Kalter Krieg reloaded: Wie Deutschland erneut zum Ziel wird

Pershing II, Tomahawk

Pershing II. Bild: U.S. Navy / Tomahawk. Bild: U.S. Navy

Nato und Russland erneut auf Konfrontationskurs. Deutschland wortwörtlich zwischen Fronten. Das liegt auch an einer Kehrtwende von SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz.

Wer sich zu Beginn der 1980er-Jahre als Mitglied der damaligen Friedensbewegung gegen die Stationierung von US-amerikanischen Pershing II und Cruise-Missiles in der Bundesrepublik engagiert hat, fühlt sich derzeit wie in einem über 40 Jahre alten Film.

Obwohl es längst keine Sowjetunion, keinen Warschauer Pakt und keinen Staatssozialismus in Osteuropa mehr gibt, stehen sich auf unserem Kontinent erneut zwei hochgerüstete Lager gegenüber, die offenbar nach militärischer Überlegenheit streben und ihren zum Todfeind erklärten Antipoden am liebsten vernichten würden.

Während die Russische Föderation unter Präsident Putin seit zweieinhalb Jahren einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, rückt die Nato unter Führung der USA als stärkster Militärmacht der Welt schon länger immer dichter an Russland heran und steigert ihre Rüstungsausgaben momentan in einer Weise, die mit legitimen Verteidigungsanstrengungen nichts mehr zu tun haben.

Von der Abschreckungsideologie zur Erstschlagstrategie?

An der sicherheitspolitischen Retrospektive erschreckt besonders die Tatsache, dass frühere, während der Kubakrise gewonnene Erkenntnisse der beiden Militärbündnisse aus dem Bewusstsein heutiger Staatsmänner verschwunden zu sein scheinen.

Dies gilt etwa für die Bereitschaft, zugunsten eines ungefähren Kräftegleichgewichts, nach 1962 per Abkommen zwischen den Weltmächten besiegelt, auf die Fähigkeit zu verzichten, das atomare Zweitschlagspotenzial des Kontrahenten auszuschalten.

Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler. Bild: Wolfgang Schmidt

Ab dem übernächsten Jahr sollen erneut Mittelstreckenraketen der USA in Deutschland stationiert werden. Statt wie seinerzeit mit dem Nato-Doppelbeschluss, der die Ankündigung einer atomaren Nachrüstung des Westens immerhin noch mit einer radikalen Abrüstungsforderung gegenüber der UdSSR verband, durch offiziellen Beschluss einer Sondersitzung der Außen- und Verteidigungsminister des Bündnisses am 12. Dezember 1979, erfuhr man dieses Mal am Rande des jüngsten Gipfeltreffens in Washington mehr zufällig und auch nur aus einer bilateralen Kurzmitteilung von dem gefährlichen Plan der Vereinigten Staaten und der Bundesregierung, SM-6-Raketen, eine landgestützte Version des Marschflugkörpers Tomahawk und Hyperschallwaffen in Deutschland aufzustellen.

Außer dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, der friedenswissenschaftlich qualifiziert ist und die offenbar nicht mit ihm abgestimmte Entscheidung des Bundeskanzlers für eine Raketenstationierung öffentlich infrage stellte, meldete kein namhafter Politiker überhaupt Bedenken gegenüber den die verharmlosend "Abstandswaffen" genannten Mittelstreckenraketen an.

Entsprechend leise und kritiklos fiel das massenmediale Echo aus. Typisch war ein Zeitungskommentar, der die neuen Raketen mit ihrem vermeintlichen Abschreckungseffekt rechtfertigte1:

Die von 2026 an geplante Stationierung von Marschflugkörpern des Typs Tomahawk sowie ballistischer und Hyperschallraketen soll die Möglichkeit schaffen, Ziele weit auf russischem Gebiet zu treffen. Das soll einem möglichen Irrglauben Wladimir Putins entgegenwirken, Nato-Territorium aus relativer Sicherheit angreifen zu können.

