Das Internet und die Medizin

Können mehr Informationen die Intuition und die eigene Wahrnehmung ersetzen?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Arztberuf in Person eines sogenannten Doktors der Allgemeinmedizin umfasste vor ungefähr einhundert Jahren in den damals führenden Ländern oder den wohlhabenden Staaten den gesamten Menschen. Die Aufteilung in Fachgebiete begann damals erst. Die Aufteilung in Therapeuten, die nach dem Messer fassen (Chirurgen), und diejenigen, die es meiden, stellte eine der ersten derartigen Abgrenzungen dar. Langsam kamen solche Fachgebiete wie Geburtshilfe, Psychiatrie, Pädiatrie, Neurologie auf; und hinter ihnen zog sich wie ein noch ziemlich bescheidener vervielfachter Kometenschweif der Bereich der Nebenforschungen. Um die Mitte unseres Jahrhunderts begann sich die Anzahl ärztlicher Fachgebiete zu vergrößern.

Nachdem der damalige Hausarzt, ein sogenannter Allroundman, oft ein Freund des Hauses, alle Familienmitglieder von den Babys an bis zu den Urgroßeltern betreute, folgte eine Periode, die man kollektive Spezialisierung nennen könnte. Sie bestand darin, dass man in den Fällen, die klar nach gutem Fachwissen verlangten, über welches der Allroundman möglicherweise nicht verfügte, eine Beratung beim Krankenbett arrangierte. Das Ergebnis fiel unterschiedlich aus. Manchmal wetteiferte ein Chirurg, der sich mit einem scharfen Eingriff in den kranken Organismus einschalten wollte, mit einem präventiv handelnden Internisten. Die Erweiterung der zusätzlichen Untersuchungen hat die immer üppiger technologisch ausgestatteten Labors geschaffen.

Heutzutage lässt sich der Arzt nicht mehr in das scherzhafte Schema der Militärmedizin einordnen, nach dem man sprichwörtlich Abführmittel, kalte oder heiße Umschläge (meistens aus Graupen) gab. Oder die Diagnose lautete nach dem bündigsten Spruch: bis zum vierzigsten Lebensjahr dementia praecox, und danach dementia senilis. Nach dem Durchbruch der Elektrokardiographie erfolgte nach der ersten Dichotomie (Elektrokardiographie – Enzephalographie) eine starke Vermehrung ihrer Anwendungsmöglichkeiten. Hinzu kamen mikroskopische also histologische und elektrophysiologische Untersuchungen sowie die Differenzialdiagnostik, die zu einer so stark ausgebauten Domäne wurden, so dass es bereits unmöglich schien, das gelernte und praktizierte medizinische Wissen in einem Arztkopf zu fassen.

Wie dies gewöhnlich mit dem Fortschritt ist, hat er eine helle und eine dunklere Seite. Kaum eine Krankheitseinheit kann mehr ohne eine Auswahl von Zusatzuntersuchungen auskommen. Einerseits wird der Arzt dadurch unterstützt, andererseits beginnt er, seine fachliche Aufmerksamkeit auf ein isoliertes Körpersystem zu konzentrieren. Deswegen kommt es vor, dass die Behandlung eines Körperteils die organische Gesamtheit, welche der menschliche Organismus darstellt, verdeckt oder aus dem ärztlichen Sichtfeld entfernt. Nicht immer ergibt sich daraus für den Patienten nur Gutes.

Wie man weiß, ist das Internet nicht nur ein vervielfältigtes und erweitertes Kommunikationsmittel, sondern gewissermaßen ein informationstechnologischer Sauger, dessen unzählige Verzweigungen sich in verschiedenen Datenbanken befinden können. In diesem Sinne ist die Zerteilung des Organismuszustandes für einen Mediziner möglich, der bereit ist, einer statistisch interpretierten Riesenmenge routinemäßiger Zusatzuntersuchungen zu trauen, und vielleicht wird sie eine Konkurrenz für den Arzt schaffen. Wie amerikanische Untersuchungen bewiesen haben, kann eine Diagnose, die mittels einer vielseitigen Prüfung der Daten über den Patienten gestellt wird, die im Internet gespeichert sind, bereits mit der Diagnose und Therapieindikation von Medizinprofessoren konkurrieren.

