Das Paradoxon der Geopolitik: Wenn das Streben nach Sicherheit zur Eskalation führt

Globus, OK-Häkchen mit Raketen-Kranz

Kriegsgefahr wächst, zeigt Umfrage. Indikatoren wie steigende Rüstungsausgaben scheinen dies zu bestätigen. Ist unser Sicherheitsstreben der Eskalationstreiber?

In einer weltweiten Umfrage vom November 2023 hielten rund 70 Prozent der Befragten aus 30 Nationen den Ausbruch eines dritten Weltkrieges in den kommenden 25 Jahren für möglich.

In der Tat sind Indikatoren vorhanden, die solche Einschätzungen zumindest nicht ganz unplausibel erscheinen lassen: weltweit sprunghaft ansteigende Rüstungsausgaben, Truppen- und Waffendislozierungen, Ausbreitung von Sanktionsregimes, verschärfte und feindselige Rhetorik u. v. m.

Zudem bergen die Kriege in der Ukraine und im Nahen bzw. Mittleren Osten wegen der Vielzahl der Beteiligten das hohe Risiko des plötzlichen Umschlags in einen weltweiten Krieg. Als Ursache für die angespannte Lage wird gern der Kampf zwischen der vom Westen präferierten unipolaren regelbasierten Ordnung und der von China und Russland propagierten multipolaren völkerrechtsbasierten Ordnung, zwischen Demokratie und Autokratie ins Feld geführt.

Das ist nicht falsch, aber darüber gerät einmal mehr aus dem Blick, dass die aktuellen Kriege lediglich die lange Serie kollektiver und organisierter Gewalt fortführen, die bis in Zeiten zurückreicht, in denen von den aktuellen ideologischen Frontstellungen bisher nicht im Entferntesten die Rede war.

Die Tatsache, dass Kriege vom Neolithikum bis heute untrennbar mit der menschlichen Geschichte verbunden, oder, wie die britische Historikerin Margret McMillan meint, eine Konstante der Menschheitsgeschichte sind, lässt den Schluss zu, dass tiefere, ältere und überzeitliche Motive jenseits tagesaktueller Narrative, Schuldzuweisungen und Zwänge existieren.

Kriegsmotive

Kriege lassen sich, der Hamburger AG Kriegsursachenforschung zufolge, auf nicht mehr als 25 Ursachenkomplexe zurückführen – zumeist reale gesellschaftliche Widersprüche und Mängelzustände in wechselnden Kombinationen.

Doch gibt es nur einen Faktor, der bei allen Kriegen durchgehend beteiligt war und ist: Die menschliche Psyche, konkret: die subjektive Wahrnehmung und die Entscheidung derjenigen, die die Machtbefugnis haben, einen Krieg auszulösen oder sich an ihm zu beteiligen.1

Welche Motive hinter den Entscheidungen der Akteure stecken, ist von jeher ein beliebtes, gleichwohl strittiges Thema philosophischer Betrachtungen. So sind die Favoriten des griechischen Historikers Thukydides etwa Machtstreben und Furcht. Margret McMillan zufolge liegen seit eh und je Habgier, Furcht und Ideologie zugrunde, und Johannes Pennekamp verortete in der FAZ vor nicht allzu langer Zeit eher den Wunsch nach Reichtum und Wohlstand – womit er Aristoteles’ überraschend aktuellem Befund nahekommt, der Krieg als beliebige Erwerbsart wie Landwirtschaft oder Fischerei ansah.2

Der Nationalökonom Joseph Schumpeter hingegen sah die Wurzel von Expansion und Krieg in der Existenz dominierender Kriegerkasten früherer Zeiten, die ihre Daseinsberechtigung in ständigem Kampf gegen äußere Gewalten begründeten und deren erworbene psychische Dispositionen und soziale Strukturen sich durch die Zeiten erhielten und fortwirkten – woraus eine Aggressivität an sich und jenseits konkreter Ziele erwuchs: Der wahre Imperialismus betreibt Expansion um des Expandierens, Sieg um des Siegens, Herrschaft um des Herrschens willen.3

Selbsterhaltung – Selbstbehauptung – Verteidigung

Alles plausibel. Ein zentrales Motiv aber fehlt, obwohl es in Philosophie, Gesellschafts- und Staatstheorie, von Machiavelli bis zu Alexander Hamilton, von Hobbes bis Hegel, eine essenzielle, sogar verfassungskonstituierende Stellung einnimmt: die Selbsterhaltung. Es sei dahingestellt, ob sich aus ihr Dispositionen wie die oben genannten und weitere, wie Gier, Hass, Rassismus, Chauvinismus, Größenwahn, Machtgier und Machtlust, ableiten lassen – oder ob sie eigenständige Charakterzüge darstellen.

