Das Kreuz mit dem Pluralismus

Seite 2: In der Gesellschaft herrschen asymmetrische Interessen

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Die Rolle des Staates in einer pluralistischen Gesellschaft besteht im Wesentlichen darin, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass dieser Ausgleich stattfinden kann und die Spielregeln eingehalten werden.

Grundlage des Pluralismus ist die Idee des friedlichen Miteinanders verschiedener Systeme, Interessen, Ansichten und Lebensstile, die in unterschiedlicher Weise zueinander in Beziehungen stehen und deren individuelle Verwirklichung, Vertretung und Artikulation legitim und erwünscht ist.

Was nicht auf der allgemeinen politischen Ebene geregelt werden muss, bleibt gesellschaftlichen Organisationen und Verbänden überlassen. Das wichtigste Element des Pluralismus ist die Freiheit jedes Einzelnen und die Möglichkeit, Interessen und Auffassungen gemeinsam zu vertreten.

So verband sich also mit dem Pluralismus die frohgemute Hoffnung, im Miteinander divergierender Interessen, die von verschiedenen Organisationen vertreten werden, werde sich eine Balance einstellen und aus der Pluralität divergierender Interessen werde das im Markt des Ausgleichs gereinigte Gemeinwohl emporsteigen.

Doch man hätte gewarnt sein müssen wie bei all diesen schönen Theorien, in denen aus dem schmuddeligen Chaos des unordentlichen Durcheinanders auf wundersame Weise eine weichgespülte Welt höherer Ordnung emporsteigt. Das ist einfach ein viel zu harmonisches Idyll, um ideologiefrei und vor allem wahr zu sein.

Das Bild der sich auch politisch selbst organisierenden Gesellschaft erwies sich als ein Trugbild, weil in pluralistischen Demokratien asymmetrische Interessen herrschen. Die Kräfte und Interessen in einer Gesellschaft sind unterschiedlich stark und können sich daher auch unterschiedlich machtvoll durchsetzen.

Manche werden im Wettkampf widerstreitender Interessen regelrecht untergebuttert und manche wiederum errichten ungehindert ihre (Schreckens-)Herrschaft: Finanzkapitalisten, Banken, Großkonzerne und ihre Verbände haben - das lehrt die tägliche Politikpraxis - eine uneinnehmbar starke Position. Sparer, Steuerzahler, Krankenkassenmitglieder, Rentner, alleinerziehende Mütter, Arme und viele andere mehr haben eine sehr schwache Position.

Man kann das auch sehr viel populistischer und dennoch nicht minder korrekt ausdrücken: Einige wenige verfügen über große Macht, die breite Masse des Volks tut das nicht. Sie wird in diesen Demokratien an den Rand der Gesellschaft gedrängt, deren Souverän sie doch angeblich ist.

Der "Markt des Ausgleichs" verhärtet die Machtstrukturen

Die naive Pluralismustheorie nahm an, dass jeder, der ein Interesse an einem Gemeinschaftsgut hat, auch bereit ist, einen Teil der Bereitstellungskosten zu übernehmen. Das setzt eine symmetrische Interessenorganisation voraus: Jedes Interesse muss sich gleich gut organisieren lassen. Tut es aber nicht.

Das ist geradezu beängstigend naiv und weltfremd: Die Interessen von Verbrauchern, Frauen oder Arbeitslosen sind nicht annähernd so gut organisiert wie etwa die von Kapitaleigentümern, Unternehmern, Managern, Ärzten oder Rechtsanwälten. Die reale Asymmetrie der Kräfte zerstört das schöne Bild vom "Markt des Ausgleichs". Auf dem Markt der Interessen wirken höchst unterschiedliche Kräfte.

Die Logik kollektiven Handelns

Ein Wissenschaftler, der sich intensiv mit dem Pluralismus beschäftigte, war der Amerikaner Mancur Olson (1932-1998). In seinen 1965 und 1982 erschienenen Büchern "The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups" (deutsch: Logik des kollektiven Handelns) und "Rise and Decline of Nations" (Aufstieg und Niedergang von Nationen) zeigte er die Schwachstellen des Pluralismus auf.

In seiner Kritik formulierte er vier Gegenpositionen, die ein helles Licht auf die Realität moderner pluralistischer Gesellschaften werfen:

(1) Alle Pluralismustheorien basieren auf dem falschen Axiom, dass individuelle und kollektive Interessen zwangsläufig übereinstimmen.5 Das tun sie eher selten. Zwischen individuellen und kollektiven Interessen klaffen oft unüberbrückbare Gegensätze. Als Zweckverbände haben Gruppen das Ziel, für ihre Mitglieder Kollektivgüter bereitzustellen. Die klassische Demokratietheorie ging davon aus, dass alle Gruppen sich bemühen, den gesellschaftlichen Wohlstand zu mehren, weil alle davon profitieren.

Doch das funktioniert nicht, weil die einzelnen Mitglieder danach streben, ihren individuellen Nutzen bei gleichzeitiger Kostenminimierung zu maximieren. Für ein Individuum ist es rational, von dem Kollektivgut zu profitieren, ohne selbst etwas dafür zu leisten. Dieses "Paradox im Verhalten von Gruppen"6 bezeichnet man als das Trittbrettfahrer-Dilemma ("free-rider problem"):

Der Einzelne macht sich die Segnungen eines Kollektivguts zunutze, leistet aber seinerseits nichts für das gemeine Wohl.

Nach der Theorie des kollektiven Handelns haben kleine Gruppen mit Sonderinteressen einen Vorteil. Ihre Mitglieder erleben die Vorteile der Gruppenaktivitäten gewissermaßen am eigenen Leib, und das Ergebnis hängt unmittelbar von ihrem Beitrag ab. Der Kooperationsertrag bleibt auf die Mitglieder begrenzt, zum Beispiel wenn ein lokaler Verein ein Fest organisiert.

Die Kollektivgüter, die Großgruppen bereitstellen, kommen dagegen meist auch Nichtmitgliedern zugute; beispielsweise wenn eine Gewerkschaft einen Tarifvertrag abschließt, der dann auch für Nichtmitglieder gilt. Der Kooperationsbeitrag eines Einzelmitglieds fällt kaum ins Gewicht. Das sind inklusive Gruppen; sie basieren auf propagandistischen Motiven und sind auf Mitgliederwerbung angewiesen.