"Das Königreich des Geschwätzes"

Seite 2: Evolution und Sprechen

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Darwin trickste in Wolfes Darstellung (wie wir im ersten Teil sahen) seinen Gegenspieler Wallace aus. Er beraubte ihn um sein wissenschaftliches Erstgeburtsrecht, genau wie einst in der biblischen Geschichte von Jakob und Esau. Wolfe ging es hier in erster Linie darum, nachzuweisen, dass Darwin ein miserabler Wissenschaftler war. Dass also die Evolutionstheorie - dieses Werkzeug des Teufels - ohnehin nur der Phantasie des Autors entspringen konnte. Zufällig trifft es sich, dass Rudyard Kiplings zwei bekannteste Bücher ("Das Dschungelbuch", für das er 1907 den Nobelpreis bekam) und "Just So Stories", ein weiteres bekanntes Kinderbuch, gewisse Anklänge an Darwins Theorie aufweisen. So ist der kleine Mowgli im Dschungelbuch ein typisches indisches Wolfskind, das im Dschungel ohne Menschen aufgewachsen ist und deshalb "die Sprache der Tiere" versteht.

Und in den "gerade so" dahinfabulierten Storys ist das evolutionäre Thema noch stärker ausgeprägt. In der Geschichte "Wie der Elefant zu seinem Rüssel kam", schnappt den kleinen Elefanten beim Trinken am Flussufer ein Krokodil an der Nase und zieht daran so lange, bis daraus ein Rüssel geworden ist. Der amerikanische Paläontologe und Wissenschaftsjournalist Stephen Jay Gould charakterisierte einmal Darwin's Band Zur Evolution des Menschen als "Just So" Stories - mit anderen Worten, er verglich das Buch mit den [Evolutions-]Märchen von Kipling. Das ist Wolfe für den die ganze Evolutionstheorie eine Fiktion ist) nicht entgangen. Im ersten Band, Zum Ursprung der Arten, der 1859 erschien, hatte Darwin den Evolutionsprozess zwar ausführlich dargestellt, aber noch nicht auf den Menschen ausgedehnt.

Und das, obwohl 1856 der erste reale Urmensch aus dem Neandertal bereits ans Licht der Öffentlichkeit gedrungen war. Er war der erste und klarste Beweis für die Realität auch der menschlichen Evolution. Aber Darwin zögerte. Erst auf Seite 488 (schreibt Wolfe), kurz vor Schluss des Ersten Bandes, ließ Darwin leise anklingen: "In ferner Zukunft … wird wohl auch ein Licht auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte fallen." - Aha, alter Knabe, wirft ihm hier Wolfe über einen Grand Canyon der seither verflossenen Zeit hinweg entgegen, an dieser Stelle bist du aber um einen kleinen geheimniskrämerischen Schritt zu weit gegangen, oder? Wieso? Was war denn jetzt das Kryptische an Darwins Aussage? Nun, dass auch der Mensch das Resultat einer biologischen Evolution sein könnte, dass er nicht vom Himmel hoch herabgesegelt, sondern einst von den Bäumen heruntergestiegen war.

Wie seine bibeltreuen Leser in Amerika tut auch Wolfe an dieser Stelle so, als sei seit 1859 die Zeit stehengeblieben, als habe es beim "Darwinismus" keinen Fortschritt gegeben. Wolfe zitiert den obigen Satz aus der britischen Ausgabe von 1859 - in der amerikanischen Ausgabe von 1861 (BTW, erschienen im Verlag D. Appleton und Co.) steht das Zitat auf Seite 424. Warum die amerikanische Ausgabe sich mit 440 Seiten begnügte? Nun, es gibt seit 1975 die nach der Originalhandschrift rekonstruierte Version des ursprünglichen Text-Konvoluts, samt allen Streichungen, Änderungen, etc des Autors. Und da gibt es tatsächlich die längere und die kürzere Version. Darwin benutzte offensichtlich die amerikanische Ausgabe als eine gestraffte und fokussiertere Fassung seines Buches.

