Das Orakel des Usama Bin Ladin
Mit wie vielen Schritten ist jeder mit bin Ladin verbunden: Das Terrornetzwerk und die "Small World"-Hypothese
Trotz aller zur Schau gestellten Entschlossenheit stehen die Militäraktionen gegen die mutmaßlichen Hintermänner der Anschläge vom 11. September auf schwachen Füßen. Die Suche nach den Verantwortlichen ist jedenfalls noch nicht abgeschlossen. Während normalerweise kurz nach Attentaten die Faxmaschinen der Nachrichtenredaktionen von Bekennerschreiben überquellen, wollte diesmal niemand dabei gewesen sein. Selbst der von den USA bald als Hauptverdächtiger genannte Usama Bin Ladin gab seine Unschuld zu Protokoll - und schob zuletzt Gott selbst die Verantwortung zu (nicht ohne ihm dafür zu danken, versteht sich). Dennoch wurde das Weiße Haus nicht müde zu verkünden, die Hinweise auf Bin Ladins Beteiligung "verdichteten sich", und auch die britische Regierung sieht Bin Ladins Schuld als erwiesen an. Dabei konnte man sich freilich nicht auf von ihm erteilte Aufträge, dokumentierte Planungen oder gar Befehlsstrukturen stützen. Grundlage waren vielmehr die mehr oder weniger direkten Verbindungen der mutmaßlichen Attentäter zu Bin Ladins "Al-Qaida"-Netzwerk. Mal über diesen, mal über jenen Bekannten und Vertrauten ließ sich eine Verbindung zum Mann im Hindukusch herstellen.
Aber was heißt es eigentlich, wenn wir feststellen, dass jemand über zwei, drei oder mehr Ecken Verbindungen zu einer anderen Person hat? Offenbar wenig, wenn wir der Netzwerkforschung glauben dürfen. Die sogenannte "Small World"-Hypothese behauptet jedenfalls, dass auch in weitgespannten Bekanntheitsnetzwerken fünf bis sieben Stationen ausreichen, um von einem Punkt des Netzwerks jeden beliebigen anderen zu erreichen.
Der amerikanische Psychologe Stanley Milgram führte den praktischen Beweis dieser These mit einem interessanten Experiment. Er bat zufällig ausgewählte Testpersonen mitten in Amerika, einen Brief an einen ihnen unbekannten, nicht genau adressierten Banker in New York zu senden - allerdings nicht direkt, sondern über eine von ihnen gewählte Person aus dem Freundeskreis, die ihrer Ansicht nach näher zur gesuchten Person stehe. Diese Person wurde gebeten, wiederum genauso zu verfahren, bis jemand den Banker persönlich kennen würde. Beinahe alle Briefe kamen an - und benötigten durchschnittlich nicht mehr als sechs Zwischenstationen.
Eine ähnlich kuriose Vernetzung wird durch ein Computerprogramm demonstriert, das als das Orakel des Kevin Bacon im Internet abgefragt werden kann. Es errechnet für jeden beliebigen Schauspieler eine "Bacon Number", die seine Verbindung zu dem Schauspieler Kevin Bacon angibt. Wer zusammen mit Bacon in einem Film gespielt hat, erhält die Bacon Nummer eins; wer mit jemanden gespielt hat, der selbst wiederum mit Bacon zu sehen war, die Nummer zwei usw. Es zeigt sich, dass praktisch das gesamte Universum amerikanischer Schauspieler (die Datenbank enthält 464.194 Namen von Charlie Chaplin bis Keanu Reeves) nur wenige Schritte von Mr. Bacon entfernt ist: die durchschnittliche Bacon Nummer beträgt 2,9. Und dabei ist Kevin Bacon, obwohl er fleißig in mehr als 50 Filmen und Fernsehshows mitgewirkt hat, nicht einmal das "Zentrum" Hollywoods. Dort sitzt nämlich Christopher Lee, der die Liste der "zentralsten" Schauspieler mit kleinem Vorsprung vor Rod Steiger anführt. Seine, der Bacon Nummer analog berechnete durchschnittliche "Lee Number" beträgt etwas weniger als 2,6.
Im Falle von Schauspielern - und auch von Wissenschaftlern, wie das Erdös Project beweist - sind die durchschnittlichen Distanzen natürlich ungewöhnlich klein. Doch es lässt sich mathematisch zeigen, dass schon wenige zufällige, aber weitreichende Kontakte ein Netzwerk von Millionen Personen zu einer "Small World" machen, in der nicht mehr als "Six Degrees of Separation" zwischen zwei beliebigen Personen stehen. Praktisch heißt das, dass nicht mehr als sieben Personen nötig sein werden, um ein Netzwerk zu konstruieren, das die amerikanische Mrs Average mit ihrem Präsidenten verbindet.
Zu Osama Bin Laden werden es - trotz der Zustellungsschwierigkeiten an der Zieladresse - wohl nur wenige mehr sein. Doch keine Angst: Da dem FBI offenbar noch kein "Oracle of Osama Bin Laden" zu Gebote steht, das jedermanns Bin Ladin Nummer berechnen könnte, bleiben derartig lose Verbindungen wohl - vorerst noch - folgenlos.