Das Motiv der Selbsterhaltung jedenfalls und damit das der Verteidigung, so resümierte Carl J. Friedrich, einer der einflussreichsten US-Politikwissenschaftler nach dem Zweiten Weltkrieg, spielte stets eine entscheidende Rolle, wenn man die Hauptmotive untersucht, die zu Kriegen führten.4

Der Grund: Die Verteidigung einer Gemeinschaft wurde zu allen Zeiten als eine Hauptaufgabe jeder politischen Ordnung anerkannt. Nun suggeriert der Begriff der Verteidigung eher Defensive, Reaktion, Notwehr. Aber für imperiale, souveräne Staatspolitik gelten andere Regeln. Ihr Kennzeichen ist die Fähigkeit zur Durchsetzung von Transformations- und Hegemonialansprüchen5 – womit wir bei der Selbstbehauptung wären, bei der Verteidigung von Ansprüchen an andere und der Forderung, sie anzuerkennen.6

Diese Ebene der Verteidigung schließt eine auf Ausweitung der Ansprüche und Ausdehnung der Einflusssphären gerichtete offensive Strategie nicht aus – was nicht zuletzt der paradoxe Umstand bestätigt, dass heute in vielen Staaten die oberste Militärbehörde als Verteidigungsministerium firmiert, auch wenn die unterstellten Truppen in den entlegensten Weltregionen agieren.

Geopolitik verteidigt Ansprüche, keine Landesgrenzen. Und je stärker Wachstum und Entwicklung eines Staates, desto höher die Ansprüche. Der bekannte Satz eines ehemaligen deutschen Verteidigungsministers über die Verteidigung der deutschen Sicherheit am Hindukusch ist ein bekanntes Beispiel, die Forderung des späteren US-Präsidenten Wilson nach Marktöffnung anderer Staaten, selbst auf Kosten von Souveränitätsverletzungen, ein anderes7, die Monroe-Doktrin oder Putins Politik der cordons sanitaires8 sind weitere.

Diese Selbstbehauptung ist die aktivere, offensive Schwester der Selbsterhaltung, beide gehen Hand in Hand. Eins folgt aus dem anderen. In jeder politischen Ordnung. Man kann dies als erweiterte vorausschauende Strategie jenseits des defensiven Reagierens interpretieren, als Bevorratung von Handlungs- und Verfügungsoptionen zur Sicherheit und Sicherung der Ordnung der eigenen Gemeinschaft.

Gerade Staaten, die nicht auf den Schutz Stärkerer zurückgreifen können, und das trifft im Allgemeinen auf Großmächte zu, sind gezwungen, selbst Vorsorge für ihren Schutz und ihre Sicherheit zu treffen und Macht zu akkumulieren – was beim Konkurrenten, der in der gleichen Lage ist, zur entsprechenden Reaktion führt. Es liegt auf der Hand, dass dieser "Teufelskreis von Sicherheitsbedürfnis und Machtanhäufung"9 nur schwer zu durchbrechen ist.

Selbsterhaltung und Geopolitik

Definiert man das Paar Selbsterhaltung-Selbstbehauptung als anscheinend unhintergehbares und überzeitliches menschliches Handlungsmotiv und zugleich als eine zentrale Kategorie jeder Politik, dann sind die Hauptmotive der heutigen geopolitischen Konflikte die, die sie immer waren.

Sie wurzeln in dem, was die Akteure für notwendig halten in Bezug auf Vorsorge für die augenblickliche und zukünftige materielle und kulturelle Stabilität, Autonomie, Sicherheit und Zukunftsfähigkeit für sich und ihre Gemeinschaft in Konkurrenz zu Gemeinschaften mit anderen Zielen und Identitäten.

Kein verantwortlicher Politiker, egal aus welchem Lager, kann darauf verzichten, zumal eine Vernachlässigung dieser Aufgabe von der eigenen Gemeinschaft als grobe Pflichtverletzung und politisches Versagen gewertet würde.

