auch ein Kapital, das Rendite abwirft und deshalb Besitzgier entfacht und Investoren anlockt. Solange Marken, Erfindungen und Fähigkeiten einzigartig sind (oder sich zumindest dieser Mythos aufrechterhalten lässt), sind sie sprudelnde Geldquellen für deren Besitzer. Informationsrenten nennt der philippinische Autor Roberto Verzola solche Gewinne, die auf dem Monopol an herausragenden Leistungen beruhen, in Anlehnung an die von Marx analysierte Grundrente. Letztere ist das Einkommen, dass die Eigentümer begrenzter Ressourcen wie Ackerboden und Bodenschätzen allein aus deren Besitz ziehen, indem sie z.B. Land verpachten oder dessen Nutzung erlauben. Auf analoge Weise ziehen die Eigentümer exklusiver Fähigkeiten (Sportler, Musiker, Schauspieler etc.) und Informationen (Rezepten, Patenten, Algorithmen, Markennamen) aus ihrer Monopolstellung teilweise traumhafte Gewinne. Diese neuen Rentiers der Informationsgesellschaft heißen bei Verzola Cyberlords (aus Cyberspace und Landlords). Sie wollen uns weismachen (manche glauben es sicher selbst), ihre Einkünfte mit ihren Leistungen ehrlich verdient zu haben. Doch das ist eine Mär, denn mit Leistungsunterschieden lassen sich die exorbitanten Einkommensunterschiede nicht begründen. Bei vielen olympischen Wettkämpfen messen sich die reinen Leistungsunterschiede zwischen den Erstplazierten in Hundertstelsekunden, und doch kassiert nur der Sieger die lukrativen Werbeverträge. Im Showbusiness bleiben hunderte mindestens ebenso fähige Schauspieler, Sänger etc. ewig im Schatten weniger Weltstars. Im Konkurrenzkampf siegt oft noch nicht einmal das bessere und leistungsfähigere Produkt, wie sich am Beispiel Microsoft/Apple zumindest über fast zwei Jahrzehnte zeigen lässt.
Von der Zurückdrängung des Geldes, welche die Aufmerksamkeitsökonomen versprachen, ist nirgends etwas zu sehen. Genau das Gegenteil geschieht: Auch die eigentlich für Aufmerksamkeitsökonomie prädestinierten Marktplätze, Kunst und Kultur, fallen mehr und mehr in die Hände von "Kaufleuten für Glücksgefühle (PDF)", die noch stolz darauf sind, "Geldmacherei und Emotionen" zusammenzubringen. Weltweit erleben wir einen erbitterten Kampf um die Ausbeutungsrechte an Informationen, also letztlich um Informationsrenten. In Europa steht gerade die Verlängerung der Schutzfrist für Musikwerke von 50 auf 95 Jahre auf der Tagesordnung, was, ebenso wie die vor allem unter der Bush-Regierung forcierten Bemühungen zur Verschärfung und Ausdehnung der geistigen Eigentumsrechte (Intellectual Property Rights, IPR) den Verwertungsinteressen von großen Konzernen dient. Die Urheber gehen weitgehend leer aus. Von den massiven Einsparungen an Herstellungs- und Vertriebskosten, welche der wachsende Internetverkauf von Songs erlaubt (2007 wurden 1,7 Milliarden Titel per Internet verkauft – immerhin 15% der weltweiten Musikverkäufe), profitieren sie kaum. Vom Downloadpreis, der durchschnittlich über einem Dollar liegt, bekommen die Künstler in den USA gegenwärtig 9,1 Cent. Eine von der Autorenvereinigung NMPA geforderte Erhöhung auf 15 Cent hat das Copyright Royalty Board (CRB) in Washington im Oktober 2008 abgelehnt, angeblich auf Betreiben Apples. Die Digital Media Association (DiMA) hatte sogar eine Absenkung auf 4,5 Cents gefordert.
