Das Glaubensbekenntnis
Seit Wochen versucht Barack Obama einen Kompromiss im Streit um die Anhebung der Schuldenobergrenze zu finden. Die Republikaner aber schalten auf stur. Für sie ist das Zaudern um die Steuerthematik nicht nur politisches Kalkül, sondern längst auch eine Frage des Glaubens
Den USA droht die Zahlungsunfähigkeit. Sollte bis Anfang August keine Lösung im Streit um die Anhebung der Schuldenobergrenze und die Art der Haushaltskonsolidierung gelingen, droht das Einfrieren der Regierungsausgaben und damit ein Stillstand der Behörden und öffentlichen Einrichtungen. Medicare und Social Security Checks würden nicht mehr ausgestellt werden, Angestellte des öffentlichen Dienstes müssten einen unfreiwilligen Urlaub nehmen, der Staatskonkurs würde den US-Dollar in die Hyperinflation treiben, die Börse abstürzen. Kurz: ein Endzeitszenario, mit dramatischen politischen und wirtschaftlichen Folgen für die USA.
Und dennoch scheinen sich beide Parteien nicht einigen zu können. Dass sich Demokraten und Republikaner vor allem bei der Steuerfrage in den Haaren liegen, ist politischer Alltag. Genauso wie die Zuversicht, dass man sich schon früher oder später auf einen Mittelweg einigen wird. Die einen kürzen ein bisschen bei den Sozialprogrammen, dafür lassen die anderen ein paar Steuervergünstigungen für die Reichen und Unternehmen auslaufen, wie von Obama bereits vorgeschlagen. Diesmal allerdings scheinen die Republikaner sich auf keinerlei Eingeständnisse bei Steuerfragen einzulassen. Ist die Suche nach einem Kompromiss tatsächlich zu einem Stellungskrieg verhärtet, oder ist doch nur alles wieder ein großer politischer Bluff?
Politische Motive für die Hardliner-Taktik der Republikaner gibt es freilich genug. So würde eine Verschleppung der Schuldenfrage zweifellos einen Schatten auf Präsident Obamas Wiederwahlkampagne werfen und damit die republikanischen Chancen, das Weiße Haus 2012 zurück zu erobern, erhöhen. Außerdem: Je länger die Republikaner Obama davon überzeugen können, dass sie das Land über die Klinge springen lassen, desto höher steigt das politische Lösegeld, dass sie ihm für einen Deal abpressen können. Auch ein Faktor spielen dürfte die desillusionierte Stimmung innerhalb der konservativen Wählerbasis. Für die Grand Old Party besteht die reale Gefahr, durch ein zu frühes und leichtes Arrangement mit den Demokraten, weitere wichtige Stimmen an die Fiskal-Ultras der Tea Party Bewegung zu verlieren.
Am ehesten aber trifft es wohl die Einschätzung, dass führende Republikaner einfach nicht ihre Fingerabdrücke auf einem Deal zurücklassen wollen, der Steuererhöhungen oder Abbau von Steuergeschenken beinhaltet. Entsprechend deutlich positionierte sich House Speaker John A. Boehner vor ein paar Wochen: Steuererhöhungen seien absolut "unakzeptabel und ein Rohrkrepierer", was Gespräche angeht. Auch ein Auslaufen der von Bush jr. ins Leben gerufen milliardenschweren Steuererleichterungen ist nicht verhandelbar, denn das käme faktisch dem Anheben von Steuern gleich. Der Ursache hinter dieser unnachgiebigen Haltung ist vor allem ein Mann: Anti-Steuer-Aktivisten Grover Norquist.
Der US-Nachrichtensender CNN taufte den 54-Jährigen gerade zum "Mächtigsten Mann, den niemand kennt". Der Grund: Norquist ist kein Politiker, und dennoch ist er der Architekt der gegenwärtigen politischen Pattsituation. Die Quelle seines Einflusses ist Americans for Tax Reform (ATR). Eine Organisation, die er 1985 auf Anweisung Ronald Reagans gründete und der er seitdem als Chef vorsteht. Das Hauptziel, Steuerreform, ließt sich im Mission-Statement so: "The government's power to control one's life derives from its power to tax. We believe that power should be minimized," und: "ATR opposes all tax increases as a matter of principle." Norquist erfolgreichste Waffe bei der Durchsetzung der Missionstätigkeit, Amerikas Bürger vor Staat und Steuern zu retten, ist The Taxpayer Protection Pledge. Eine Art schriftlicher Anti-Steuer-Schwur, durch den sich der Unterzeichner verpflichtet, keinen Steuererhöhungen und keinen Abbau von Steuererleichterungen zuzustimmen. 235 Kongressabgeordnete und 41 Senatoren haben den 1986 initiierten Treueschwur abgelegt, also praktisch alle Republikaner im US-Kongress. Dazu kommen über tausend Gesetzesgeber auf Landesebene. Der Eid ist in allen 50 US-Staaten gleich. Eine Marke wie Coca Cola, bei dem jeder Wähler wisse, was er bekomme, schwärmt Norquist.
Wer die Verpflichtung bricht, dem entzieht Norquist seinen Beistand; ein flächendeckendes Bündnis von Fiskal- und Nationalkonservativen und evangelikalen Christen. Dass das im Klartext politischer Selbstmord bedeutet, erlebte George H.W. Bush während seiner ersten Amtszeit 1988 als US-Präsident. Als aus seinem "Read my lips: no new taxes" doch Steuererhöhungen wurden, verlor Bush vier Jahre später gegen Bill Clinton. Die Anti-Steuer Orthodoxie als ideologischer Charaktertest der politischen Rechten. Oder wie die Kongresszeitung The Hill schreibt: Für einen GOP-Kandidaten, der sich für ein Amt auf Bundes- oder Landesebene bewirbt, ist das Unterzeichen des Treueschwurs unerlässlich geworden. Der Erfolg spricht für sich: Seit 1991 hätte kein Republikaner mehr einer umfangreichen Steuererhöhung zugestimmt, registriert das TIME Magazin. Als effektivster Aktivist konservativer Werte beschreibt der Republikaner Newt Gingrich Norquist. Eine andere Form des Respekts zollt ihm die linke Internetzeitungsverlegerin Arianna Huffington, die ihn zum "dunklen Hexenmeister des Anti-Steuer-Kults der Rechten" erklärte.
Hat die republikanische Anti-Steuerpolitik also tatsächlich zwanghafte Züge angenommen, die der GOP nur dann einen Kompromiss in der Lösung der Schuldenobergrenze erlaubt, wenn Demokraten auf jegliche Steuererhöhungen verzichten? Sicher ist: Sollte es in den nächsten Wochen zu keiner Einigung kommen, dann wäre das "der erste Staatsstillstand der Geschichte", so Obamas Wirtschaftsberater Austan Goolsbee, "verursacht aus purem Wahnsinn".