Dabei ist die Abschreckungswirkung der genannten Waffensysteme gleich null, weil sie ein Aggressor – hieße er Putin oder wie auch immer – mit großkalibrigen Nuklearwaffen relativ leicht ausschalten könnte. Dienten sie tatsächlich dem angegebenen Zweck, würde man sie vernünftigerweise auf mehrere Nato-Staaten verteilen, um dem Feind einen Gegenschlag zu erschweren, und nicht ausschließlich in Deutschland stationieren.

Ansonsten ergeben die US-Raketen nur als Erstschlagswaffen militärisch Sinn, weil sie russische Kommandozentralen vernichten könnten. Dies wiederum fordert Russland womöglich zu einer militärischen Reaktion heraus. Mit den neuen Mittelstreckenraketen zieht Deutschland auf jeden Fall den Krieg wie ein Magnet an.

Gegenwärtig feiert die Abschreckungslogik, obwohl intellektuell eher schlicht, fröhliche Urständ. Auf ihrer Grundlage wurde den Westdeutschen schon in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren große Angst eingejagt. Damals raunte man sich nicht bloß in Köln zu: "Wenn wir nicht aufrüsten, steht der Russe bald am Rhein."

Schaut man sich die Realität an, ist es genau umgekehrt: Nato-Truppen stehen bereits an der russischen Westgrenze, eine Kampfbrigade der Bundeswehr künftig nur wenige Kilometer davon entfernt in Litauen.

Die westlichen Militärexperten wissen sogar, wann "der Russe" angriffsfähig ist. Obwohl dieser noch auf unabsehbare Zeit in einen verlustreichen Krieg gegen die Ukraine verwickelt ist, soll er in den Jahren 2029/30 in der Lage sein, einen Nato-Staat und den "freien Westen" – wie es schon wieder heißt – zu überfallen.

Selbst wenn Wladimir Putin das wollte, würde es ihm und seiner Armee wohl kaum gelingen, weil die USA laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut Sipri zehnmal so viel für Rüstung ausgeben, wie Russland – von den Militäretats der übrigen 31 Nato-Staaten gar nicht zu reden. Allein die Rüstungsausgaben der europäischen Nato-Mitglieder übersteigen den russischen Gesamtetat.

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) trägt die Abschreckungslogik wie eine Monstranz vor sich her2:

Die beste Form, einen Krieg zu verhindern, ist Abschreckung. Abschreckung ist die beste Verteidigung.

Was die Standortlogik für neoliberale Ökonomen, Finanzmarktakteure und Wirtschaftslobbyisten, ist die Abschreckungslogik für Militärs, Sicherheitspolitiker und Rüstungslobbyisten – eine Ideologie, die sie befähigt, ihre lukrativen Sonderinteressen unter Rückgriff auf Alltagserfahrungen der Bevölkerungsmehrheit für allgemeingültig zu erklären.

Fast jeder hat es als Kind schon mal erlebt: Ist man selbst etwa mit einem Stock oder einem Messer bewaffnet, schreckt selbst der gewalttätigste Nachbarsjunge vor einem Angriff zurück. Würde die Sicherheitspolitik aller Staaten dieser primitiven Philosophie folgen, versänke die Welt im Rüstungswahn eines permanenten Wettrüstens.

Während Pistorius nach "Kriegstüchtigkeit" der Bundesrepublik strebt, geht es im Nuklearzeitalter mehr denn je um Friedensfähigkeit, die ein kollektives Sicherheitssystem am besten zu gewährleisten vermag. Statt dass Militärmächte und -bündnisse ein Wettrüsten gegeneinander veranstalten, müssen sie alle gemeinsam dafür sorgen, dass es keinen Angriff gibt oder er mit vereinter Kraft zurückgeschlagen wird.

Wiedergeburt der Friedensbewegung?

Das treffendste Argument gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland hat der spätere Verteidigungsminister und SPD-Kanzler Helmut Schmidt bereits 1961 in seinem Buch Verteidigung oder Vergeltung vorgebracht3:

Landgestützte Raketen gehören nach Alaska, Labrador, Grönland oder in die Wüsten Libyens oder Vorderasiens, keineswegs aber in dichtbesiedelte Gebiete; sie sind Anziehungspunkte für die nuklearen Raketen des Gegners. Alles was Feuer auf sich zieht, ist für Staaten mit hoher Bevölkerungsdichte oder kleiner Fläche unerwünscht.

