75 Jahre Nato: Freundschaft, Frieden, Fernlenkwaffen

HAWK-Luftabwehrsystem auf dem Übungsplatz Capu Midia in Rumänien. Bild: NATO/Michael Linennen

44-mal wird Russland in der Nato-Erklärung genannt. Die Frontstellung ist klar. Die Unterstützung groß. Die Zeichen stehen auf Krieg. Ein Telepolis-Leitartikel.

In einer feierlichen Zeremonie, die von klassischer Musik und Chorgesang begleitet wurde, gedachte die Nato am Dienstagabend in der US-Hauptstadt Washington ihrer Gründung vor 75 Jahren. Man traf sich im historischen Andrew-W.-Mellon-Auditorium, dem Ort, an dem die Gründungsakte der Nato einst von zwölf Ländern unterschrieben worden war. US-Präsident Joe Biden betonte die Bedeutung der Allianz für Frieden und Freiheit.

Biden erinnerte an die Anfänge der Allianz nach dem Zweiten Weltkrieg. Er hob hervor, dass das Bündnis als Reaktion auf die Bedrohungen jener Zeit entstanden sei und bis heute eine zentrale Rolle für die Sicherheit und den Zusammenhalt der Mitgliedsstaaten spiele.

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"Sie wussten, um künftige Kriege zu verhindern und die Demokratie zu beschützen, mussten sie ihre Kräfte bündeln", zitierte Biden die Gründer der Nato.

Der Präsident nahm die Gelegenheit wahr, um auch auf den Kurs des Bündnisses einzugehen. Er sprach von einer Erfolgsgeschichte, die sich nicht zuletzt in der Erweiterung der Nato um neue Mitgliedsstaaten zeige.

Das war schon der erste innere Widerspruch. Denn während man das Militärbündnis ausdehnt, bestreitet man diese Erweiterung, sofern sie als Vorwurf aus Moskau formuliert wird.

Diplomatische Lösung verpasst

Ohne solche Konflikte – hätte man sie also diplomatisch in einem gesamteuropäischen Sicherheitsraum ausgeräumt –, wäre aber auch die aktuelle Zuspitzung unnötig. Das hätte dann wirklich zum Frieden beigetragen, wenn auch zu einem militärisch gesicherten Frieden.

Wie tiefgreifend die Frontstellung zwischen der Nato und Russland inzwischen aber ist, macht eine einfache Zahl deutlich: 44. So oft wird Russland in der Erklärung zum 75-jährigen Bestehen des Nordatlantikpaktes genannt, nicht einmal davon positiv oder auch nur neutral.

Russland ist das neue, alte Feindbild. Auch das ist eine historische Klammer und das historische Drama, das im Washingtoner Festakt feierlich weginszeniert wurde.

Einst Sicherheitsexperten, heute Parias

Sicherheitsexperten aus dem Kalten Krieg, die damals einen globalen, wahrscheinlich nuklearen Konflikt vermieden haben, verweisen immer wieder darauf, dass eine Überwindung der Feindschaft die große Chance Anfang der Neunzigerjahre gewesen wäre.

Sie alle stehen heute außerhalb des akzeptierten Narrativs, sind wie John J. Mearsheimer von führenden Diplomaten und Sicherheitspolitikern zu Parias geworden.

Der globale Machtanspruch der Nato wird im vierten Absatz der Erklärung deutlich. Dort heißt es:

Strategischer Wettbewerb, allgegenwärtige Instabilität und immer wiederkehrende Schocks bestimmen unser weiteres Sicherheitsumfeld. Konflikte, Fragilität und Instabilität in Afrika und im Nahen Osten wirken sich unmittelbar auf unsere Sicherheit und die Sicherheit unserer Partner aus. Wo sie vorhanden sind, tragen diese Trends unter anderem zu Zwangsvertreibungen bei, die den Menschenhandel und die irreguläre Migration anheizen. Die destabilisierenden Aktionen des Iran beeinträchtigen die euro-atlantische Sicherheit. Die erklärten Ambitionen der Volksrepublik China (VRC) und ihre Zwangspolitik stellen weiterhin eine Herausforderung für unsere Interessen, Sicherheit und Werte dar. Die sich vertiefende strategische Partnerschaft zwischen Russland und der VR China und ihre sich gegenseitig verstärkenden Versuche, die regelbasierte internationale Ordnung zu untergraben und umzugestalten, geben Anlass zu großer Sorge. Wir sind mit hybriden, Cyber-, Weltraum- und anderen Bedrohungen und böswilligen Aktivitäten von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren konfrontiert.

Es hat nur wenige Stunden gedauert, da kam es zum schweren Schlagabtausch zwischen der in Brüssel ansässigen Nato und Beijing. In China wird auch nur die leichteste Positionierung des westlichen Militärbündnisses gegen die eigenen Interessen mit einer hohen Sensibilität verfolgt. Damit ist nach dem Gipfel von Washington deutlich, dass der Konflikt fortan an zwei geopolitischen Brennpunkten stattfinden wird: Osteuropa und Asien.