Dementsprechend lassen sich die Aufgabenkataloge der aktuell mächtigsten oder aufstrebenden Nationen heute mehr denn je als geopolitische Umsetzung der Selbsterhaltung und -behauptung interpretieren.

Von der Kontrolle und Sicherung eigener Versorgung und strategisch wichtiger extraterritorialer Versorgungswege und -räume über die präventive Beschränkung der Handlungs- und Entwicklungsoptionen geopolitischer Konkurrenten und die Verteidigung resp. Verbreitung eigener kultureller Identität bis hin zur Blockade globaler Kommunikation und Immunisierung gegen externe kulturell-politische Einflüsse: Die nationalen Sicherheitsstrategien etwa der USA, Chinas und Russlands ähneln sich in vielen Punkten spiegelbildlich, auch in den grundlegenden geostrategischen Einschätzungen.

Die Sicherheitsstrategie der Regierung Biden hält das jetzige Jahrzehnt für entscheidend, um Amerikas lebenswichtige Interessen zu fördern, geopolitische Konkurrenten auszumanövrieren (S.1), China zu übertrumpfen und Russland einzuschränken (S. 23). Dabei prognostiziert das Papier den indopazifischen Raum als Epizentrum der Geopolitik des 21. Jahrhunderts (S. 37).

Chinas Strategie hingegen pocht auf den entschlossenen Schutz der Souveränität, der Sicherheit und der Entwicklungsinteressen des Landes (S. 6) – nicht ohne die Zunahme US-amerikanischer Militärpräsenz vor der chinesischen Haustür und die Stärkung US-orientierter asiatisch-pazifischer Militärbündnisse zu verurteilen (S. 3).

Und Putin? Für ihn ist der Kampf gegen eine US-Politik, die er als Versuch zur Eindämmung Russlands deutet, letztlich "eine Frage von Leben und Tod, eine Frage der historischen Zukunft als Nation". Das Thema der großen drei Kontrahenten ist die Entwicklungs- oder Zukunftssicherung, und unter dieser Prämisse bereiten alle drei ihre Armeen auf zukünftige Herausforderungen, sprich, auf den Ernstfall militärischer Auseinandersetzungen vor. Es dürfte eine Binsenweisheit sein, dass dies – wie meist – mit dem Aufstieg neuer und dem Abstieg alter Akteure zu tun hat.

Das von 1945 bis 1990 mühsam erarbeitete und immer fragile bipolare Machtgleichgewicht ging ab der Jahrtausendwende verloren und ähnelt eher der multipolaren Konkurrenz des ausgehenden 19. Jahrhunderts – womit wir wieder bei der klassischen geopolitischen Konstellation am Vorabend des Ersten Weltkrieges wären.10

Und damals wie heute sind Bestrebungen zur (Wieder-)Erlangung, Erhaltung und Ausweitung eigener Größe und Macht fester Bestandteil nationalstaatlicher Zukunftssicherung – trotz aller globalen Vernetzung, trotz aller Handelsbeziehungen und politischen Kooperationen.

Das Szenario von Forderungen an andere, ohne sie selbst zu erfüllen, von Expansion in verengten Expansionsräumen, konfrontativer Blockbildung, nationaler Abschottung, materiellen Behauptungs- und kulturellen Identitätskämpfe geht einher mit einer Abkehr vom Völkerrecht, von den Ideen der kooperativen Beziehungen und der gegenseitigen Anerkennung von Sicherheits- und Entwicklungsbedürfnissen.

Und je stärker das Gefühl eigener existenzieller Bedrohung, desto stärker das Zurückfallen in Selbsterhaltungsreflexe, desto geringer die Bindung an das Recht.

Die Angst davor, ins Hintertreffen zu geraten, abgehängt zu werden, der eigenen Souveränität, Handlungsmacht und Identität auf lange Sicht oder unwiderruflich verlustig zu gehen, ist stärker als das Völkerrecht, die UN-Charta und die Vereinten Nationen – ablesbar im Bedeutungsverlust dieser Übereinkünfte und Institutionen und in ihrem allmählichen Ersatz durch Zweckbündnisse wie die Nato oder die G7, die SCO oder die Brics-Staaten und völkerrechtskonkurrierende Regelwerke wie die viel zitierte regelbasierte internationale Ordnung. Das macht die derzeitige Konstellation so gefährlich.