Wie auch immer: Der Autor plagte sich bis 1871, um nun auch noch seine Ansichten zur menschlichen Evolution im Druck erscheinen zu lassen. Der Satz "Der Mensch stammt vom Affen ab" hatte bis dahin längst - und ganz ohne Darwins Zutun - allgemeine Verbreitung gefunden. Eigentlich hätte Darwin mit seinem Text noch weitaus länger hinter dem Berg halten wollen. Er war tatsächlich "Der zurückhaltende Mister Darwin" aus David Quammens gleichnamigem Buch.

Quammen, der zur Abwechslung einmal ALLES von Darwin gelesen hat, kann sich seiner Bewunderung für Darwin nicht enthalten. Aber natürlich, der eigentliche Mechanismus, wie die Evolution tatsächlich funktionierte, der entglitt Darwin. Dessen wurde er auch später nicht habhaft. Dabei stellte es sich heraus, als man Jahre nach Darwins Tod einmal seinen ganzen Papierkram durchforstete, dass sich - seit Urzeiten unberührt - dort auch die Schrift von Gregor Mendel einfand.

Mendel selber war inzwischen ebenfalls verstorben. Er hatte zu Lebzeiten eine Kopie seiner Studie zu den Vererbungsgesetzen an Darwin geschickt. Und sie hätte Darwin den wissenschaftlichen Schlüssel zu seiner Evolutionstheorie geliefert. Aber Darwin war sichtlich schon zu krank, um auch nur - flüchtig - die hereinkommende Post zu sichten. Und die Post war das Medium, vermittels dessen Darwin den Kontakt mit der Aussenwelt aufrecht hielt. Bis die Ideen Mendels und Darwins endlich zusammenfanden, dauerte es zuletzt noch bis 1959. Zufällig dem 100-jährigen Jubiläum der Drucklegung des "Ursprungs der Arten".

Darwin hatte, trotz allem, Recht behalten. Er gehört heute zu jener Gallerie weltberühmter Köpfe von Aristoteles bis Einstein. Ob Wallace statt seiner dazugehört hätte? Wolfe muss sich wohl gesagt haben, dass er, der Autor dieser kleinen Studie, mit 86 Jahren, nicht mehr die Zeit aufbringen könnte, um alle Schriften des Darwin-Konkurrenten durchzusehen. Auf jeden Fall begann Wallace später, seine und Darwins gemeinsame Theorie zu kritisieren, und verfiel zusätzlich dem Spiritismus, wie andere berühmte Engländer auch - darunter Arthur Conan Doyle, der Schöpfer des hyperkritischen Sherlock Holmes. Er ließ sich sogar von einem heute trivialen Foto-Trick hereinlegen.

Wolfes Thema bleibt freilich, woran er bis zum Schluss festhält: Dass Darwin selber zur Evolution des Menschen nichts wirklich Schlüssiges beigetragen hat und zur Entwicklung der Sprache noch weniger. So sehr Tom Wolfe im weißen Anzug auch wie eine Wiedergeburt des Weltbürgers Mark Twains aussehen mag - er vertritt letztlich doch nur die Weltsicht eines mentalen Hinterwäldlers aus dem 19. Jahrhundert.

Und da kommt nun endlich Noam Chomsky auf die Bühne. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts waren Linguistiker in den USA Leute wie Benjamin Lee Whorf gewesen, die Indianersprachen studierten und eine sprachliche Relativitätstheorie entwickelten. Dabei ging es um Fragen wie die, ob [um ein beliebiges Beispiel zu erfinden] ein Heisenberg seine Philosophie auch in der Hopi-Sprache hätte entwickeln können. Chomsky, der als Linguist nicht eben eine große Programmskala zu bieten hatte, überzeugte seine Zeitgenossen mit der Theorie der Universalgrammatik. Derzufolge war jeder Mensch von Kindesbeinen an mit einem gewissen Programm ausgerüstet, das ihm erlaubte, innerhalb weniger Jahre jede beliebige menschliche Sprache, die in seiner Umgebung gesprochen wurde, zu erlernen. Oft auch mehrere gleichzeitig.