Deutschland wird Hotspot

Es wäre naiv gewesen, zu glauben, dass Deutschland mit seiner strategisch wichtigen Position auf dem kommenden europäischen Schlachtfeld unangetastet bleibt. Zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg kehren Langstreckenwaffen in die Bundesrepublik zurück. In einer gipfelflankierenden Erklärung Deutschlands und der USA heißt es, hier in Übersetzung des US-Textes:

Die Vereinigten Staaten werden im Jahr 2026 mit der vorübergehenden Stationierung der Langstreckenwaffen (orig.: long-range fires capabilities) ihrer Multi-Domain-Task Force in Deutschland beginnen, als Teil der Planung für die dauerhafte Stationierung dieser Kapazitäten in der Zukunft. Im Endausbau werden diese konventionellen Langstreckenfeuereinheiten SM-6, Tomahawk und in der Entwicklung befindliche Hyperschallwaffen umfassen, die eine deutlich größere Reichweite haben als die derzeitigen landgestützten Feuerwaffen in Europa. Die Ausübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten wird das Engagement der Vereinigten Staaten für die Nato und ihren Beitrag zur integrierten Abschreckung in Europa demonstrieren.

Was nun als Reaktion auf die Bedrohung aus Russland nach der Ukraine Version 2022 dargestellt wird, war allerdings zuvor schon beschlossene Sache; ein nicht unwesentliches Detail.

In einer Ausarbeitung der wissenschaftlichen Dienste des US-Kongresses heißt es zum zeitlichen Ablauf:

Am 13. April 2021 gab die Armee bekannt, dass sie ihre 2. MDTF (also Multi-Domain-Task Force) in Deutschland stationieren wird. Die in Deutschland stationierte MDTF soll die U.S. Army in Europa und Afrika unterstützen. Am 16. September 2021 aktivierte das Heer die 2. MDTF in der Clay Kaserne in Wiesbaden, die zunächst aus einem Hauptquartier, einem Kommando für Aufklärung, Cyberspace, elektronische Kriegsführung und Raumfahrt sowie einer Brigadeunterstützungskompanie besteht.

CRS

Damit scheint die Stationierung sowohl dieser neuen gemischten Einheit als auch der Waffensysteme schon im Herbst 2021 beschlossene Sache gewesen zu sein.

Alle bereiten sich auf großen Konflikt vor

Wechselseitig bereiten sich also die Nato und Russland auf einen großen Konflikt vor, die Anzeichen dafür werden immer deutlicher. Europa und vor allem Deutschland werden damit im Zentrum einer solchen Auseinandersetzung stehen, die im Wesentlichen aus den USA als Nato-Führungsmacht gesteuert wird.

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Im Vorfeld des Nato-Gipfels in Washington hatte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, vor einem möglichen Angriff Russlands auf die Nato ab dem Jahr 2029 gewarnt.

Russland baue ein militärisches Potenzial auf, das deutlich über das für den Konflikt in der Ukraine benötigte hinausgehe, so der Generalinspekteur.

Die russischen Streitkräfte planten einen Aufwuchs auf 1,5 Millionen Soldaten. Die jährliche Produktion von 1.000 bis 1.500 Panzern in Russland stelle eine ernst zu nehmende Herausforderung dar, verglichen mit den Beständen der fünf größten Nato-Armeen in Europa, die zusammen gerade einmal die Hälfte dessen aufweisen, so Breuer.

Das alles ist nicht in Abrede zu stellen. Die Frage aber, was die Henne und was das Ei ist, wird auf beiden Seiten der kommenden europäischen Front vollkommen unterschiedlich beantwortet.

Denn auch führende russische Politiker begründen die "Spezialoperation" genannten Krieg in der Ukraine mit den militärischen Fähigkeiten der Nato. Eine klassische Eskalationslogik, aus der bislang niemand einen Ausweg zu suchen bereit ist.

Erinnerung an Nato-Doppelbeschluss von 1979

Man könnte die aktuelle Lage mit dem Nato-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 vergleichen. Der Vergleich hinkt aber an einer Stelle: Damals war die Stationierung von Langstreckenwaffen in Europa an Rüstungskontrollverhandlung gebunden. Diese stehen derzeit nicht in Aussicht und werden auch nicht gefordert.

Stattdessen scharen Staatsführungen beider Seiten ihre Bevölkerung hinter sich – und das erfolgreich. In Russland ist die Unterstützung für den Krieg in der Ukraine und weiterführende Militäraktionen ungebrochen. In Deutschland ist vor diesem Hintergrund eine hohe Unterstützung für die Nato zu verzeichnen, wie eine Umfrage von dimap zeigt.

Große Unterstützung für Nato

79 Prozent der deutschen Befragten empfinden die globale Bedrohungslage als zunehmend risikoreich. Dies spiegelt sich auch in der hohen Bedrohungswahrnehmung durch Russland wider, die 63 Prozent der Deutschen teilen. Interessanterweise schätzen Anhänger von AfD und Linkspartei diese Gefahr deutlich geringer ein.

Die Zustimmung zur Nato ist in Deutschland mit 78 Prozent besonders hoch. Dies könnte einerseits durch die geografische Nähe zum Ukraine-Krieg begründet sein, andererseits durch die Forderung nach mehr europäischen Investitionen in die Allianz.

Die Welt in der Vorkriegsära

Die positive Bewertung übersteigt parteipolitische Grenzen, wobei die Zustimmung bei Anhängern der Ampel-Parteien und der CDU über 90 Prozent liegt. Im Gegensatz dazu sehen nur 30 Prozent der Deutschen die Nato als nicht mehr zeitgemäß an, was im Vergleich zu den USA (40 Prozent) eine geringere Zahl darstellt.

Damit hat der Nordatlantikpakt Zustimmung zur weiteren Militarisierung und Machtakkumulation. Auch das ist ein entscheidender Unterschied zu 1979, als Hunderttausende gegen die Aufrüstungspolitik in Westeuropa und vor allem in Westdeutschland auf die Straße gingen.

2024 ist von einem solchen Widerstand kaum etwas wahrzunehmen.

Die Welt rüstet auf. Und die Mehrheit will es so.