Das Maradona-Syndrom

Schnell und sauber: So wie das Spiel, funktioniert mittlerweile auch Ökonomie der Stars

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Als der größte Fußballer des 20. Jahrhunderts gewählt werden sollte, entschied sich das Publikum für Diego Armando Maradona. In einer weltweiten Internetwahl hatte Maradona schnell die Konkurrenz hinter sich gelassen und stand uneinholbar an der Spitze. Auch Pelé hatte da nichts mehr zu melden. Das Ergebnis war in vielerlei Hinsicht symptomatisch. Zunächst bestätigte sich, was schon während Maradonas aktiver Laufbahn als Spitzensportler und vor allem am Ende seiner Karriere nicht von der Hand zu weisen war: Er war so übermenschlich groß, dass es man sich schwer vorstellen konnte, wer sein Nachfolger werden könnte.

Das gilt bis heute nicht nur für die argentinische Fußballelite. Sondern galt auch lange Zeit für den Weltfußball an sich. Erst in den späten 1990ern sollte ein ihm ebenbürtiger Spieler auflaufen: Ronaldo. Maradona war zu diesem Zeitpunkt ein Wrack. Die WM 1990 hatte er noch gespielt und mit der argentinischen Nationalmannschaft sogar das Finale erreicht. Aber es war peinlich. Die Luft war längst raus. Als er 1994 unter Zuhilfenahme von Aufputschmitteln eine weitere Weltmeisterschaft spielte, war allen klar, dass ein Zombie auf dem Spielfeld unterwegs ist, der bereits in den 1980er Jahren in den vorzeitigen Ruhestand hätte beordert werden müssen.

Doch wen hätte man sonst anbeten sollen? Viele gottlose Jahre sollten vergehen, bis die Menschheit einen neuen Gott zugeteilt bekam. Es dauerte fast eine ganze Dekade, denn erst als im Jahr 1997 Ronaldo sein Können im großen Stil unter Beweis stellte - damals noch in den Reihen des FC Barcelona - hatte das Warten ein Ende.

10 Jahre ohne Fußballgott. Vor diesem Hintergrund ist vielleicht verständlich, warum Ronaldos Auftauchen so begeistert aufgenommen wurde. Sein Körper schien den Labors der modernen Gentechnologie entstiegen. Seine geschmeidigen und zugleich kraftvoll-dynamischen Bewegungen lehrten die Massen das Staunen. Flugs firmierte er in aller Munde nur noch als "el fenomeno": das Phänomen. Bereits als 20-Jähriger wurde er von Fifa-Präsident Joao Havelange ins Pantheon der Weltgeschichte gehoben, mit Worten, die kaum bezeichnender sein könnten: "Ronaldo gehört zum Weltkulturerbe, das wir alle schützen müssen." Manuel Vazquez Montalban notierte dazu: Ähnliche Formulierungen hatten bis dato nur die Unesco und andere UN-Organisationen für gefährdete Kulturdenkmäler, Naturreservate oder bedrohte Arten benutzt. Nicht frei von Ironie, aber ganz und gar ernst fügte der spanische Schriftsteller hinzu: "Wenn sich Ronaldo nicht die Beine oder den Hals bricht, haben wir wieder einen Gott für das kommende Jahrzehnt."

Obgleich niemand mitgezählt hat, so ist es doch ziemlich klar, dass Ronaldos Zeit wesentlich kürzer war. Der Ablösevorgang indes ist kaum wahrgenommen worden, es gab kein Drama, keinen Alptraum, keinen Untergang. Gut, Ronaldo war verletzt, nach der WM 1998 sogar richtiggehend ausgebrannt, aber er brach sich weder die Beine noch den Hals. Allein die Industrie wechselte im Zuge der Jahrhundertwende ihr Betriebssystem.

Auch das verlief ohne großen Wirbel. Und so schreiben wir seit einigen Jahren im Fußball eine neue Zeitrechnung, ohne davon Kenntnis genommen zu haben. Anders als das kalendarische Zahlenspiel, welches uns immer daran erinnert, dass wir das 20. Jahrhundert weit hinter uns gelassen haben und nun im 21. Jahrhundert sind, gibt es im Starhimmel keinen Reminder dafür, dass nun neue Maßstäbe gelten. Erst ein Clip, der zu der laufenden WM von Nike produziert worden ist, musste uns die Augen öffnen. Jener Clip nämlich, in dem die brasilianische Nationalmannschaft in der Umkleidekabine das Musizieren übt. Motto: Nur wenn Du im Orchester spielst, stimmt der Sound.

