Das Präsident gewordene Selfie

Seite 2: Analyse der Beobachter

"Die Trump-Ära hat so viele Bücher über die düsteren Gefahren hervorgebracht, denen der Staat ausgesetzt sei, dass ihre Titel klingen, als redeten sie miteinander, eine gesprochene Poesie des politischen Zusammenbruchs" - ein ganz besonderes Buchprojekt ist das des Washington Post-Redakteurs Carlos Lozada: "What Were We Thinking" - also im Doppelsinn: "Was wir uns gedacht haben", aber auch "Was haben wir uns bloß gedacht!".

150 Buchtitel hat sich Lozada näher angeschaut, um eine "kurze Geistesgeschichte der Trump-Ära" zu schreiben. Auch dieses Buch ist auf bizarre Weise sehr lustig, denn ohne Frage ist das Lachen eine sehr geeignete Form, sich den Schrecken vom Leib zu halten.

Um seinen Gegenstand zu ordnen, hat ihn Lozada nach Themen in zehn Rubriken unterteilt, unter denen er jeweils mehrere Bücher bespricht: "The Chaos-Chronicles" handelt vom hanebüchenen Alltag im Weißen Haus unter Trump, "Him Too" dreht sich um Bücher zum Sujet "Trump und die Frauen". Es geht um Trumps Wahlkampf, um "Post-Wahrheit" und "alternative Fakten" und um die Betrogenen: "Die weiße Arbeiterklasse".

Das eigentliche Ergebnis seines Buches geht aber weit über diese einzelnen Schneisen in den Trump-Dschungel hinaus. Denn genau genommen handelt Lozadas Buch gar nicht primär von Trump. Sondern es ist eine Analyse von dessen Beobachtern.

Das Problem ist nicht die Person Trump

Zuallererst von ihren Täuschungen, die jenen der Steigbügelhalter der deutschen Diktatur nicht nachstehen. Lozada konstatiert kühl:

Während Trumps Wahlkampf 2016 und sogar zu Beginn seiner Präsidentschaft phantasierten einige konservative Kommentatoren und Intellektuelle, dass Trump sich ändern würde, dass die Schwerkraft des Amtes ihn in etwas anderes verwandeln würde als das, was er war. Aber es gab keine Kehrtwende; sowohl als Kandidat als auch als Präsident blieb Trump Trump treu. Der einzige wahrnehmbare Wende kam von den Konservativen selbst.

Carlos Lozada

Lozada zeigt, wie wir alle auch immer wieder in die Fallen gehen, die nicht so sehr von Trump selbst gestellt werden - der ist vielleicht naiver und triebgesteuerter, als wir alle es uns vorstellen können -, sondern die in den blinden Flecken und dem fasziniert-abgestoßenen Tunnelblick seiner Begleiter, Kommentatoren und Gegner angelegt sind.

Ein Beispiel hierfür ist das frühe Bestseller-Buch von Michael Wolff: "Fire and Fury" liefert laut Lozada weniger erschütternde Einblicke in Trumps Arbeitsweise - mit solchen Einblicken hatte man sowieso gerechnet - als "eine Blaupause" für einen einseitig-verengten Blick aufs Weiße Haus, der in diesem nur ein Chaoszentrum sehen will und nicht etwa einen Präsidenten, der von einem Apparat umgeben ist, der sehr wohl weiß, was er tut und der dafür sorgt, dass der Elefant im Porzellanladen nicht allzu viel Unheil anrichten kann.

Das Ergebnis vieler Bücher, so Lozada, sei vor allem eine Abstumpfung des Publikums. Man nehme Dinge hin und halte sie für möglich, wenn nicht sogar für normal, die noch vor ein paar Jahren unvorstellbar gewesen wären. Und es gibt keinen Widerstand mehr dagegen, nur Erschöpfung.

Trump mag die Muse der "Tod-der-Demokratie"-Bücherregale sein, aber er trägt dieses Prädikat nicht allein. Degradierte Normen und entrechtete Wähler, ... prinzipienlose politische Parteien und ungleiche Rechtsprechung - das sind nur einige der vielen Krankheiten der Demokratie in unserem Zeitalter.

Carlos Lozada

Der tiefste Abgrund der Gegenwart liegt nicht in der Person Trump. Er liegt auch nicht in alldem, was nicht stimmt mit der Demokratie. Sondern er liegt in ihren Bürgern, in uns, die wir uns unsere wahre Lage und unsere Schwächen nicht eingestehen wollen, trotz aller dunkler Ahnungen.

Trump ist ein Symptom dafür. Ein trotz allem sehr unterhaltsames und noch besser ablenkendes Symptom. Denn es laufen ein paar Dinge falsch, wenn wir Europäer uns dauerhaft mehr mit Trump beschäftigen als mit Orban, Erdogan, LePen, der PiS-Partei, als mit AFD und Pegida und Schellroda und Konsorten.

Oder wenn uns der Tod von George Floyd näher geht, als die Terror-Morde von Hanau. Kennen wir nur einen der Namen der Opfer? In alphabetischer Reihenfolge: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov.

Noch ist Lozadas Buch, das im Oktober erschien, nicht übersetzt. Aber das kann nicht mehr lange dauern. Bis dahin helfen uns bei der anstehenden Trump-Entziehungskur die genannten Mafia-Filme. Oder wir schauen einfach mal in der Fußgängerzone vorbei und betrachten die Hütchenspieler.

Buchhinweise:

Theodor W. Adorno: "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag"; Mit einem Nachwort von Volker Weiß; Suhrkamp Verlag, Berlin 2019

Kristin Dombek: "Die Selbstsucht der anderen. Ein Essay über Narzissmus"; Suhrkamp Verlag, Berlin 2016

Carlos Lozada: "What Were We Thinking. A Brief Intellectual History of the Trump Era" Verlag Simon & Schuster; New York 2020

Rick Reilly: "Der Mann, der nicht verlieren kann."; Hoffmann & Campe, Hamburg 2020