Das Klima der bedingungslosen Unnachgiebigkeit und Schärfe, der Haltung des "sie oder wir", die wir etwa in der Ukraine oder im Nahen Osten sehen können und in der die Neutralität auch Unbeteiligter nicht vorgesehen ist, prägt zusammen mit der ebenso existenzbedrohenden Klimaentwicklung das 21. Jahrhundert für jeden erkennbar bereits jetzt.

Was bleibt …

So versprechen die weiteren siebeneinhalb Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts, kriegerisch und unruhig zu werden, weil bis heute letztlich kein Weg gefunden wurde, die Bedrohungswahrnehmungen expandierender und miteinander konkurrierender Kräfte zu moderieren.

Oder, um die zentrale Frage mit den Worten des Philosophen Burkhard Liebsch zu stellen: Wie ist mit der Existenz von Feinden auf Dauer zu leben, d. h. wenigstens so, dass es nicht deren Leben kostet?

Das gelingt nur, schreibt er weiter, wo eine Politisierung der Feindschaft selbst vermieden wird, eine Politisierung, die dazu aufruft, sich gegen Feinde zu verbünden, zu organisieren, zu bewaffnen und schließlich mit allen Mitteln gegen sie vorzugehen, auch mit den schlimmsten und im Grunde hinsichtlich ihrer Wirkung unvorstellbaren.11

Das eben wäre das Kunststück. Doch erstens ist die Politisierung der Gegnerschaft bis zu den Handels- und Kulturbeziehungen bereits weit fortgeschritten. Und zweitens ist bisher ist nicht ansatzweise geklärt, wie jenes Nullsummenspiel, bei dem die Expansion des einen nur zulasten eines anderen geht, friedlich moderiert werden kann.

Der Grund liegt darin, dass das Problem des Wachstumsausgleichs und der gegenseitigen Anerkennung von Ansprüchen bis heute nie vollständig und nachhaltig gelöst wurde, sondern immer nur zeitweilig, und meist auf Kosten eines der Beteiligten.

Die bisher nicht beendete Geschichte der Kolonial- und Imperialstaaten und ihrer Nachfolger bietet reichlich Anschauungsmaterial. Wenn wir aber dem Einsatz der unvorstellbaren Mittel entgehen wollen, wäre es jetzt höchste Zeit, diesen grundlegenden Konstruktionsfehler geopolitischer Beziehungen zu beheben.

Die Mittel wären Entpolitisierung der Gegensätze, Rückkehr zur Austarierung von Sicherheitsinteressen, Anerkennung politischer und kultureller Unterschiede, Deeskalierung, Vertrauensbildung, Kooperation, Expansionsbeschränkung, gegenseitiger Verzicht auf Machtbevorratung. Das wäre einerseits utopisch angesichts unüberwindlich scheinender Sachzwänge und angesichts der zahlreichen Hardliner an den Schaltstellen der Macht, andererseits sind die Mittel durchaus zur Hand.

Der Schlüssel liegt im Willen der Akteure zum Austausch und zur Verhandlung dessen, was sie und ihre Gemeinschaften als je eigene Ansprüche definieren, um sich selbst zu erhalten. Alles andere liefe auf Krieg hinaus. Wie gehabt.

Wenn die Sache aber so liegt, dann wäre einmal mehr unabweisbar, dass die Akteure nach wie vor nicht in der Lage oder willens sind, die globalen Bedingungen zur Herstellung sicherer materieller und kultureller Lebensbedingungen für alle zu schaffen, die den bisherigen Imperativ der Selbsterhaltung auf Kosten anderer mit allen seinen Gewaltfolgen und seinen pathologischen Auswüchsen auf Dauer überflüssig macht – dass also jener Teil des evolutionären Erbes, der die menschliche Rasse an die Spitze der Nahrungskette gebracht hat und aus ebendiesem Grund nun zum Verlierer machen könnte, stärker ist als das ebenso evolutionär entstandene Vernunft- und Kooperationspotential.

Die historisch überkommene Selbsterhaltung der Nationen könnte in die ungewollte Selbstaufgabe der Menschheit übergehen. Das Paradoxe daran: Es ist nicht die Differenz zwischen konkurrierenden Ideologien, die zu den künftigen kriegerischen Konfrontationen führt, sondern das allen Parteien Gemeinsame: die Selbsterhaltung.