Betrug am Wähler: Das große Täuschungsmanöver zur Bundestagswahl 2025

Selten wurde mehr geheuchelt als nach dem Ampel-Aus. Ein unrealistisches Steuerversprechen folgten dem anderen. Ein kritischer Rück- und Ausblick. (Teil 1)
Selten wurde im politischen Berlin mehr geheuchelt als nach dem Scheitern der Ampelkoalition. Zuerst behauptete der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, das in seiner Parteizentrale geschriebene Drehbuch für den Ausstieg aus der Bundesregierung (Stichwort: D-Day) "nicht zur Kenntnis genommen" zu haben, und viele Menschen glaubten ihm. Dabei ließ schon die gewundene Formulierung ahnen, dass Lindner es sehr wohl kannte.
Lügen spielten im jüngsten Bundestagswahlkampf überhaupt eine große Rolle. Reichskanzler Otto von Bismarck schreibt man schließlich das Bonmot "Niemals wird so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd" zu. Tatsächlich lohnte es sich in einem für die Zukunft unseres Landes so entscheidenden Wahlkampf für Politiker und Parteien, schlecht informierte Bürger/innen hinter die Fichte zu führen, wenn sie möglichst viele Stimmen bekommen wollten.
Steuerlügen im Wahl- und im Fernsehprogramm
Eine bis dahin nicht gekannte Rekordjagd lieferten sich die Wahlkämpfer in dem Bemühen, möglichst großvolumige Steuersenkungen zu versprechen. Selbst wirtschaftsnahe Institute gelangten zu dem Ergebnis, dass die Kosten für den Staat bis zu 180 Milliarden Euro jährlich betragen könnten und hauptsächlich Finanzkräftigen zugutekämen.
Dreist war eine Steuerlüge der Union, die Angehörigen der Unter- und Mittelschicht in ihrem gemeinsamen Wahlprogramm versprach:
Wir entlasten vor allem Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Dafür passen wir den Einkommensteuertarif an.
Wenn eine von CDU und CSU geführte Regierungskoalition – wie im weiteren Programmtext angekündigt – den Einkommensteuertarif spürbar abflachen, den Grundfreibetrag erhöhen und die Einkommensgrenze für den Spitzensteuersatz deutlich anhebt, wären aber nicht "Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen", sondern jene Topverdiener, welche ihn auch künftig zahlen müssen, die größten Nutznießer.
Entlastet man in einem linear-progressiven Steuersystem die Bezieher/innen der unteren Einkommen, profitieren davon nämlich auch die Bezieher der höheren und der höchsten Einkommen, und zwar in aller Regel sehr viel stärker als die Erstgenannten.
In dasselbe Horn wie die Union stieß Alice Weidel, die Kanzlerkandidatin der Alternative für Deutschland (AfD), als sie im "Kandidaten-Quadrell" bei RTL/ntv am 16. Februar 2025 behauptete:
Geringverdiener entlasten Sie am meisten, wenn Sie die Freibeträge erhöhen.
Richtig ist das Gegenteil: Von hohen Freibeträgen profitieren Spitzenverdiener am meisten, weil sie das zu versteuernde Einkommen reduzieren. Nur darauf müssten die Einkommensstärksten wegen der Progression noch die höchsten Steuern zahlen. Obwohl ein Freibetrag am unteren Ende der Einkommensskala dazu führen kann, dass überhaupt keine Steuern mehr anfallen, fällt der steuerliche "Entlastungsbetrag" oben weit höher aus. Geringverdiener/innen haben nun mal zu Recht einen niedrigeren Steuersatz als Besserverdienende.
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Man muss kein Steuerexperte sein, um erkennen zu können, dass CDU und CSU ebenso wie AfD und FDP die Bezieher der höchsten Einkommen begünstigen wollen. Denn im Wahlprogramm der Union heißt es weiter:
Wir senken die Unternehmenssteuerbelastung auf maximal 25 Prozent, schaffen den Rest-Soli ab und verbessern Abschreibungen und Verlustverrechnung.
Klar wird, wen die Union in Wirklichkeit "vor allem entlasten" möchte: Hochprofitable Konzerne und mittelständische Unternehmer müssten künftig einen niedrigeren Steuersatz zahlen als viele Normalverdiener/innen.
Auch die Abschaffung des Solidaritätszuschlages käme fast ausschließlich Spitzenverdienern, Kapitaleigentümern und (großen) Unternehmen, also keineswegs den "Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen" zugute. Einkommensmillionäre könnten einen fünfstelligen Eurobetrag im Jahr als "Einsparung" für sich verbuchen, Großaktionäre einen zweistelligen Millionenbetrag und profitable Konzerne sogar einen dreistelligen Millionenbetrag.
In voller Höhe wird der verbliebene Solidaritätszuschlag nämlich auf die Einkommensteuer von Topverdienern, die Kapitalertragsteuer für Zinsen und Dividenden sowie die Körperschaftsteuer – die Einkommensteuer der Kapitalgesellschaften (GmbHs und AGs) – erhoben.
