Das Hirngespinst des Gedankenlesens

Bild: John Graner/Walter Reed National Military Medical Center/public domain

Von den Irrwegen der Korrelationsforschung mit funktioneller Magnetresonanztomografie

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Von beobachteten körperlichen Merkmalen auf innere (gedankliche) Zustände von Personen zu schließen, ist alltägliche soziale Erfahrung. Demonstrativ verschränkte Arme können etwa Abwehr- oder Erwartungshaltung, Stirnrunzeln des Gegenübers etwa Unverständnis, Irritation anzeigen.

Der wissenschaftliche Hype um die informative Verknüpfung von indirekt beobachteten körperlichen (hier: neuronalen) Zuständen mit der Gedankenwelt von Probanden erstaunt insofern. Sollte es in Zukunft tatsächlich möglich werden mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), kombiniert mit computerunterstützten Methoden der Mustererkennung, Gedanken zu lesen? Können die vom fMRT erzeugten Muster den gedanklichen Fluss von Personen tatsächlich differenzierter "wiedergeben", als etwa Zornesfalten die Gedanken von Wut?

Es sind nicht nur kommerzielle, also eher wissenschaftsfern orientierte Unternehmungen und Unternehmer, wie Facebook und Elon Musk, die Hoffnungen in Technologien des Gedankenlesens setzen. Auch renommierte wissenschaftliche Institutionen wie das Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften knüpfen hohe Erwartungen an dieses Forschungsgebiet.

Der dabei oft unkritische Blick auf die fMRT-Korrelationsforschung überrascht umso mehr, wird berücksichtigt, auf welcher referentiellen Ebene sowohl Alltagsbeobachtungen wie Forschung angesiedelt ist. Weder das gewöhnliche "Gedankenlesen" mit Hilfe von körperlichen Merkmalen wie etwa Gestik und Mimik, noch das "Gedankenlesen" mit einem Computertomographen als technischem Hilfsmittel erfolgt in direkter Bezugnahme auf gedankliche Prozesse. Es werden nicht auf der Ebene gedanklicher Systeme (Bewusstsein), sondern vielmehr auf die Ebene sozialer Systeme Informationen erzeugt. Unterscheidungen also, die darauf abzielen, Unterschiede in kommunikativer Hinsicht zu bewirken, aber mit Blick auf gedankliche Operationen unbestimmt bleiben, ohne informativen Wert.1

Ein lächelndes Gesicht etwa, körperlich indiziert durch hochgezogene Mundwinkel, unterscheidet sich, durch Sozialisation gelernt, von einem Gesicht, beherrscht von Zornesfalten. Die Gesichter, unterschiedliche "innere Haltungen" indizierend, bewirken einen Unterschied in sozialer Hinsicht, etwa Achtsamkeit betreffend.

Ebenso macht es einen Unterschied, wenn der bewusste Gedanke an das Heben des Fußes ein anderes Muster im fMRT (bzw. ein anderes Elektroenzephalogramm (EEG)) erzeugt als der Gedanke an das Heben der Hand. Es ist ein Unterschied, der zu einem Unterschied auf der auf der Ebene sozialer, kommunikativ operierender Systeme führen kann und beispielsweise Richtungsunterschiede eines Buchstaben anzielenden Cursors an einem Computerbildschirm bewirkt. Welche Unterscheidung in diesem Zusammenhang in gedanklicher Hinsicht abseits der hier sozial relevanten Unterscheidung (Fuß oder Hand heben) erfolgt, bleibt unbestimmt, ist ohne informativen Wert. Schließlich geht es darum, Informationen in Bezug auf soziale Systeme zu generieren, z.B. geordnete Buchstabenfolgen.