Das Internet kann demnach, wenn es richtig angewandt und gebraucht wird, besonders einen angehenden Arzt unterstützen. Es kann aber auch irreführen, weil die Eigenschaft, mit der sich die Medizin in der Blütezeit der ärztlichen Individualitäten rühmte, nämlich die Intuition, die ihre Erkennungsmacht bei einem direkten Kontakt mit dem Kranken offenbarte und die ein fast unübertragbares Wissen und Können darstellt, durch das Netz nicht transferiert werden kann. Jene Unmittelbarkeit des Bildes eines Kranken mit seiner Persönlichkeit, seinem Charakter, mit einer Vielzahl von schwer beschreibbaren Einzelheiten der Krankheitssituation, die einem wenig erfahrenen Arzt einfach entschlüpfen können, werden über eine längere Zeit und möglicherweise auch immer, für die Internet-Diagnostik und -Therapie unerreichbar bleiben.

Wenn es um eine gute Analyse der diagnostischen Untersuchungen, z.B. der Elektrokardiogramme geht, können die Datenbanken, die übers Internet zugänglich sind, einem schlecht auf diesem Gebiet orientierten Spezialisten behilflich sein. Es kommt jedoch auch vor, dass die Feststellungen, die sich nur auf elektrokardiographische Daten stützen, keine perfekte Aufklärungskraft haben. Heute kommen hier solche Hilfsmittel hinzu wie Tomographie, Ultrasonographie, 24-Stunden-Holter-Aufzeichnungen, PositronenemissionsTomographie und schließlich die Molekularbiologie, die neue Untersuchungstypen für physiologische und pathologische Phänomene anwendet. Obwohl wir es dank der neuesten Technologien sowohl mit anamnestischen wie auch mit diagnostischen Einzelheiten zu tun haben, die zusätzliche Informationen eröffnen, sollten wir uns bewusst werden, dass ein Fortschritt im Gesundheitswesen stattfindet, der u.a. in der Tendenz sichtbar ist, die Medizin als Kunst zu liquidieren und an diese Stelle die Ausführlichkeit der schon fast algorithmischen Analysen einzuführen.

Das ganze Bild ist als ein Teil des Prozesses anzuerkennen, der in hohem Maße den Kampf mit der Krankheit vervollkommnet und die Lebensdauer erhöht, aber gleichzeitig scheint der kranke Mensch dadurch in eine immer größere Zahl nicht immer und nicht unbedingt kompatibler Sachverhalte zerlegt zu werden, weil dort, wo wir sehr viele Ergebnisse haben, die nur statistisch erfassbare Faktoren berücksichtigen, diese Ergebnisse miteinander kollidieren können. Aus diesem Grund ist es nicht einfach zu beurteilen, ob die Internetnachweise und -hilfen nur Segen oder auch labyrinthartige Komplikationen für die Medizin darstellen bzw. darstellen werden. Der gleiche Prozess hat übrigens die Apotheker - als Meister der Komposition von heilsamen chemischen Substanzen - in Verkäufer von fast immer fertigen Präparaten umgewandelt.

Charakteristischer Indikator der Beschleunigung im allgemeinärztlichen Bereich kann die Tatsache sein, dass die erst vor einigen Jahren herausgegebenen pharmakologischen Kompendien gleichzeitig durch Ströme neuartiger Arzneimittel ergänzt werden, die von großen Pharmakonzernen auf den Markt gebracht werden, während gleichzeitig jedes Jahr aus neueren Ausgaben dieser Kompendien eine Reihe von Präparaten verschwindet, weil sie gefährliche Nebenwirkungen haben oder weil sie aus der Mode gekommen sind, da auch die Medizin der Wechselhaftigkeit der Mode unterstellt ist.

