Was der Nato-Gipfel in Washington für unsere Zukunft bedeutet
Das Bündnis strebt mehr Aktionsbereitschaft an. Was das bedeutet, hat unlängst das Sipri-Institut erklärt. Wie 8.000 Städte auf die neue Aufrüstung reagieren.
Vom 9. bis zum 11. Juli 2024 findet in Washington das Gipfeltreffen der Nato statt, an dem die Mitgliedsstaaten teilnehmen werden. Auf dem Gipfel sollen zum 75. Jubiläum die historischen Erfolge des Bündnisses gebührend gewürdigt werden.
Das schwedische Friedensforschungsinstitut Sipri veröffentlichte kürzlich seine neusten Zahlen über die weltweiten nuklearen Arsenale: Weltweit gibt es über 12.000 Atomwaffen – ein Großteil davon in den Arsenalen der USA und Russlands.
Die Anzahl der einsatzbereiten Atomwaffen ist laut Sipri im vergangenen Jahr sogar auf 2.100 Stück gestiegen. Insgesamt gaben die neun Atomwaffenstaaten im letzten Jahr rund 91,4 Mrd. US-Dollar für Atomwaffen aus.
Weltweit werden die Atomarsenale aufgerüstet und Abkommen wurden aufgekündigt: Der INF-Vertrag ist gekündigt, obwohl er auf unbeschränkte Dauer geschlossen wurde. Gekündigt sind auch der Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr (ABM) und der Vertrag über den "Offenen Himmel" (OPen Skies).
Der New-Start-Vertrag über die strategischen Atom-Potenziale ist außer Kraft gesetzt, der umfassende Atomteststoppvertrag (CTBT) ist bisher nicht in Kraft getreten. Rüstungskontrollverhandlungen sind ausgesetzt und finden zwischen den Atomwaffenstaaten aktuell nicht statt.
Abrüstungsappell der Mayors for Peace an die Atomwaffenstaaten!
Am 8. Juli 2024 werden weltweit in über 8.000 Städten die Friedensflagge der Mayors for Peace gehisst, um ein Zeichen gegen Atomwaffen zu setzen. Auch in Deutschland beteiligen sich ca. 770 Städte und Gemeinden an der Aktion. Das weltweite Netzwerk wurde 1982 vom Bürgermeister der Stadt Hiroshima gegründet.
In Gedenken an die Opfer der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki, die 1945 von zwei Atombomber verbrannt und verstrahlt wurden, richten die Bürgermeister/-innen den eindringlichen Appell an die Atomwaffenstaaten, ihre Waffenarsenale abzurüsten.
Die beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki forderten unmittelbar über einhunderttausend Todesopfer. Die Bomben zerstörten beide Städte bis auf die Grundmauern.
Die nach 1945 durchgeführten über 2.000 Atomwaffentests haben lebensbedrohliche und langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen und massive Umweltschäden zur Folge. Allein die von den USA auf den Bikini Atollen gezündete Wasserstoffbombe hatte eine Sprengkraft von 15 Megatonnen: 1.000-mal stärker als die Hiroshimabombe!
Strahlenbedingte Erkrankungen, Fehlbildungen und radioaktive Verseuchung zählen zu den gravierendsten Folgen. Langfristig ist durch die in die Atmosphäre freigesetzte Radioaktivität nach konservativer Schätzung der IPPNW mit über drei Millionen Krebstoten zu rechnen. Viele der Überlebenden trugen und tragen die körperlichen Behinderungen und psychischen Folgen ihr ganzes Leben mit sich.
Am 8. Juli 1996 erklärte der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten, dass der Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig sei.
Atomwaffen seien Massenvernichtungswaffen, die unbegrenzt die Umwelt zerstörten und Kombattanten und die Zivilbevölkerung töteten.
Abschreckung mit Atomwaffen ist ein fragiles Konstrukt!
Der Ukraine-Krieg zeigt, wie fragil die atomare Abschreckung ist. Das Risiko einer Eskalation ist unbestreitbar vorhanden. Die Drohungen Russlands, Atomwaffen einsetzen zu wollen, sind ein Warnzeichen an die Nato-Staaten.
Im schlimmsten Fall droht sogar eine direkte Konfrontation zwischen Russland und der Nato. Ein Einsatz von Atomwaffen wäre mit dem Risiko eines globalen Atomkriegs verbunden.
Dieses Szenario ist real und eine existenzielle Gefahr.
Wohin steuert Deutschland?
"Kriegstüchtigkeit" – eine Wortschöpfung, die das Grundgesetz nicht kennt – bildet das Fundament der Kriegstauglichkeit, die alle zivilgesellschaftlichen Lebensbereiche in die militärstrategischen und operativen Planungen einbezieht. Selbst der Bildungs- und Schulbereich bleiben nicht ausgespart.
Zivilgesellschaftliche Resilienz soll u. a. durch umfassende Zivilschutzmaßnahmen, bei der Versorgung für die Bevölkerung, in den Bereichen der Logistik und der digitalen Kommunikation sowie des Transports erreicht werden.
Militärische Landesverteidigung baut auf die Erfahrungen aus der Zeit des Kalten Krieges. Sie umfasst u.a. wieder den Aufbau großer Panzerverbände mit Infanterie und Artillerie in Divisionsstärke, einer umfassenden Luftverteidigung und der Befähigung zum Luftangriff. Auch die Marine benötigt neue Schiffskapazitäten für den Ostseeraum.
Diese knappe Schilderung weist den Weg in eine ungewisse Zukunft. Brücken und Straßen müssen bundesweit ertüchtigt werden, um den Transport von Nato-Verbänden im Verteidigungsfall sicherstellen zu können.