Klar ist jedenfalls, dass es stets um die Erzeugung von Unterschied ausmachenden Unterschieden in sozialer Hinsicht geht, auf - überindividuelle - Kommunikation abgezielt wird und damit gerade die je individuelle Gedankenwelt von Personen außen vor bleibt. Ob Kommunikation an einem Lächeln, am Hochziehen einer Augenbraue, einem Achsel- oder Wangenzucken, einem "tiefen" Blick oder an unterschiedlichen fMRT-Mustern anknüpft, ist deshalb gerade nicht von informativem Wert in dem Sinne, dass hier fallweise an Gedanken angeknüpft würde. Es sind vielmehr unterschiedslos Unterschiede, die offensichtlich Unterschiede in kommunikativer Hinsicht erzeugen können. In gedanklicher Hinsicht bleiben sie jedoch insofern unbestimmt, als sie ausschließlich für ein individuelles gedanklich operierendes Bewusstsein einen informativen Unterschied ausmachen können.

Der Mangel aktueller fMRT-Korrelationsforschung besteht nicht nur darin, dass hier vorschnell, ohne wissenschaftlichen Rückhalt, Indikator (fMRT-Muster) mit Indiziertem (Gedanken) gleichgesetzt wird. Gleichwohl wird davon ausgegangen, dass die gedanklichen Informationen erst durch computerunterstützte Methoden der Mustererkennung "entschlüsselt" werden müssen. Das Problem dabei ist, dass aktueller Forschung, indem sie ihren eigenen referentiellen Standpunkt nicht reflektiert, unbemerkt bleibt, dass sowohl Indikator wie Indiziertes als Konstruktion sozialer, auf der Basis von Kommunikation operierender Systeme zu verstehen ist. Es ist eine Unterscheidung, die in Bezug auf soziale Systeme für soziale Systeme (hier: das System der Wissenschaft2) einen Unterscheid macht (nicht zuletzt im Bewegen von Forschungsgeldern). Für Bewusstsein konstituierende gedankliche Operationen jedoch nur individuell einen informativen Unterschied bewirken kann. Die Privatheit von Gedanken bleibt also unberührt. Die Kehrseite von Ludwig Wittgensteins Argumentation, dass es prinzipiell keine "Privatsprachen"3 gibt, ist, dass es prinzipiell keine "öffentlichen Gedanken" geben kann.

Im Folgenden soll daher nicht ausgelotet werden, ob die in die fMRT-Korrelationsforschung gesetzten hohen Erwartungen gerechtfertigt sind (Nein!), sondern vielmehr, welche unhinterfragten wissenschaftlichen Prämissen dazu führen, dass diese Forschung mit großen Hoffnungen verknüpft ist. Grund dafür ist im Wesentlichen das Paradigma als Prämisse, welches diese Forschung leitet.

Das inadäquate Paradigma vom Verhältnis von Karte und Gebiet

Die fMRT-Korrelationsforschung geht offenkundig unkritisch davon aus, dass sie es mit einer ganz spezifischen Korrelation zu tun hat - nämlich, dass es sich bei den komplexen Mustern, wie sie in den fMRTs gemessen bzw. erzeugt werden, prinzipiell um Abbildungen von gedanklichen Prozessen handeln würde. Dies entsprechend dem Verhältnis von Karte und Gebiet. Demnach würde man sich mit einem Blick auf eine Landkarte (dem fMRT - Muster) eine Orientierung über die Landschaft (die Gedankenwelt) verschaffen können.

Die sich gemäß dieser Prämisse ergebenden Schwierigkeiten sind dann nicht prinzipieller, sondern technischer Natur. Zu berücksichtigen ist etwa, dass es sich nicht um eine statische (Land-)Karte handelt, sondern von dynamischen Verhältnissen auszugehen ist. Verhältnisse, nebenbei bemerkt, die derzeit mit EEGs sehr viel besser messbar sind, als mit fMRTs. Weiter ist ein der neuronalen Aktivität entsprechend hohes, detailliertes Auflösungsvermögen der fMRT-Muster vorausgesetzt. Nicht zuletzt bedarf es fortschrittlicher, computerunterstützter Methoden der Mustererkennung, um den gedanklichen Fluss aus den gemessenen Mustern zu entschlüsseln.