Unlängst entdeckten Amerikaner mit der bei ihnen beliebten Statistik, dass zwei Millionen Personen, die mit von den Ärzten vorgeschriebenen Arzneimitteln behandelt wurden, aufgrund der Nebenwirkungen dieser Arzneimittel ernsthaft erkrankt und sogar 106.000 der behandelten Patienten infolge dieser Nebeneffekte gestorben sind! Die Globalisierung der Kommunikationsnetze und die Vervielfältigung der sich inhaltlich verändernden Datenbanken können solchen bedrückenden Phänomenen nicht entgegenwirken, weil diese ganze Domäne von Statistik geleitet wird. Metaphorisch gesagt, könnte man das Lenins Spruch "wer wen" in den Bereich der Gesundheitspflege übertragen, indem man die Frage stellt, ob das sich medizinisch erweiternde Internet die Ärzte nur unterstützen oder aber aus diesem Beruf, der traditionell immer von Menschen ausgeübt wurde, verdrängen wird.

Das Internet stellt ein Kind der Technologie, in diesem Fall der Biotechnologie dar, das zu einem Riesen heranwächst. Die Ambivalenz jeder Technologie, die zusammen mit neuem Wohl auch neues Übel bringt, ist jedoch unbestritten. Spezialisten vermuten, dass wir Träger von Genen sind, deren schädliche Auswirkung sich erst im fortgeschrittenen Alter offenbaren kann; und deswegen kommen diese Gene, die zumindest zum Teil Effekte von Mutationen bergen und der natürlichen Selektion nicht mehr unterworfen sind, weil ihre Wirkung erst nach Fruchtbarkeit einsetzt, im Zuge der Verlängerung des individuellen Lebens als Verursacher von uns noch nicht bekannten, also auch nicht behandelbaren Unpässlichkeiten und Unwohlgefühle zum Vorschein. Das Internet, das von uns derzeit noch gesteuert und sich in Zukunft möglicherweise selbst programmieren wird, wird sich sicherlich mit neuen Sorgen und Beschwerden des menschlichen Daseins befassen müssen.

In Zusammenfassung und Ergänzung all dessen, was bisher gesagt worden ist, denke ich, wobei ich mich nicht auf gesichertes Wissen, sondern auf subjektive Vermutung stütze, dass das Internet als System der Kommunikation mit den Datenbanken, das vor allem statistisch wertvoll ist, sich leichter an die Bedürfnisse der Diagnose für die Systeme anpassen lässt, die genau beschrieben werden können, also der mechanischen Geräte wie Flugzeuge, Autos oder Computer, als für den Bereich, mit dem sich die Medizin seit Jahrhunderten beschäftigt, d.h. mit den Unpässlichkeiten des menschlichen Körpers.

Es scheint mir eher unwahrscheinlich, dass diese Gesamtheit des Wissens, das sich der durch alle zusätzlichen Untersuchungen gestützte Arzt aneignen kann, durch mechanische und algorithmische Prozeduren aus den Netzressourcen ersetzt werden könnte. Das trifft vor allem auf seltene und extreme Fälle zu, weil am Einfachsten das erkannt wird, was im Hinblick auf die Häufigkeit des Vorkommens am Charakteristischsten ist. Seltenere Fälle werden aus der Ferne nicht erkannt. Mit einem Wort: Man kann vom Internet eine diagnostische oder therapeutische Fehlerlosigkeit kaum erwarten.

Die Grenze der Entwicklung würde ein Zustand darstellen, bei dem die von uns geschaffenen technologischen Mittel und Leistungen eine fast selbständige Umwelt bilden werden, die bei der Behandlung von Deviationen und Erkrankungen hilfreicher als der menschliche Geist sein wird. Bisher weist nichts darauf hin, dass die globale Internetisierung, also die Vernetzung der Ressourcen des gesammelten medizinischen Wissens die unter dem Hippokrates-Eid arbeitenden Menschen übertrumpfen wird, weil in der Heilkunde letztendlich emotionale und auch ethische Faktoren eine erhebliche Rolle spielen. Sogar die vollkommensten Technologien der Kommunikation werden kaum imstande sein, diese zu ersetzen.

Aus dem Polnischen übersetzt von Ryszard Krolicki