Wahlkampf 2025: Höhepunkte der Heuchelei

Maske mit Megafon, Seifenblase mit Migranten

Union erschüttert über Gewalt in Städten. Merz und Söder für Härte gegen Migranten. Ist die Empörung unglaubhaft? Ein kritischer Rückblick. (Teil 2)

Einen brisanten Höhepunkt der Heuchelei im Wahlkampf bildete der Umgang mit den Gewalttaten in Mannheim, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg und München. Nach dem Doppelmord in Aschaffenburg zeigten sich der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz und der CSU-Vorsitzende Markus Söder tief erschüttert über den Tod des kleinen Jungen, den ein aus Afghanistan stammender, psychisch gestörter Asylsuchender erstochen hatte.

Aufgrund der schrecklichen Geschehnisse, die mit den Namen der genannten Städte verbunden bleiben, erklärten beide Politiker, sie sähen sich gezwungen, eine Verschärfung der Migrationspolitik zu fordern, entsprechende Anträge in den Bundestag einzubringen und die Begrenzung des "Zustroms" von Flüchtlingen zur Kernforderung ihres Wahlkampfes zu machen, damit jedoch zentrale Zukunftsfragen der Gesellschaft aus diesem zu verdrängen.

Im auflagenstärksten Nachrichtenmagazin der Bundesrepublik hieß es, dass Merz wegen seiner Kinder und Enkel emotional stark berührt war. Er beklagte, dass außer ihm kaum noch jemand an die Opfer, an die Familien denke, und berief sich auf sein Gewissen, als die von ihm geführte Fraktion einen "Fünf-Punkte-Plan" zur Verschärfung der Migrationspolitik in den Bundestag einbrachte, der nur mit den AfD-Stimmen eine Mehrheit finden konnte.

Auch der bayerische Ministerpräsident ließ keine Fernsehkamera und kein Mikrofon aus, um seine Empathiefähigkeit zu zeigen, vergoss aber Krokodilstränen, als er nach dem Messerangriff auf eine Kita-Gruppe bewegt wie selten den Elternschmerz schilderte.

War es wirklich das unendliche Leid dieser Eltern, welcher Merz und Söder antrieb, oder nicht doch eher die Tatsache, dass afghanische Flüchtlinge als Gewalttäter ihr Feindbild bestätigte und sich im Bundestagswahlkampf leicht mit ihm Stimmung machen ließ, die sie in Stimmen bei der Bundestagswahl umzumünzen hofften?

Hätten die Vorsitzenden der Unionsparteien auch nur annähernd so viel Mitgefühl gegenüber Tausenden kleinen Kindern empfunden, die bei der Flucht ihrer Familien über das Mittelmeer ertranken oder bei israelischen Bombenangriffen im Gazastreifen zerfetzt bzw. verstümmelt wurden, wären sie bestimmt zu ganz anderen politischen Schlussfolgerungen gelangt, als die deutschen Außengrenzen zu schließen und mehr Geflüchtete (mitsamt ihren Kindern) schneller abzuschieben.

Sind es nicht CDU und CSU, die ein Tempolimit auf Bundesautobahnen verhindern, das noch mehr Eltern das schreckliche Schicksal ersparen würde, ihr Kind zu verlieren. Das ebenso große Leid dieser Eltern stört aber kein bisschen, weil es sich politisch nicht gegen Flüchtlinge und die Ampelparteien instrumentalisieren lässt.

Die im gescheiterten "Zustrombegrenzungsgesetz" der CDU/CSU-Bundestagsfraktion enthaltene Beendigung des ohnehin zahlenmäßig begrenzten Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte strafte Merzens und Söders angebliche Sorge um leidgeprüfte Eltern ebenfalls Lügen.

Dass die von der Union geforderten Gesetzesverschärfungen keine einzige der meist als Begründung angeführten Gewalttaten verhindert hätten, war genauso wenig von Bedeutung wie der Umstand, dass glaubwürdig nur ist, wer anstelle der Geflüchteten die Fluchtursachen bekämpft.

