"Das Putzen hat meine Skepsis über den aufgeblasenen Intellektualismus voll und ganz bestätigt"
Warum mein Ex-Kollege und Philosophieprofessor Hans Harbers die Universität verließ und schließlich als Putzmann arbeitete
Hans Harbers (Jahrgang 1954) war von 1989 bis 2019 Assoziierter Professor für Philosophie der Wissenschaft, Technologie und des Zusammenlebens an der niederländischen Universität Groningen. Im ersten Teil des Gesprächs ("80% der philosophischen Forschung drehen sich um heiße Luft") ging es um das Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik und was eine praxisbezogene Philosophie dafür bedeuten kann. Im Folgenden wird er erklären, wie und warum er der Universität nach und nach den Rücken kehrte.
Ich würde gerne noch auf ein paar konkrete Stationen Deines Arbeitslebens zu sprechen kommen. Warum hast Du schon 2012 einen Teil deiner Stelle an der Universität gekündigt?
Hans Harbers: Das fing eigentlich schon 2002 an. Damals geschah der Mord an Pim Fortuyn…
…einem früheren Kollegen von der Universität Groningen, der in die Politik gegangen war und sich unter anderem kritisch mit der "Islamisierung" Europas auseinandersetzte. In vielen Bereichen gilt er heute als ein Vorläufer Geert Wilders.
Hans Harbers: Ja! Die 1990er hatten einen starken ökonomischen Aufschwung gebracht. Und doch hatten viele das Gefühl, dass es in der Gesellschaft brodelt. Pim machte sich dieses Gefühl zunutze und vertrat meinem Eindruck nach immer extremere Standpunkte. Manche fürchteten, er könne der nächste Ministerpräsident der Niederlande werden. Nach seinem Mord konnte man praktisch in kein Café mehr gehen, ohne intensive politische Diskussionen mitzubekommen.
Andere Städte hatten damals schon Debattierzentren, in denen politische Themen tiefgründig diskutiert werden konnten. In Groningen gab es das noch nicht. So gründeten wir "DwarsDiep" (wörtlich: QuerTief), das uns letztlich 15 Jahre lang beschäftigte. Schon die erste Abendveranstaltung war restlos ausverkauft.
Als es dann von der Universitätsleitung hieß, dass wir immer mehr publizieren müssten, lag der Schritt mit der Kündigung nahe. Das war für mich ein großer Befreiungsschlag! Ich kam lieber mit den Menschen ins Gespräch, als ein paar Fachartikel in führenden philosophischen Zeitschriften zu veröffentlichen, die dann vielleicht von drei Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt gelesen werden. Bei den Debatten kam ich demgegenüber mit den "Frames", dem begrifflichen Rahmen und der "praktischen Metaphysik", über die wir vorher gesprochen haben, in direkten Kontakt.
Im Gegensatz zur Pflicht, immer mehr zu publizieren, kam damals übrigens eine externe Evaluation unseres Philosophiestudiengangs zum Ergebnis, unsere Ausbildung sei zu akademisch. So gründeten wir das Programm für "Philosophie und Gesellschaft", das hervorragend zu den Debatten von "DwarsDiep" passte. Damit konnten wir die Studierenden besser auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereiten.
Dabei ist es natürlich nicht unumstritten, universitäre Studiengänge als Vorbereitung für den Arbeitsmarkt aufzufassen.
Hans Harbers: Das stimmt. Das größte Problem bestand meiner Meinung nach aber darin, dass "gesellschaftliche Relevanz" nach Vorgaben aus Brüssel und Den Haag vor allem ökonomisch definiert wurde. Das richtete sich auch gegen das Bild vom universitären Elfenbeinturm, der von allen praktischen Fragen losgelöst ist.
In Anknüpfung an die 1960er Jahre möchte ich aber an eine andere Form von "gesellschaftlicher Relevanz" erinnern, nämlich die gesellschaftskritische Funktion. Am Anfang sprach ich schon vom Hinterfragen der Begrifflichkeiten und Denkräume, in denen sich die Politik bewegt.
So hieß dann auch eines unserer neuen Fächer "Philosophische Intervention". Darin mussten die Studentinnen und Studenten die Universität verlassen und beispielsweise einen Artikel für eine Zeitung oder einen Blog schreiben, an einer Schule unterrichten oder etwas für eine Nichtregierungsorganisation organisieren, so lange es nur außerhalb der akademischen Welt blieb. Das hat mir auch viel zurückgegeben. Das waren Beispiele dafür, was man mit dem "philosophischen Werkzeugkasten" in der Gesellschaft alles anfangen kann.
Das hört sich nach einem Erfolgsmodell an. Warum hörten die Debatten dann aber 2017, nach 15 Jahren, schlagartig auf?
Hans Harbers: Das hatte praktische Gründe. Wir bekamen irgendwann Zuschüsse von der Stadt und arbeiteten mit einer größeren Organisation in Groningen zusammen. Die fand unser Angebot aber nach und nach "zu intellektuell" und wollte sich an ein breiteres Publikum richten, obwohl unsere Veranstaltungen sehr gut besucht waren.