Knapp 20 Jahre später wollte Schmidt davon nichts mehr wissen. Er stellte als Bundeskanzler politisch die Weichen dafür, dass unter seinem Nachfolger Helmut Kohl aufgrund eines Bundestagsbeschlusses vom 22. November 1983 atomare Mittelstreckenwaffen (Pershing II und Cruise-Missiles) in Westdeutschland aufgestellt wurden.

Der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz, damals stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender, verstand sich als Teil des Massenprotests gegen die Raketenstationierung und veröffentlichte gemeinsam mit zwei anderen Funktionären der sozialdemokratischen Jugendorganisation einen Buchbeitrag zur Neuausrichtung der Friedensbewegung, in dem steht4:

Für die Jungsozialisten war und ist der US-Imperialismus die Hauptgefahr für den Weltfrieden.

Man fragt sich unwillkürlich, wer im Laufe der Zeit eine größere Wandlung durchgemacht hat: Olaf Scholz oder der US-Imperialismus. Letzterer lieferte mit der nicht durch die UN-Charta gedeckten Bombardierung Belgrads im Kosovokrieg, dem am 5. Februar 2003 durch eine Lüge des damaligen Außenministers Colin Powell über die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins im UN-Weltsicherheitsrat gerechtfertigten Angriffskrieg gegen den Irak, dem Afghanistankrieg sowie der Folterpraxis im Abu-Ghraib-Gefängnis und auf dem Luftwaffenstützpunkt Guantánamo (Kuba) genug Indizien dafür, dass sein aggressiver Charakter bis heute erhalten geblieben ist.

Wohl eher ist Scholz den linken, antimilitaristischen und sozialistischen Grundüberzeugungen seiner Jugend auf dem langen Weg bis ins Kanzleramt untreu geworden.

Angesichts der wachsenden Kriegsgefahr wäre ein Wiederaufleben der Friedensbewegung nach dem Vorbild des Massenprotests gegen die Stationierung der US-amerikanischen Mittelstreckenraketen in den 1980er-Jahren nötig. Nur wenig Hoffnung in dieser Hinsicht hat Heribert Prantl.5 Das frühere Mitglied der SZ-Chefredaktion verkennt allerdings, dass es nach dem Beschluss über die Stationierung von Pershing II und Cruise-Missiles auch über 20 Monate gedauert hat, bis Hunderttausende am 10. Oktober 1981 auf der Bonner Hofgartenwiese demonstrierten.

Auch damals gab es zunächst das Gefühl der Aussichtslosigkeit, die Angst vor einem Dritten Weltkrieg lähmte viele Menschen und sie fürchteten zwar nicht, als "Putin-Freunde" zu gelten, wurden jedoch als "Moskaus fünfte Kolonne" beschimpft und bekamen immer wieder zu hören: "Geht doch nach drüben."

Erst nachdem einerseits Details über die Erstschlagfähigkeit der US-Mittelstreckenraketen und Pläne skrupelloser Militärstrategen zur "Enthauptung" der Sowjetunion bekannt geworden waren und sich andererseits Kirchen, Gewerkschaften sowie zahllose Akteure der Zivilgesellschaft mit überzeugenden Argumenten in die westdeutsche Nachrüstungsdebatte eingeschaltet hatten, gewann die hiesige Friedensbewegung an Schwung.

Daher ist Defätismus fehl am Platz und ein Zeitfenster existent, das genutzt werden muss, um die breite Öffentlichkeit zu informieren und die Menschen gegen Kriegsszenarien aller Art zu mobilisieren.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge war in den 1980er-Jahren einer der Sprecher des Bremer Friedensforums und in den frühen 1990er-Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung. Er hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und kürzlich die Bücher "Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung" sowie "Umverteilung des Reichtums" veröffentlicht.