Interessierte Firmen versuchen seit langem und zunehmend erfolgreich, ihr „geistiges Eigentum“ – oder das, was sie dafür halten – durch rigoros ausgedehnte Schutzbestimmungen der Allgemeinheit zu entziehen. Software, Gene, natürliche Wirkstoffe und komplette lebende Organismen werden patentiert, hochgezüchteten oder gentechnisch manipulierten Ackerpflanzen wird künstlich die Fruchtbarkeit entzogen. Was hier langfristig droht, ist nichts weniger als die Privatisierung der gesamten Schöpfung, um es mit einem kirchlichen Terminus auszudrücken - und dies müsste eigentlich den massiven Widerstand aller Kirchen herausfordern. Zwar regt sich hier und da Widerstand gegen die Verschärfung von Urheber- und Patentrecht und die Privatisierung geistiger Güter, organisierte Interessenvertretungen ähnlich den Verbraucherschutzverbänden gibt es jedoch bisher nur in Ansätzen.
Die Aufmerksamkeitsausbeutung
Was wir gegenwärtig erleben, ist nicht die Zurückdrängung oder gar Abschaffung der Geldökonomie, sondern - deren Verschleierung. Die Bemühungen, Internetangebote direkt kostenpflichtig zu machen, sind fast durchweg gescheitert. Kostenlos sind sie dennoch nicht: Sie werden über Werbung finanziert. Google ist über diesen Umweg noch rascher zum mächtigen Softwareimperium aufgestiegen, als jede Firma, die ihre Produkte auf klassischem Wege verkauft. Und hier kommt nun doch wieder die Aufmerksamkeit ins Spiel, nämlich in Form ihrer Ausbeutung. Kaum eine Internetseite ohne Bannerwerbung, kaum eine E-Mail ohne angehängte Werbung, die beim Betrachter ein klein wenig Aufmerksamkeit abzieht, möglicherweise sogar dann, wenn man sie nur unterschwellig wahrnimmt.
Doch Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource. Solche Angebote sind deshalb so wenig kostenlos wie das private sogenannte Free TV, das sich komplett aus Webeeinnahmen finanziert. Wer Privatsender konsumiert oder sich für den vermeintlich kostenlosen Web-Zugang oder E-Mail-Transport selbst zum Werbeträger machen lässt, wird Teil eines großen Umverteilungsnetzwerks, das auf Aufmerksamkeitsausbeutung beruht. Irgendwo in diesem Netzwerk wird die angeeignete Aufmerksamkeit ganz profan in Geld umgesetzt, nämlich, wenn jemand eines der beworbenen Produkte kauft. Es ist dieser letzte, notwendige Schritt, mit dem sich Aufmerksamkeit letztlich kapitalisiert und damit alle vorhergehenden Aufwendungen bezahlt machen.
Die privaten Fernsehsender in Deutschland verkaufen die so angeeignete Aufmerksamkeit jährlich für mehr als 8 Milliarden Euro an die Werbeindustrie. Jeder Zuschauer (aber auch jeder andere, der die beworbenen Produkte kauft) zahlt dies mit einer Werbesteuer – ein bereits 1993 von dem Politikwissenschaftler Hans J. Kleinsteuber geprägter Begriff. Die Werbesteuer steckt faktisch in jedem Produkt, in besonderer Höhe aber in solchen, für die massiv medial geworben wird. Über diesen Umweg zahlt jeder deutsche Haushalt, der zur Zielgruppe der Werbespots zählt, allein für das „kostenlose“ Privatfernsehen durchschnittlich 600 Euro im Jahr – fast das Dreifache der GEZ-Gebühr. Ob das Fernsehprogramm (im Privatsender-Jargon „Werbeumfeld“ genannt) diesen Preis rechtfertigt, sei mal dahingestellt. Aber man muss ja für diesen nicht eben kleinen Betrag auch noch die dauernde Unterbrechung und massive Störung dessen ertragen, auf das man seine Aufmerksamkeit eigentlich richtet. Sich so etwas anzutun, grenzt an Masochismus – denn freiwillig für etwas zu bezahlen, unter dem man leidet, ist Masochismus. Freiwillig ist die Werbesteuer allerdings nicht. Sie ist eine Zwangsabgabe, der man sich viel weniger entziehen kann als jeder staatlichen Steuer oder Gebühr (der einzige Ausweg wäre Konsumverzicht). Deshalb liegt das Problem wohl eher darin, dass wir Medienkonsumenten uns schicksalsergeben in ein System fügen, in dem wir für die eigene Ausbeutung auch noch bezahlen müssen. Um im Bild vom Fischteich zu bleiben: Noch nicht einmal die Köder sind für die Fische kostenlos - sie werden aus der Beute gemacht. Erich Kästner schrieb 1932: „Was auch immer geschieht, nie dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken.” Aber seitdem ist viel geschehen, und die Verschleierung der herrschenden ökonomischen Verhältnisse war so erfolgreich, dass heute selbst seriöse und kritische Medien die Mär vom „kostenlosen“ Privatfernsehen ganz selbstverständlich kolportieren.
