Vereinte Nationen am Scheideweg
UN-Zukunftsgipfel im September 2024 soll eine grundlegende Reform der Vereinten Nationen einleiten. Gelingt der Kurswechsel für mehr Frieden, Abrüstung und Klimaschutz?
Die Vorbereitungen für den anstehenden Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen am 22./23. September 2024 in New York sind auf der Zielgeraden. Seit über zwei Jahren sind die deutsche UN-Botschafterin Antje Leendertse und ihr namibischer UN-Kollege Neville Geertze damit beauftragt, den Gipfel verantwortlich auf den Weg zu bringen.
Mit dem Gipfel soll eine grundlegende Reform der Vereinten Nationen eingeleitet werden. Eine Mammutaufgabe und große Herausforderung für die beiden UN-Botschaften!
UN-Zivilkonferenz im Mai 2024 in Nairobi
Auch die internationale Zivilgesellschaft wurde in den Planungsprozess aktiv eingebunden. Über 700 internationale Organisationen der Zivilgesellschaft, Wissenschaftler und Diplomaten verschiedener Staaten trafen sich in Nairobi, um über eine Reform der Vereinten Nationen zu beraten.
Von den über 2.100 Teilnehmern stammten 70 Prozent aus den Staaten Afrikas. Fast 40 Prozent waren junge Menschen, die vehement eine Demokratisierung der UN und Beteiligung der jungen Generation an Entscheidungsprozessen forderten.
Für mich als Delegierter der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verteidigung e. V. (IPPNW) war der südliche Blickwinkel auf die Weltlage prägend.
"Nicht wir in Afrika sind der Verursacher des Klimawandels. Es ist eure Lebens- und Wirtschaftsweise, die dafür verantwortlich ist. Nicht wir sind im Besitz der Massenvernichtungswaffen, die uns alle auslöschen können", so ein afrikanischer Teilnehmer an mich auf der Konferenz.
Appell des Generalsekretärs der Vereinten Nationen
Wir müssen unseren gemeinsamen Ansatz für Frieden und Sicherheit mit einer neuen Agenda für den Frieden beleben. Das bedeutet, der Prävention von Konflikten Priorität einzuräumen. Wir müssen die Abrüstung wieder in den Mittelpunkt der internationalen Agenda rücken und dringend handeln, um eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen.
Und wir müssen die Gefahr tödlicher autonomer Waffen bannen – Waffen ächten, die ohne menschliche Kontrolle eingesetzt werden könnten
Antonio Guterres in seiner Rede auf der Zivilkonferenz in Nairobi
UN-Zukunftspakt als Vision einer neuen UN
Inzwischen liegt ein umfangreiches Dokument, der "UN-Zukunftspakt" vor, der visionär die Aufgaben und Herausforderungen der Vereinten Nationen beschreibt.
Wir werden gemeinsam nach einer Welt streben, die sicherer, friedlicher, gerechter, gleichberechtigter, integrativer und nachhaltiger ist. Um dies zu erreichen, bekräftigen wir unser Bekenntnis zur Charta der Vereinten Nationen und zum Völkerrecht.
Wir bekräftigen außerdem, dass die drei Säulen der Vereinten Nationen – Entwicklung, Frieden und Sicherheit sowie Menschenrechte – miteinander verbunden sind und sich gegen seitig verstärken.
Wir bekräftigen außerdem, dass die Beseitigung der Armut in all ihren Formen die größte globale Herausforderung und eine unabdingbare Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung ist.
Antje Leendertse und Neville Gertze
Chancen einer Reform des UN-Sicherheitsrats?
Die größte Herausforderung des Gipfels ist die angestrebte Reform des Sicherheitsrats. Aus den Stellungnahmen der Mitgliedsstaaten und der NGOs geht eindeutig hervor, dass dieses Projekt Priorität für den Zukunftsgipfel hat.