Nach immer schwierigeren Diskussionen wurden schließlich die Zuschüsse eingestellt. Es blieb eine Gruppe von Freiwilligen übrig, doch ohne führenden Kopf. Ich glaube, man hielt uns irgendwann auch für zu alt. Nachdem ich das 2002 alles neu aufgebaut hatte, wollte ich nicht wieder von vorne anfangen.
Frühere Studenten von mir arbeiten zurzeit aber zusammen mit einem Theater an einem neuen Projekt, einer philosophischen Talkshow. Und auf der Straße sprechen mich heute immer noch Unbekannte an, wann es die nächste Debatte gibt.
"Ich wollte den Kopf gerade frei haben von allem Akademischen"
Zum 1. September 2019 hast du deine Stelle an der Universität dann aber endgültig gekündigt und bis zum Erreichen des Rentenalters [das wären erst rund zwei Jahre gewesen, nach einer Gesetzesänderung aber nur noch rund ein Jahr, Anm. S. Schleim] noch etwas Anderes gemacht. Wie kamst du darauf, als Putzmann zu arbeiten?
Hans Harbers: Ich wollte bis zur Rente noch einmal etwas Anderes machen. Es war für mich ein Experiment, einmal eine Arbeit zu haben, für die man gar keine Ausbildung braucht. Selbst die Arbeit als Taxifahrer war mir zu hoch, denn dafür brauchte man einen Personenbeförderungsschein.
Mir ging es um eine dienende Aufgabe, die den Menschen direkt etwas bringt. Am liebsten wäre ich als städtischer Straßenfeger mit so einem Karren herumgezogen. Bei privaten Reinigungsunternehmen gab es aber das größte Angebot. So fand ich innerhalb eines Monats eine Stelle in der individuellen Pflege hilfsbedürftiger Menschen, die zuhause nicht mehr selbst saubermachen konnten.
In jeweils rund zwei Stunden habe ich dann Woche für Woche bei einer Reihe von festem Kunden die Wohnung geputzt. Ich musste schmunzeln, als es in der Corona-Pandemie auf einmal hieß, dass ich einen "vitalen Beruf" hätte. Den habe ich als akademischer Philosoph nie gehabt!
Aber wie war das dann als putzender Philosoph? Hattest du mit den Menschen Gespräche über den Sinn des Lebens?
Hans Harbers: Gar nicht. Ich habe schlicht geputzt.
Tatsächlich fragte man mich im Bewerbungsgespräch, ob ich mit meiner akademischen Ausbildung nicht eine höhere Funktion übernehmen wolle. Das kam für mich aber nicht in Frage. Ich wollte den Kopf gerade frei haben von allem Akademischen. Und die Kunden fragten mich auch nicht danach. Vielleicht mit Ausnahme von einer Frau, die hin und wieder Buch- und Filmtipps von mir wollte.
Bei meinen Kolleginnen - im Wesentlichen waren es alleinstehende Frauen in den 40ern und 50ern, die für den gesetzlichen Mindestlohn jede Woche 36 bis 40 Stunden schufteten - war ich schnell als "der Professor" bekannt. Da wir aber sowieso alle individuell arbeiteten, gab es nicht so viel Kontakt. Und dann kamen auch noch die Corona-Maßnahmen dazu.
Ich hatte lange mit mir gehadert, diese Erfahrung intellektuell auszuschlachten. Eine alte Kollegin meinte dann auch, ich würde sicher ein Buch über meine Zeit als Putzmann schreiben. Das kam dann für mich aber nicht in Frage.
Dabei dachte ich auch an diese westlichen Touristen, die in die ärmsten Länder Afrikas reisen und dann Selfies mit schwarzen Kindern machen: "Seht her, wie sozial ich bin!" Ich wollte als Akademiker nicht für die Menschen ohne Hochschulstudium sprechen. Die sollen für sich selbst sprechen.
Und zum Schluss: Welche Lehre hast Du für Dich selbst aus dieser Zeit gezogen?
Hans Harbers: Das Putzen hat meine Skepsis über den aufgeblasenen Intellektualismus voll und ganz bestätigt. Ich bin jetzt Befürworter einer sozialen Dienstpflicht - und ich würde als Erstes mit den akademischen Philosophen anfangen! Die sollten einmal selbst mit den Füßen im Matsch und in der Welt stehen, anstatt noch ein Buch oder noch eine Analyse mehr zu lesen.
Mir geht auch diese Rechthaberei mancher Intellektueller auf den Geist, die meinen, dass jeder, der eine andere Meinung hat als sie selbst, gleich ein dummer Populist sein müsse. Die haben zwar einen großen Mund aber einen Mangel an Bescheidenheit und Demut. Letztere lernt man bei solchen einfachen Tätigkeiten.
Zu meiner Überraschung lernte ich durch das Putzen in den verschiedenen Haushalten auch verschiedene Vorstellungen dessen kennen, was Menschen als sauber ansehen. Wo man bei dem Einen als "sauber" aufhört, fängt es beim Anderen als "schmutzig" an. Es gibt verschiedene Lebensweisen und man sollte sich davor hüten, die eigenen Standards auf andere Menschen zu übertragen. In so einem Beruf lernt man also auch Einfühlungsvermögen.
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.