Wie diese gesamtgesellschaftliche "Kriegstüchtigkeit" über den Bundeshaushalt finanziert werden soll, ist mehr als ungewiss. Schätzungen gehen davon aus, dass zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für diese Aufrüstung bei Weitem nicht ausreichen werden.
1970 veröffentlichte der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker zusammen mit Horst Afheldt die Studie "Kriegsfolgen und Kriegsverhütung", aus der ich zitieren möchte:
In der amerikanischen Abschreckungsstrategie spielt der Begriff des Überlebens als lebensfähige Industriegesellschaft (viable 20th Century society) eine wichtige Rolle. Man schätzt, daß die amerikanische wie die sowjetische Industrienation nicht als solche überleben kann, wenn sie mehr als 20 bis 25 0/0 ihrer Bevölkerung und 50 0/0 der Industriekapazität verliert. ....
Summarisch lässt sich unser Ergebnis so aussprechen: Gegen keine der oben aufgezählten Bedrohungen besitzt die Bundesrepublik eine Verteidigung, und sie hat auch keine Aussicht, eine solche Verteidigung im kommenden Jahrzehnt aufzubauen.
Unter dem Besitz einer Verteidigung wird dabei die Fähigkeit verstanden, einen Gegner, der entschlossen ist, die betreffende Drohung auszuführen, und der dafür auch großen Schaden in Kauf nimmt, durch Einsatz militärischer Mittel an der Verwirklichung der Drohung zu hindern.
Es scheint uns für alle sicherheitspolitischen Überlegungen der Gegenwart und Zukunft notwendig, diesem, den Fachleuten wohlbekannten Sachverhalt nüchtern und ohne Schreck ins Auge zu sehen.
Unter dem Aspekt der Kriegsfolgen ist zu sagen, daß ein konventioneller Krieg, der unser Land (in etwa drei Tagen) schnell durchzieht, nur begrenzten Schaden bringen würde, während der vielleicht denkbare Fall eines in unserem Lande hin- und hergehenden oder festgefahrenen, lang andauernden konventionellen Krieges uns Zerstörungen bringen würde, die an den Beispielen Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, Korea und Vietnam nur unvollkommen abzulesen sind und die, sowohl wegen der größeren Ausmaße wie wegen der größeren Verletzlichkeit eines Industrielandes, für unsere wirtschaftliche Fortexistenz lebensgefährlich werden könnten.
Carl Friedrich von Weizsäcker, Horst Afheldt
Schon damals bezweifelten Weizsäcker und Ahfeldt, dass bei einem Versagen der Abschreckung eine echte Verteidigungsoption für die Bundesrepublik bestünde. Ein lang andauernder konventioneller Krieg hätte existenzielle Folgen für die Funktionsfähigkeit einer modernen Industriegesellschaft.
Große Zerstörungen wären zu erwarten. Die Zahl menschlicher Verluste, Leid und Katastrophen ließe sich schwer quantifizieren. 1984 warnte Weizsäcker auf einem Vortrag an der Führungsakademie der Bundeswehr uns Offiziere, die Abschreckung würde uns nur ein kurzes Zeitfenster eröffnen, diese zu überwunden und dem Frieden eine Chance zu geben. Haben wir dieses knappe Zeitfenster genutzt?
Das Dilemma der "Strukturellen Nichtverteidigbarkeit moderner Industriestaaten"1 ist für mich eine Tatsache, die früher galt und auch heute Gültigkeit besitzt. Generäle planen Kriegsführung und den damit verbundenen Einsatz aller Waffengattungen, wenn notwendig, auch den Einsatz von Atomwaffen.
Sie sind davon überzeugt, dass sie ihr Land verteidigen und schützen können. Ob sie allerdings dabei die Kriegsfolgen, die territorialen Schäden an Infrastruktur und die Verluste der Zivilgesellschaft realistisch quantifizieren können, wage ich zu bezweifeln.
Versagt die Kriegsverhinderung, bewegt sich unsere Gesellschaft auf einen Abgrund zu. Ein Verteidigungsminister und das Bundeskabinett können gar nicht ermessen, welche Konsequenzen ein Kriegsfall für die Bundesrepublik Deutschland hätte.
Mir sind keine Kriegsfolgestudien bekannt, die sich aktuell mit einem Versagen der Abschreckung auseinandersetzen. Die auch die Folgen eines Einsatzes der in Büchel gelagerten Atomwaffen durch deutsche Luftwaffenpiloten einkalkuliert und quantifiziert.
Mehr Mut zu Diplomatie, Rückkehr zur Rüstungskontrolle
75 Jahre Nato wären ein Anlass für den Nato-Gipfel am 11./12. Juli 2024 in Washington, sich wieder verstärkt um Rüstungskontrolle und Abrüstung zu bemühen. Das wäre das Gebot der Stunde, das es zu nutzen gilt.
Das Nato-Jubiläum ermöglichte, Verhandlungsbereitschaft zu zeigen, Russland zu Gesprächen einzuladen und über Rüstungskontrolle zu verhandeln. Das wäre vielleicht ein erster Schritt, auch die verhärteten Fronten im Ukraine-Krieg zu lockern. Vielleicht gelingt es sogar, über diesen Weg eine Rahmenvereinbarung zu treffen, wie über einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg verhandelt werden könnte.
Ein Angebot der Nato, auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten, könnte dabei als Verhandlungseinstieg dienen.
Diese einmalige Chance sollte die Nato nutzen. Das wäre dann ein Jubiläum, das vielleicht Geschichte schreiben könnte.
Rolf Bader, geb. 1950, Diplom-Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr, ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte:innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte:innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)