Wie folgt wird erläutert, dass sich neuronale Aktivität, wie durch fMRTs gemessen werden kann, und gedanklicher Fluss keineswegs im Verhältnis einer Abbildung befinden kann. Die fMRT-Korrelationsforschung geht von falschen Prämissen aus. Die Schwierigkeit (bzw. Unmöglichkeit) des Gedankenlesens ist damit nicht technischer, sondern prinzipieller Natur.

Synchronizität von neuronaler und gedanklicher Aktivität

Eine Abbildung setzt eine zeitliche Stabilität zwischen Abbild und Abgebildetem voraus. Landkarten können deshalb hergestellt werden, weil sichergestellt ist, dass sich Abgebildetes (Landschaft) während der Abbildung nicht - zumal nicht durch die Abbildung selbst! - verändert. Nur so ist es möglich, Kausalität zu konstruieren. Das Abbild kann als durch das Abgebildete determiniert verstanden werden.

Genau dieses Verhältnis ist in der Beziehung zwischen gedanklicher und neuronaler Aktivität nicht gegeben. Hier muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass das neuronale System (neuronale Erregungen reproduzierende neuronale Erregungen) und das Bewusstsein (das System Gedanken reproduzierender Gedanken) synchron aktiviert sind. Es muss davon ausgegangen werden, dass das Bewusstsein das neuronale System ebenso irritieren kann, wie umgekehrt. Gerade deshalb, weil unter Verhältnissen synchroner Aktivität - von gleichwohl zu unterscheidender Operationen: Gedanken vs. neuronale Erregungspotentiale - keine zeitlich aufeinander bezogenen Zustände unterscheidbar sind, kann hier allenfalls von gegenseitiger Irritation, nicht aber von Determination im Sinne eines Verhältnisses von Abgebildetem zu Abbild die Rede sein.

Neuronales und gedanklich operierendes System sind gewissermaßen zugleich als Abbild und Abgebildetes des je anderen Systems zu verstehen. Zeitlich nachgeordnete Zustände (Kausalität bzw. Determination) sind deshalb nur systemintern identifizierbar, nicht jedoch systemübergreifend. Ein Gedanke bedingt einen anderen Gedanken; ein neuronales Erregungspotential führt zu einem anderen neuronalem Erregungspotential. Die Referenz dieser feststellbaren Kausalitäten liegt allerdings wiederum auf der Ebene sozialer, kommunikativ operierender Systeme und nicht auf der Ebene des Bewusstsein bzw. des neuronalen Systems. Erfolgt also etwa im System der Wissenschaft oder wie nun hier massenmedial in einem Telepolis-Artikel.

Festzuhalten ist demnach, dass unter diesen Verhältnissen die Prämisse falsch ist, dass neuronale Operationen ein Abbild gedanklicher Operationen wären, das mit einer adäquaten Mustererkennungssoftware "lesbar" sein könnte.

Unauflösbare Selbst- und Fremdreferenz von neuronaler und gedanklicher Aktivität

Bei der Konstruktion einer Landkarte ist entscheidend, dass selbstreferentielle, beobachterbezogene Einflüsse, Einflüsse also, die der Willkür des Kartographen unterliegen, weitestgehend ausgeschaltet werden. Dies geschieht durch soziale Normierung. Unterscheidungen in der Karte, die Kennzeichnung von Böschungen z. B., die Art, wie unterschiedliche Wege markiert werden, die Kennzeichnung von Höhen (etwa durch Höhenlinien), lassen sich auf dieses Weise "rein" fremdreferentiell, landschaftsbezogen zurechnen. Die Bedeutung der Unterschiede ist überindividuell, folgt nicht den willkürlichen Vorlieben eines Kartographen.