Alice Weidel warb in mehreren Fernsehsendungen für das Familiensplitting der AfD, ein Steuermodell, mit dem auch CDU und CSU schon sympathisiert haben. Dabei wird die Summe der erzielten Einkünfte aller Familienmitglieder durch deren Anzahl geteilt, das geringe Resultat zu dem entsprechend relativ niedrigen Steuersatz besteuert und anschließend wieder mit der Anzahl der Familienmitglieder multipliziert. "Hierdurch werden", heißt es im AfD-Wahlprogramm, "Familien mit Kindern steuerlich entlastet.
Angesichts der in Deutschland deutlich zu geringen Geburtenrate schaffen wir dadurch auch einen Anreiz für mehr Kinder." Was die rechtsextreme Partei verschweigt: Am meisten Steuern sparen wegen des umgangenen Progressionseffekts ausgerechnet Spitzenverdiener und Hocheinkommensbezieher, während Familien mit einem niedrigen Einkommen darauf auch heute gar keine Steuern entrichten müssen.
Wie die ebenfalls geforderte "Verschiebung von weiteren Tarifeckwerten hin zum Spitzensteuersatz" (AfD-Wahlprogramm) verschärft das Familiensplitting die soziale Spaltung: Davon profitieren nicht die Krankenpfleger/innen, sondern die Chefärzte mit vielen Kindern.
Erklärungen bezüglich der Notwendigkeit und Möglichkeit, die entstehenden Einkommensausfälle des Staates gegenzufinanzieren, blieben hingegen rar. Vor allem diejenigen Politiker, deren Parteien den Rüstungsetat am liebsten verdoppeln oder verdreifachen würden, waren ausgesprochen wortkarg im Hinblick auf Sparvorschläge.
Außer finanziell wenig ergiebigen Leistungskürzungen bei Asyl- und Arbeitsuchenden fiel ihnen rein gar nichts ein. Wer mit offenen Augen durchs Land fährt und von maroden Schulen über fehlende Pflegekräfte und Wohnungen bis zu einstürzenden Brücken einen riesigen Investitionsbedarf feststellt, würde ohnehin eher die Notwendigkeit höherer Steuern konstatieren.
Weniger Bürokratie oder Bürokratie für wen?
"Entbürokratisierung" war eine weitere Kernforderung fast aller etablierten Parteien. Besonders häufig nannten deren Repräsentanten die Bonpflicht der Bäckereien als Beispiel für den Wust staatlicher Vorschriften und für eine sinnlose Gängelei seiner Bürger/innen. Niemand sprach indes über die gut 10 Milliarden Euro an jährlichen Steuerausfällen, die den Bund zum 1. Januar 2020 veranlasst hatten, die besagte Regelung einzuführen.
Auch wurde kein Widerspruch darin gesehen, dass ausgerechnet solche Politiker nach weniger Verwaltungsaufwand riefen, die Menschen im Bürgergeldbezug durch noch mehr Kontrollmaßnahmen, regelmäßige Meldeverpflichtungen und härtere Sanktionen stärker drangsalieren, also mehr Bürokratie schaffen wollten.
Es ging ihnen nämlich gar nicht – wie behauptet – um den Abbau von Bürokratie in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern um die Schaffung von mehr Freiraum des Kapitals bei der Umgehung des gesetzlichen Mindestlohns oder (auch – wie beim Lieferkettengesetz – grenzüberschreitend) des Arbeits- und des Umweltschutzes, also darum, die Wirtschaft in höherem Maße zu deregulieren und die Marktkräfte stärker zu entfesseln. Das ist für abhängig Beschäftigte eher nachteilig, wenn nicht sogar wegen größerer Arbeitshetze und schlechterer Arbeitsbedingungen die Hölle.
Statt in Kapitaleigentümer und abhängig Beschäftigte, Vermieter und Mieterinnen oder Arme und Reiche teilte man die Gesellschaft lieber in Faule und Fleißige ein. Mit einer "Agenda der Fleißigen" versprachen CDU und CSU wie einstmals Ludwig Erhard "Wohlstand für alle" zu schaffen, vernebelten den Oben-unten-Gegensatz durch Akzentuierung des Innen-außen-Gegensatzes und machten die im Rahmen der Flutmetaphorik als "Zustrom" dramatisierte Fluchtmigration für den Niedergang des Landes und seiner Wirtschaft verantwortlich.
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Merz und Scholz wetteiferten in ihrem "TV-Duell" bei ARD und ZDF am 9. Februar 2025 förmlich darum, wer am härtesten mit der "irregulären Migration" umgeht und die schärfsten Sanktionen gegen Menschen im Bürgergeldbezug befürwortet.
So lax die politisch Verantwortlichen mit Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen umgehen, die in Steuerbetrügereien wie Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte verwickelt waren oder sogar noch sind, so rigide, restriktiv und repressiv möchten sie mit Armen umgehen, die mittellos nach Deutschland gelangen und/oder keine Arbeit finden.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher "Deutschland im Krisenmodus" sowie "Umverteilung des Reichtums" veröffentlicht. Für das Jahr 2026 wurde von der Linkspartei als Kandidat für die Wahl des Bundespräsidenten nominiert und und hat diese Nominierung angenommen.