Bei der Werbesteuer handelt es sich, gemessen am Produktpreis, keineswegs um Peanuts: Bei Textilien und Sportschuhen, die in Billiglohnländern gefertigt werden, kann die Werbesteuer bis zu 80% des Preises betragen – während die Näherinnen teilweise noch nicht einmal 1% davon erhalten. Zu den Werbekosten bei den Privatsendern kommt die Werbung in Printmedien, im öffentlichen Raum und im Internet. Die Online-Werbung zeigte in den letzten Jahren ein starkes Wachstum, das sich auch 2009 – etwas gedämpft - fortsetzen wird. Für Deutschland wird ein Anstieg auf 4 Milliarden Euro Umsatz erwartet, das wäre gegenüber 2006 mehr als eine Verdoppelung. Wo man wegschauen oder überblättern kann, ist der Störfaktor und damit die Aufmerksamkeitsausbeutung durch unerwünschte Werbung geringer – doch die Werbeindustrie arbeitet schon an effektiveren Werbemethoden wie Online Video Advertising, denen man sich noch weniger entziehen kann.
Übrigens gibt es den Begriff der Aufmerksamkeitsausbeutung bereits im Wettbewerbsrecht. Dort bezeichnet er die unerlaubte Ausnutzung der Bekanntheit einer geschützten Marke, etwa durch absichtliche Anknüpfung an den Namen, die Gestaltung etc.. Anders gesagt, die Ausbeutung der akkumulierten Aufmerksamkeit ist – zu recht – verboten. Die Ausbeutung der situativen Aufmerksamkeit ist gang und gäbe und völlig legal.
Aufmerksamkeit im Zeitalter der unbegrenzten Kopierbarkeit
Wenn auch das Internet die Hoffnung auf eine neue Ökonomie bisher nicht erfüllt hat, so zeigt es doch die Grenzen der alten Waren-Ökonomie umso deutlicher auf. Die unbegrenzte Kopierbarkeit von Informationsprodukten führt deren Warencharakter ad absurdum. Wie groß auch der Aufwand für die Entwicklung einer Software ist, wenn diese anschließend praktisch unbegrenzt vervielfältigt werden kann, geht der Herstellungspreis pro Kopie gegen Null. Das gleiche gilt natürlich auch für Filme, Musik und elektronische Bücher. Ungeachtet dessen werden für diese - in der Herstellung beinah kostenlosen - Kopien Monopolpreise verlangt und durchgesetzt, und die Firmen, die am schärfsten gegen „Raubkopierer“ vorgehen, sind oft die, die daraus jeder Marktwirtschaft hohnsprechende, explodierende Profite erzielen. Eigentlich kein Wunder, dass die alte Waren-Ökonomie mit Klauen und Zähnen verteidigt wird - obwohl doch klar sein müsste, dass ökonomische Gesetze sich ebenso wenig verbieten lassen wie Naturgesetze. Sie wirken einfach. Wenn nicht legal, dann im Verborgenen.