Erst dadurch wird es funktional, im Lesen der Karte durch einen Beobachter möglich, dass er festgestellte Unterschiede ausschließlich selbstreferentiell in Bezugnahme auf die eigene Beobachterposition zurechnen kann. Nur so ist eine Positionierung, die Orientierung eines Beobachters möglich ("Ah ja, das Haus dort [in der Landschaft] befindet sich hier [in der Karte] - also muss ich mich "hier" [in der Karte bzw. Landschaft] befinden").

Funktional charakteristisch für eine Karte ist also nicht, dass hier Abbild und Abgebildetes miteinander identifiziert werden könnten, sondern vielmehr, dass hier festgestellte Unterschiede ausschließlich selbstreferentiell einen Unterschied machen, also die Beobachterposition, die Position des Kartenlesenden betreffend.

Charakteristisch für das neuronale System bzw. des Bewusstsein ist hingegen, dass diese Systeme synchron operieren und damit gleichermaßen als Abgebildetes (fremdreferentieller Bezug) wie auch als Abbild (selbstreferentieller Bezug) des je anderen Systems verstanden werden müssen. In der Konstituierung dieser Systeme ist selbst- und fremdreferentieller Bezug also auf unauflösbare Weise miteinander verquickt. In Bezug auf diese Systeme zwischen Operationen zu unterscheiden, die fremdreferentiell (also durch das je andere System) bestimmt sind, bzw. lediglich dem eigenem Erhalt als System dienen und somit selbstreferentiell orientiert sind, ist unmöglich.

Neuronales System bzw. das Bewusstsein als gedanklich operierendes System unterscheiden sich insofern fundamental von sozialen, kommunikativ operierenden Systemen. Soziale Systeme erlauben offenkundig Konstruktionen, die die Auswirkung von Selbstreferenz (Beobachtereinfluss) und Fremdreferenz (Einfluss des Beobachteten) unterschiedlich gewichten können. So kann, wie erwähnt, bei der Erstellung von Landkarten von selbstreferentiellen Einflüssen (des Kartographen) weitgehend abstrahiert werden. Weitere Beispiele liefert das System der Wissenschaft. Empirische Forschung ermöglicht, den Einfluss des Beobachters, also Selbstreferenz, zu minimieren, um generierte Informationen weitgehend fremdreferentiell, also dem Beobachtungsobjekt zurechnen zu können. Die "reine" Mathematik, andererseits, abstrahiert weitestgehend von fremdreferentiellen, sachlichen Bezügen, um Wahrheiten zu konstruieren, die nur von selbstreferentiellen "Setzungen" (Axiomen) abhängig sind.4

Klar wird damit einmal mehr, dass es inadäquat ist, das in sozialen Systemen konstruierbare Paradigma des Verhältnisses von Karte und Gebiet - das die Möglichkeit des Gedankenlesens mutmaßen lässt -, auf das Verhältnis von neuronalem und gedanklich operierendem System anzuwenden. Weder eine theoretische, zunächst weitgehend von fremdreferentiellen Einflüssen absehende, noch eine empirische, nach Möglichkeit Selbstreferenz (Beobachtereinfluss) ausschaltende Forschungsmethode kann den spezifischen Verhältnissen des Bewusstseins bzw. des neuronalen Systems gerecht werden. Selbst- und Fremdreferenz sind hier auf prinzipiell unauflösbare Weise miteinander verquickt. Gedankenlesen bleibt ein Ding der Unmöglichkeit. Jedenfalls außerhalb der Sphäre des individuellen Bewusstseins.

Die fMRT-Korrelationsforschung erscheint unter vorliegender Perspektive als eine Wissenschaft von den Rändern der Erdscheibe - obgleich gewusst werden kann, dass es sich bei der Erde um eine kugelartiges Gebilde, genauer gesagt, einen abgeflachten Sphäroid handelt.

---------------

------------------------------------------------------------

---------------

------------------------------------------------------------

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.