Gestern noch Weltkulturerbe, heute Statist

In diesem Clip sieht man sie alle: die großen Stars aus Brasilien. In ihrem Mittelpunkt steht einer, der den großen Ronaldo vom Altar der internationalen Gemeinschaft verdrängt hat: Ronaldinho - Topverdiener, Topmarke, Topfußballer. Dass er die neue Nummer eins ist, daran haben wir uns alle längst gewöhnt. Seit zwei, drei Jahren ist eigentlich nur noch von ihm die Rede. Und seine größte Zeit ist jetzt. Gewinner der Primera Division und der Champions League mit FC Barcelona und hoher Favorit mit seinem Nationalteam bei dieser WM. Schon im Vorfeld erklärte Beckenbauer: Ronaldinho wird der größte Star der WM. Niemand zweifelt an dem kindlich-genialen Zauberer. Jeder, der im Fußballjournalismus was auf sich hält, investiert die besten Metaphern in seinen Brottext über den "besten Spieler der Welt". Wem nichts dazu einfällt oder wer bei der Lobhudelei schlichtweg nicht mitmachen will, der zitiert Dirk Kurbjuweit: "Er rettet den Fußball vor seiner Eintönigkeit - er pflanzt Blumen in die Ödnis."

Und weil Ronaldinho so vollkommen selbstverständlich die Nummer eins ist, fragt niemand mehr nach Ronaldo. Doch in besagtem Nike-Clip drängt sich diese Frage einfach auf. Denn in dem Clip, der erzählt, dass die Nummer eins nur wirklich dann spitze ist, wenn sie Teamgeist beweist und mannschaftsdienlich spielt - in diesem Clip taucht auch jener Spieler auf, um den sich vor kurzem noch die ganze Nike-Dramaturgie drehte und im Grunde auch die ganze Fußballwelt: Ronaldo. Er steht, wie die anderen Nationalspieler, in der Kabine und trägt das gelb-grün-blaue Trikot; ist einer von ihnen, einer von vielen; wirkt wie ein Statist. Ronaldinho im Vordergrund und Ronaldo im Hintergrund - das wirkt auf den ersten Blick wie ein Fehler. Wie eine Szene, die eigentlich nicht sein darf, die beim Editing vergessen wurde und aufgrund einer Nachlässigkeit des Regisseurs im Film geblieben ist. Denn sie zeigt, was eigentlich niemand sehen will: Einen leuchtenden und einen ausgebrannten Star. Letzterer wirkt in Anwesenheit des ersteren umso ärmlicher. Ein trauriger Moment.

Aber auch ein Moment der Wahrheit. Einer, der vieles sagt über das gegenwärtige Betriebssystem der Fußballindustrie. Denn die neue Zeitrechnung der Starmaschine wird hier offenkundig. Gestern noch Weltkulturerbe, heute Statist. Noch nie wurde ein Fußballgott in seiner leistungsstarken Phase so schnell und so einfach vom Sockel geholt. Noch nie geschah dies mit so wenig Wirbel. So schnell und so sauber wie das heutige Spiel, funktionieren mittlerweile auch die Transfers in der Götterwelt des Fußballs. Längst wird auch schon Ronaldinhos Nachfolge debattiert. Es gibt zahllose Anwärter. Sie sind um die 20 Jahre alt und heißen Cristiano Ronaldo, Linonel Messi und Theo Walcott. Dem Thron, den Ronaldinho gerade erst erklommen hat, ist jedoch Wayne Rooney am nächsten. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis er die Nummer eins wird. Was dann wohl aus dem kindlichen Kaiser aus Porto Alegre wird? Eines ist sicher, so wie Maradona wird er nicht enden.

Drogensucht, Herzrhythmusstörungen, Dopingskandale, Wettschulden, Strafregister, Bulimie und Mafiaverbindungen - die lange Liste von Maradonas Schulden wird er nicht auf seinem Konto haben. Denn selbst wenn Ronaldinho hin und wieder wie ein Edelrapper aussieht mit seiner Goldkette und seinen langen Locken - ein echter Rockstar wie der Mann aus Fiorito ist er noch lange nicht. Höchstens ein Rockstar, wie ihn das gegenwärtige Betriebssystem des Fußballs erlaubt: sauber und schnell. Keiner, der Schmutz hinter sich herzieht und dabei auch noch humpelt. Nein, einer der schnell gehen kann, wenn seine Zeit gekommen ist. Der Erziehungsapparat des Profifußballs hat aus dem Fall Maradona viel gelernt. Der Mann, der als der größte Spieler des 20. Jahrhunderts gilt, war der erste der die Glut der übersteuerten Starmaschine zu spüren bekam. Und der letzte, der offiziell Wunden davon tragen durfte.

Eine zweite Wahl zum Fußballer des Jahrhunderts (in einer offiziellen Wahl der Fifa wurde schließlich Pelé zum eigentlichen Fußballgott des 20. Jahrhunderts gewählt), wird man in der neuen Zeitrechnung zu verhindern wissen. Zumindest wenn sich alle an die Spielregeln halten und alles sauber und schnell läuft. Die WM zeigt, dass das im Grunde ziemlich gut funktioniert. Wie der Tennissport nach McEnroe.