Der Sicherheitsrat, mit der Dominanz der fünf ständigen Mitglieder, den Veto- und Atommächten USA, Russland, China, England und Frankreich, blockiert sich nicht nur selbst, sondern vor allem die gesamte UN. Mit dem Vetorecht werden dringliche Friedens- und Konfliktlösungen torpediert.
Der Sicherheitsrat ist im Gegensatz zur Generalversammlung die Institution, die völkerrechtlich bindende Resolutionen beschließen kann.
Kann die ständige Blockadehaltung der Vetomächte, die die Vereinten Nationen oft lähmt, ja sogar handlungsunfähig macht, entflochten und strukturell verändert werden?
Gegenwärtig hat der Sicherheitsrat 15 Mitglieder, fünf ständige (die sogenannten P5) und zehn nichtständige Mitglieder, die nach einem festen Regionalschlüssel von der Generalversammlung für zwei Jahre gewählt werden.
Eine mögliche Reform strebt eine größere Repräsentanz der Mitglieder des Südens an. Vorgeschlagen wird von Experten eine Erhöhung der Mitgliederzahl von 15 auf 25. Die ständigen Sitze würden auf zehn, die nichtständigen auf 15 erhöht. Das Ziel wäre die Einführung einer neuen Abstimmungsregel mit weniger Blockadepotenzial.
Die Reformvorschläge könnten gem. Art. 109 der UN-Charta in einer sogenannten "Allgemeinen Konferenz" mit einer 2/3 Mehrheit der Generalversammlung zur Annahme empfohlen werden. Die P5 könnten somit nicht verhindern, dass die Vorschläge von der Generalversammlung angenommen werden.
Über einen moderaten Druck der reformwilligen Mitgliedsstaaten und mit diplomatischem Geschick müssten die fünf Vetomächte zu einer Änderung der UN-Charta bewegt werden.
UN-Generalsekretär fordert einen ständigen Sitz Afrikas im UN-Sicherheitsrat!
Am 12. August forderte António Guterres in seiner Rede im UN-Sicherheitsrat eine dringende Reform. Er betonte dabei, dass die Zusammensetzung die Machtverhältnisse am Ende des Zweiten Weltkriegs widerspiegle. Es sei versäumt worden, die Entscheidungsstrukturen den veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen anzupassen.
1945 waren die meisten afrikanischen Länder von heute noch unter Kolonialherrschaft und hatten auf internationaler Ebene keine Stimme.
Wir können nicht akzeptieren, dass der führenden Friedens- und Sicherheitsinstitution der Welt eine permanente Stimme für einen Kontinent von weit über einer Milliarde Menschen fehlt … und wir können auch nicht akzeptieren, dass Afrikas Ansichten in Fragen des Friedens und der Sicherheit sowohl auf dem Kontinent als auch auf der ganzen Welt, unterbewertet sind.
Antonio Guterres in seiner Rede im Sicherheitsrat
Der in einem Monat beginnende Zukunftsgipfel sei der Rahmen, um Fortschritte zu erzielen und sicherzustellen, dass alle Länder sinnvoll an den globalen Governance-Strukturen auf Augenhöhe teilnehmen könnten.
Renaissance der UN-Charta
Ausgangspunkt des Zukunftsgipfels ist die Charta der Vereinten Nationen von 1945. Sie fordert von allen Unterzeichnerstaaten die friedliche Beilegung von Konflikten. Dieses allgemeine Friedensgebot bedarf einer Bestärkung unter den Mitgliedsstaaten und wird beim Zukunftsgipfel besonders hervorgehoben:
Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche "Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden." (Kapitel I, 2 UN-Charta)
Besonders die fünf Vetomächte im UN-Sicherheitsrat verweigern sich regelmäßig diesem zentralen Friedensgebot. Sie sind zugleich Atomwaffenstaaten, die den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet und die daraus resultierende Verpflichtung nach Abrüstung und Abschaffung der Atomwaffen aber bis heute nicht eingelöst haben.