Würden die Pläne "zur Beendigung der illegalen Migration, zur Sicherung der deutschen Grenzen und zur konsequenten Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger Personen" (Fünf-Punkte-Plan) umgesetzt, müssten die staatlichen Sicherheitsorgane personell und sachlich besser ausgestattet werden, was letztlich auf mehr statt auf weniger Bürokratie hinausliefe.

Als wahrer Unmensch gilt, wer Personen, die Angst vor weiteren Anschlägen haben, durch den Hinweis zu beruhigen sucht, dass ihr Risiko, vom Blitz getroffen oder von einem Dachziegel erschlagen zu werden, weitaus größer ist als das, dem Tötungsversuch eines Flüchtlings zum Opfer zu fallen; als unmenschlich gilt aber nicht, Deutschland zu einer Festung auszubauen, Asylsuchenden keinen Schutz mehr zu gewähren und "irreguläre Migranten" in brutale Diktaturen abzuschieben.

Kaum noch jemand widersprach im Wahlkampf befristeten oder dauerhaften Grenzschließungen und bekannte sich zu Angela Merkels zuversichtlicher Ankündigung "Wir schaffen das", die man nur durch den Halbsatz "wenn wir es wirklich wollen" ergänzen müsste. Denn was armen Staaten wie Jordanien, dem Libanon oder der Türkei gelingt, die sehr viel mehr Flüchtlinge aufgenommen haben, ohne unter der Last zusammenzubrechen, müsste in einem so wohlhabenden, wenn nicht reichen Land wie dem unseren ebenfalls möglich sein.

Heuchlerisch wirkte auch, dass der FDP-Vorsitzende Christian Lindner in Wahlkampfreden und Talkshows argumentierte, man solle Migranten und Menschen im Bürgergeldbezug lieber gut qualifizieren, anstatt sie bloß zu alimentieren, damit ihre Sprach- und Sachkompetenz für den Arbeitsmarkt ausreiche, in seiner Funktion als Bundesfinanzminister die Mittel für Sprach- und Integrationskurse sowie die berufliche Aus- und Weiterbildung aber wiederholt gekürzt hat.

Spitzenpolitiker – bürgerfern

Ob weitere Waffenlieferungen an die Ukraine den Krieg beenden können oder ein sofortiger Waffenstillstand, Friedensverhandlungen und ein Abkommen mit Russland die bessere Lösung bieten, fand im Bundestagswahlkampf ebenso wenig ausreichend Beachtung wie die Frage, was Deutschland künftig sein will: Rüstungs- oder Sozialstaat lautet die Alternative der Gesellschaftsentwicklung.

Auch die wegen der geplanten Stationierung von US-Mittelstreckenraketen, Marschflugkörpern und Hyperschallwaffen in Deutschland wachsende Kriegsgefahr, welche vielen Menschen verständlicherweise Angst macht, hielten die Wahlkämpfer der etablierten Parteien offenbar für irrrelevant. Sonst hätten sie darauf überzeugende Antworten gegeben, statt das Problem zu tabuisieren.

Christoph Butterwegge
Christoph Butterwegge. Bild: Wolfgang Schmidt

Sprechen die Spitzenpolitiker des Landes einmal über das Leben und die Existenzsorgen von Armen, sind ihre Einlassungen von Sachkenntnis meist nicht getrübt. So machte Christian Lindner am 10. Februar 2025 in der ARD-Sendung Hart aber fair dreimal geltend, das Bürgergeld sei hoch genug, weil "objektiv" auf der Basis eines Warenkorbes berechnet, was aufgrund des Übergangs zum sog. Statistikmodell aber seit 1989/90 gar nicht mehr geschieht.

In derselben Fernsehsendung berief sich die CSU-Bundestagsabgeordnete Dorothee Bär auf das Lohnabstandsgebot, welches schon lange nicht mehr gilt, weil es ihre CDU-Parteifreundin Ursula von der Leyen als zuständige Ministerin aufgrund eines Verfassungsgerichtsurteils bereits zum 1. Januar 2011 aus dem Sozialgesetzbuch getilgt hat.