Dies war eine schlichte Tatsache, die sich bei jeder Einwandererfamilie in den USA aus dem tagtäglichen Leben ablesen ließ. Es war eine triviale Feststellung, ähnlich der, dass (fast) jeder Mensch bei der Geburt die Fähigkeit zum aufrechten Gang besitzt, und ihn nach einer Krabbelphase auch erlernen würde. Auf alles weitere (alsda seien, wie dieses Sprachorgan funktionierte und wo im Gehirn es wohl gelagert sein mochte) musste Chomsky - wie schon Darwin im Hinblick auf die menschliche Evolution - auf zukünftige Ergebnisse der Forschung verweisen.

Die Gegenwehr der Indianer-Linguistiker ließ aber nicht lange auf sich warten. Wenn es sich um den aufrechten Gang gehandelt hätte, hätten sie vermutlich eine Gruppe von Dschungelbewohnern gefunden, die habituell vierbeinig unterwegs waren. Mit der Sprache hätten sie schon bei den Yanomamö andocken können, aber Wolfe klammert sich an Dan (Daniel) Everett, einen Linguistiker, der bei den Piraha im tiefsten brasilianischen Dschungel langfristig Halt gemacht hatte. Everett stellt sich als ein netter Zeitgenosse heraus, dessen Bekanntschaft man auf Youtube gerne macht. Aber warum man ihn nun als Gegenspieler zu Chomsky auffahren sollte, so wie Wolfe schon mit Wallace im Schlepptau gegen Darwin zu Felde zog, ist mir nicht ganz einsichtig.

Irgendwann einmal konfrontierte Wolfe Chomsky persönlich. Die Piraha benutzten keine Universalgrammatik, sagte Wolfe, es gäbe also eine Ausnahme zu Chomsky Universalgültigkeit. Darauf konterte Chomsky: "Die Sprecher dieser Sprache, die Pirahanisch-Sprecher, lernen problemlos Portugiesisch … und sie lernen diese Sprache, Portugiesisch, mit allen ihren üblichen grammatikalischen Eigenheiten, genau so leicht wie jedes andere Kind. Das bedeutet, dass sie die selbe Sprachfähigkeit besitzen wie jeder andere Mensch."

Und tatsächlich scheint es so, als beweise die Piraha-Sprache mit ihren hochkomplexen Verbal-Konstrukten und stimmlichen Vogelimitaten nur das Eine: Nämlich, dass die Sprache der Menschen, die in dieser gefährlichen Dschungel-Einöde strandeten, einst ebenso komplex war, wie jede andere Indianersprache, aber hier zum einzigen geistigen Schmuck dieser Menschen geriet, und damit zu einer minutiösen Kontrollfunktion gegen einen stets im Hintergrund schwelenden Realitätsverlust. Auch die Piraha, genau wie die Ureinwohner von Tierra del Fuego, sind moderne Menschen mit moderner Sprachkapazität.

Wolfe bezweifelte in diesem, seinem letzten Buch, dass man je die Entstehung der menschlichen Sprache per biologischer Evolution erklären können würde. Gute Argumente hat er dafür nicht angeführt - und seine Art, jeweils mit Darwin und Chomsky umzuspringen, erweckt im Leser auch nicht das rechte Vertrauen zu irgendeiner seiner Aussagen. Zum Schluss bleibt ihm dann nur noch, den Titel des Buches, "The Kingdom of Speech" zu erklären. Also, mit der biologischen Evolution, das hat er nun schon genügend klar gemacht, zumindest für seine gläubigen, christlichen, amerikanischen Leser, kann es ja wohl nicht so weit her sein.

Die biologische Evolution alleine konnte dem Menschen nicht zur Sprache verhelfen, ebenso wenig wie Darwin - der ja noch meinte, dass der Mensch das Sprechen gelernt hatte, indem er den Gesang der Vögel imitierte! - und ebenso wenig wie Chomsky.

Das Königreich der Sprache erbaute der Mensch sich selbst, meint Wolfe. Und wir dürfen annehmen, als amerikanische, gläubige, christliche Leser, dass wir das aus eigenem Willen oder mit eigener Hand geschafft haben, aber auch, weil Gott uns zur Seite stand, um nicht ausdrücklich zu sagen - Jesus. Womit sich die ganze Reise als ein Trip auf dem Karussell herausstellt, Abfahrt und Ankunft gehen ineinander über, erweisen sich als Chimäre.

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