Die Ökonomie der sozialistischen Staaten brach auch deshalb zusammen, weil sich Wert und Markt nicht per Dekret abschaffen und durch Reglementierungen ersetzen lassen. Der real existierende Kapitalismus versucht aber gerade genau dies: Mittels Reglementierungen, Strafandrohungen und Prozessen, Kopierschutzmechanismen und Internetsperren das Wirken ökonomischer Gesetze zu verhindern. Eines der grundlegenden ökonomischen Gesetze des Kapitalismus lautet: Befriedige Deinen Bedarf dort, wo dies am billigsten möglich ist. Kein Politiker schreit heute mehr nach Importsperren, wenn Rohstoffe und Fertigartikel (zum Schaden hiesiger Hersteller) aus Billiglohnländern importiert werden. Das Dilemma bei den Informationsprodukten ist, dass die Hersteller sie einerseits wie ganz normale Waren verkaufen möchten, aber gleichzeitig nicht akzeptieren wollen, dass der Kunde sie auch wie normale Waren, über die er das volle Verfügungsrecht hat, behandelt – sie also auch im Rahmen seiner technischen Möglichkeiten kopiert und weitergibt. Die Hilfskonstruktion der Lizenzierung mit Kopierverbot ist eine Krücke, deren rechtliche Wirkung zudem umstritten ist.
Vielleicht werden kommende Generationen den heute praktizierten Verkauf von Informationsprodukten moralisch nicht viel anders bewerten als den Tausch wertloser (weil beinah beliebig kopierbarer) Glasperlen gegen indianisches Land und afrikanische Sklaven. Viele moderne Hightech-Produkte sind zudem bei minimalem Rohstoffverbrauch so billig und massenhaft herstellbar wie früher Glasperlen - der Unterschied zu Informationsprodukten wird geringer. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist eine Welt, in der die Produktion beinah nichts kostet, desto mehr aber, die Aufmerksamkeit eines Kunden auf ein bestimmtes Produkt zu lenken. Ein Schlaraffenland, besetzt von konkurrierenden Marktschreiern und verstellt von Werbeflächen, und natürlich bewacht von bewaffneten Ordnungshütern, die darauf achten, dass niemand vom Überfluss nimmt, ohne zuvor den Kaufpreis, sprich: die Werbesteuer entrichtet zu haben.
In der wachsenden Sphäre unbegrenzter Kopierbarkeit wird Aufmerksamkeit zur einzigen knappen Ressource, um die alle Anbieter konkurrieren. Die Frage ist nur, ob wir überhaupt unsere kostbare Aufmerksamkeit vom Werberummel um das angeblich wertvollste, günstigste, beste unter lauter wertlosen Produkten aufzehren lassen wollen. – oder sie nicht lieber dort investieren, wo zumindest die Chance besteht, etwas zurück zu erhalten: In Zuwendung für Kinder, Partner, Freunde, in Umwelt und Natur, in Kunst und Bildung, Wissen, Forschung und auch in Werke und Ideen, die selbst wieder als Informationsprodukte Aufmerksamkeit anziehen dürfen. Erst in einer solchen vom Zwang wirtschaftlicher Verwertung befreiten Aufmerksamkeitsökologie (Georg Thomas) kann Aufmerksamkeit zum Dünger für ein wachsendes Angebot an kostenlosen Informationsprodukten werden, für die Wikipedia und Open-Source-Projekte erste vielversprechende Keime darstellen.
Natürlich kann eine blühende Informations-Landschaft nicht ohne einen fundierten (geld)ökonomischen Untergrund existieren – wie ja auch deren Schöpfer essen, wohnen, schlafen müssen und viele weitere materielle Bedürfnisse haben, die sich nicht mit Aufmerksamkeit erkaufen lassen. Die Verschränkung beider Sphären, die sich vor allem als Kolonisierung der Aufmerksamkeitssphäre durch die Geldsphäre darstellt, ist aber kein Naturgesetz. Es gibt längst funktionierende Modelle der Finanzierung von Informationsprodukten, die weder mit deren unbegrenzter Kopierbarkeit kollidieren noch über Hintertüren funktionieren. Damit lässt sich der wachsende Schatz an Wissen, Kunst, Musik, Software global für jeden verfügbar machen, ohne die einzelnen Urheber zu benachteiligen. Kulturflatrate, Internetsteuer und andere Modelle erfordern nicht mehr, sondern wahrscheinlich weniger Verwaltungsaufwand und sind bei automatischer Erfassung der Nutzung sogar verteilungsgerechter als derzeitige Vertriebsmodelle. Vor allem befreien Sie die Aufmerksamkeit vom Zwang zu ihrer Ausbeutung und damit auch die Medien und die Umwelt zumindest von einem Teil der audiovisuellen, aber auch ganz realen Verschmutzung durch Werbung.