Rüstungskontrolle und Abrüstung der Atomwaffen steht somit wieder auf der Agenda. Atomwaffen und der Klimawandel bedrohen die Existenz allen Lebens auf unserem Planeten. Der Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen weist den Weg zu einer atomwaffenfreien Welt.
Der Vertrag trat am 22.01.2021 in Kraft. Inzwischen haben ihn weltweit 70 Staaten ratifiziert. Der Vertrag untersagt allen Unterzeichnerstaaten, Atomwaffen zu entwickeln, herzustellen, zu lagern und zu testen.
Auch die Weiterverbreitung von Atomtechnologie ist verboten. Die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen schließen sich damit aus. Biologische Waffen sind seit 1975, chemische Waffen seit 1997 völkerrechtlich verboten. Das gilt nun endlich auch für Atomwaffen.
Der Verbotsvertrag wird in den kommenden Jahren immer mehr an Gewicht gewinnen und weltweit Staaten zur Unterzeichnung veranlassen.
Diese Entwicklung wird sich auch nicht über Einflussname der Atomwaffenstaaten aufhalten lassen. Vielmehr wird der Druck auf diese wachsen, endlich die im Atomwaffensperrvertrag eingegangenen Verpflichtungen einzulösen.
Es ist zu hoffen, dass der Zukunftsgipfel die Weichen für eine Reform der Vereinten Nationen stellen und deren Handlungsfähigkeit für Frieden, Nachhaltigkeit und Entwicklung stärken wird.
Zusammenfassend gilt es, dabei folgende Prioritäten zu setzen:
- AZ Stärkung des Friedensgebotes der UN-Charta;
- neue Initiativen zur Rüstungskontrolle und Abrüstung von Atomwaffen;
- Eindämmung des Klimawandels mit dem Ziel der Dekarbonisierung und Einhaltung des 1,5 Grad Ziels des Pariser Klimaabkommens;
- Bekämpfung des Hungers und der Armut sowie die Sicherstellung gleicher und gerechter Lebenschancen weltweit.
- Reform des UN-Sicherheitsrats mit einer Aufstockung der ständigen Mitglieder unter Berücksichtigung der Belange des Südens und einer neuen Abstimmungsregelung mit weniger Blockadepotenzial;
- Aufwertung und Stärkung der UN-Vollversammlung;
- Stärkung der Position des Generalsekretärs; die Vereinten Nationen sind eine Weltorganisation von 193 Mitgliedsstaaten aller fünf Kontinente, mit unterschiedlichen Interessen und Möglichkeiten, diese durchsetzen zu können. 75 Prozent davon stammen aus dem Globalen Süden.
Die UN sind nicht nur der Wahrung des Weltfriedens verpflichtet, sondern haben als gleichberechtigtes Ziel festgelegt, "eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen." (Kapitel I, Artikel 1 der UN-Charta)
Ein gewaltiger Anspruch, der nicht immer eingelöst werden konnte. Zur Geschichte der UN gehören historische Erfolge wie der Atomwaffensperrvertrag und der Atomwaffenverbotsvertrag, das Pariser Klimaabkommen und die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes. Aber leider auch das Scheitern bei der Verhinderung von Krisen und Kriegen.
Wo aber wäre die Welt ohne die Vereinten Nationen, die Millionen Menschen vor dem Hungertod retten konnten und mit dazu beigetragen haben, dass bis heute ein globaler Atomkrieg verhindert werden konnte?
Für Frieden, Klimaschutz, Menschenrechte und gerechte Lebensbedingungen aller Menschen einzutreten, ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe. Sich für das humanitäre Völkerrecht und die Vision einer friedlichen Welt im Sinne der UN-Charta einzusetzen, ist unser aller Aufgabe.
Rolf Bader, geb. 1950, Diplom-Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr, ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte:innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte:innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)