Auf die Frage des Moderators Louis Klamroth, ob die Union "Totalverweigerern" das Bürgergeld wirklich ganz streichen wolle, entgegnete Bär, es gebe ja noch eine Grundsicherung. Diese frühere Sozialhilfe ist jedoch genauso hoch wie das Bürgergeld und steht Erwerbsfähigen gar nicht zu.

Die verschärften Sanktionen träfen auch nicht die im öffentlichen Diskurs omnipräsenten "Totalverweigerer", sondern hauptsächlich Menschen mit gesundheitlichen oder psychischen Problemen und solche, die Angst vor Behörden haben und Schreiben ihres Jobcenters gar nicht mehr öffnen.

Narrative des Wahlkampfs und die Brandmauer als politisches Ablenkungsmanöver

Schon länger bemühen die etablierten Parteien den Mythos einer "Brandmauer" gegenüber dem organisierten Rechtsextremismus, um ihre schrittweise Annäherung an AfD-Positionen zu bemänteln. Auch hielt die Chimäre der Brandmauer viele Politiker nie davon ab, sich in Landtagen und Kommunalparlamenten von der AfD wenigstens punktuell unterstützen zu lassen.

Die beredten Klagen über das Einreißen der Brandmauer durch Friedrich Merz und seine Gefolgsleute im Bundestag nach der Abstimmung über den "Fünf-Punkte-Plan" und den Entwurf eines "Zustrombegrenzungsgesetzes" lenkten davon ab, dass neben CDU und CSU auch FDP, SPD und Bündnisgrüne ihre Flüchtlingspolitik den AfD-Positionen immer mehr angenähert haben.

Statt von "Remigration", in Wirklichkeit gemeint: eine Deportation von Menschen mit ausländischen Wurzeln, ist bei den etablierten Parteien verharmlosend von "Rückführung" die Rede, was für die sog. "Dublin-III-Fälle" mit derselben Drohung verbunden ist: "Bett, Brot und Seife" heißt es inzwischen nicht bloß bei der AfD, sondern auch bei CDU, CSU und FDP. Das in der Verfassung stehende Grundrecht auf Asyl (Art. 16a Abs. 1 GG) gibt es dann angeblich weiterhin, das Recht, es an einer deutschen Grenze bei oder nach der Einreise zu beantragen, allerdings nicht mehr.

Weil eine moralische Verdammung der beiden genannten Abstimmungsvorgänge im Bundestag dominierte, wurde über die fragwürdigen politischen Inhalte und die parlamentarischen Dehnübungen der beteiligten Parteien viel zu wenig diskutiert. Das gilt in erster Linie für die Union.

Schließlich wurden die jeden normalen Menschen abstoßenden Gewalttaten als Vorwand benutzt, um jenen radikalen Rechtskurs durchsetzen zu können, den Friedrich Merz, sein Generalsekretär Carsten Linnemann und der frühere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn der CDU nach dem digitalen Parteitag im Januar 2022 auf den Handlungsfeldern Asyl, Migration und Innere Sicherheit verordnet hatten.

In seinem TV-Duell mit Olaf Scholz behauptete Friedrich Merz allen Ernstes:

Es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen AfD und Union. Uns trennen in den Sachfragen Welten.

Dabei sind ihre Kernforderungen nicht bloß in der Flüchtlings- und Migrationspolitik, sondern auch in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik fast deckungsgleich. Vor allem passt kein Stück Papier zwischen ihre steuerpolitischen Positionen. Eigentlich müsste das Herz von Merz beim Lesen des AfD-Wahlprogramms höherschlagen. Dort finden sich zuhauf Sätze wie die folgenden:

Staatliche Eingriffe in den Markt werden wir auf ein Minimum reduzieren. Wir sorgen stattdessen für Rahmenbedingungen, die Deutschland wieder attraktiv machen und unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit wieder herstellen.

Schöner könnte das kein BlackRock-Manager formulieren.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher "Deutschland im Krisenmodus" sowie "Umverteilung des Reichtums" veröffentlicht. Für das Jahr 2026 wurde von der Linkspartei als Kandidat für die Wahl des Bundespräsidenten nominiert und und hat diese Nominierung angenommen.