Das Gewissen reinwaschen

Steven Spielbergs "Saving Private Ryan" löst in den USA einen Begeisterungssturm aus.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mein Nachbar Jim ist der absolute Kinokenner. Er spricht von Eric Rohmer und Wim Wenders, als wäre er ein waschechter Europäer, und bezichtigt seinen Landsmann Steven Spielberg der Korrumpierbarkeit durch den Kommerz. Als in den USA vor zwei Wochen das neue Spielberg-Epos "Saving Private Ryan" herauskam, würdigte Jim ihm anfangs nur rudimentäre Aufmerksamkeit. "Saving Private Ryan" bekam in den US-Medien - vom ehemals hyperkritischen New Yorker bis hin zu Newsweek - so viele Vorschußlorbeeren und enthusiastische Rezensionen, daß man sich die Oscar-Verleihung 1999 getrost sparen kann. Die Frage ist allenfalls noch, ob der Film den diesjährigen Rekord von "Titanic", der 11 Oscars absahnte, brechen kann. Spielberg skizziert darin die Invasion der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 und den Kampf gegen die deutsche Wehrmacht.

Ich stelle mich also am Eröffnungstag in die lange Schlange vor einem Kino im New Yorker Stadtteil Brooklyn, um die Spätvorstellung um 21.00 Uhr abzuwarten. Hinter mir reiht sich eine fünfköpfige Familie ein, die Eltern, lebhaft plaudernd, und drei Jungs zwischen acht und elf Jahren. Ich runzle innerlich die Stirn und frage mich, ob ich hier im falschen Film bin. In den Vorab-Rezensionen war unmißverständlich von Kampf und Blutvergießen die Rede, von 30 Minuten langen, absolut realistischen Schlachtszenen, herausquellenden Organen und abgerissenen Körperteilen. Nach langem Überlegen frage ich den Vater so unbeteiligt wie möglich, ob er denn wüßte, daß das Ganze mit E.T. und "Jurassic Parc" wenig gemeinsam habe, und er straft mich - wie erwartet - mit dem "Was geht Sie das an"-Blick. Die Mutter lacht nervös: "Ach, die Jungs verkraften das besser als ich".

Die Vorab-Kritiker haben nicht übertrieben. Mit beinahe dokumentarischer Akribie zeigt Spielberg die Grausamkeiten des Krieges: Wie die stählernen Nußschalen der Alliierten sich an den Strand heranpaddeln, die Soldaten herausströmen und sofort, nachdem sie den Schutz des Bootes verlassen haben, von den Deutschen abgeschossen werden. Eine Reihe nach der anderen wird gefällt, Bomben zerfetzen die Leiber, ein Soldat hält verwirrt seinen abgetrennten rechten Arm in der Linken. Ganz langsam kämpfen sich die Soldaten nach anfänglicher Konfusion an die Betonbunker der Wehrmacht heran, bomben sich den Weg an Land. Doch die Verluste sind enorm, der Strand ist übersät mit Leichen und Verwundeten, und die kalten Wellen des Atlantiks färben sich dunkelrot.

Mein Nachbar in Kino holt sich noch einen Eimer Popcorn.

Nachdem Tom Hanks, der als Commander einer Einheit in Erscheinung tritt, sich am Ende der Schlacht müde in den Sand gesetzt hat, wendet sich der Film zurück nach Amerika, zu einem kleinen Nest im Mittleren Westen. Dort wird gerade eine Mutter informiert, daß drei ihrer vier Söhne an der Front getötet wurden. Doch gleichzeitig mit dieser Nachricht überbringen ihr die Entsandten der US-Armee die frohe Botschaft, daß sie alles tun würden, um ihren vierten Sohn, der irgendwo über der Normandie als Fallschirmjäger abgesprungen ist, nach Hause zu holen. Um die Legitimität dieser Mission, nämlich "Saving Private Ryan", zu unterstreichen, liest ein Army-General seinen Abgesandten den Brief Abraham Lincolns an eine Mutter vor, die im amerikanischen Bürgerkrieg 1865 fünf Söhne verloren hat.

Mit Widerwillen macht sich also der unverwüstliche Tom Hanks mit einer Truppe genauso unverwüstlicher Jungs auf den Weg, um Private Ryan - Private ist der Dienstgrad eines einfachen Soldaten - zu finden. Warum, so der allgemeine Tenor, soll eine Handvoll Soldaten in diesem Blutbad geopfert werden, um einen einzigen von ihnen aufzuspüren, nur um am Ende vielleicht zu erfahren, daß er bereits tot ist?

Die beiden Jungs von der Kinokasse laufen mal eben nach draußen, um sich eine Limonade zu ziehen.

Die Figuren Steven Spielbergs sind zweifellos Helden. Sie werden weder als moralische Übermenschen noch als taktisch überlegene Kampfmaschinen glorifiziert. Sie sind genauso ungerecht, feige und rachsüchtig wie jedes menschliche Wesen, und dennoch steht immer das Edle ihrer Mission im Hintergrund, Fleisch geworden in dem allseits bewunderten Heroen Tom Hanks.

Das Publikum ist durchaus neutral, johlt ein bißchen, als auf der Feldjacke eines GIŽs der Schriftzug "Brooklyn, New York" sichtbar wird, und lacht nur einmal hämisch auf, als ein amerikanischer Soldat mit dem Davidstern in der Hand an einer Reihe deutscher Kriegsgefangener vorbeigeht und dabei provozierend das deutsche Wort "Jude, Jude" ausstößt.

Deutsche Soldaten treten kaum in Erscheinung, allenfalls als um ihr Leben bettelnde Feiglinge oder unerbittliche Befehlsempfänger. Die Franzosen werden auf ihre Rolle als Besetzte reduziert, England wird völlig ausgeblendet. "Saving Private Ryan" ist weder ein Dokumentar- noch ein Antikriegsfilm, sondern ein perfekter Unterhaltungsfilm aus der Hollywood-Fabrik, in dem sich das amerikanische Publikum für drei Stunden über die Grauen des Krieges gruselt, und am Ende stolz und gerne die "Mission Ryan" als beispielhaftes Abbild für die Mission der US-Army vor sich her trägt.

Der zweite Weltkrieg als Unterhaltungsware? Eine schaurig-romantische und gänzlich unrealistische Heldengeschichte, die die Bitterkeit des Krieges in rosarote Watte verpackt? Der Film nimmt ein, zweifellos, und beeindruckt durch seine Perfektion. Sogar Jim, prinzipiell abgestoßen vom Kommerz- und Unterhaltungswahn Hollywoods, ergriff - schockiert von der Szene des deutschen Kugelhagels in der Eingangsszene - Partei für seine Jungs. "Am liebsten hätte ich sie angefeuert - Ja! Killt sie!" schildert er seine erste Reaktion.

Ein weiteres Indiz für Steven Spielbergs "fast messianischer Macht, mit der er mit dem Publikum in Verbindung tritt", wie die New York Times in ihrem vierten Artikel innerhalb von drei Wochen jubelte. "Er scheint damit eine nationale Sehnsucht zu erfüllen, über die er sich vielleicht gar nicht bewußt war: das amerikanische Gewissen vom Trauma des Vietnamkriegs reinzuwaschen".