Das Richtige unter den Trümmern des Falschen

Marx auf der Höhe der Zeit

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Der Kommunismus ist ein scheintoter Hund. Während seine Gegner in allen Himmelsrichtungen von Triumph zu Triumph, von Katastrophe zu Katastrophe marschieren, ob es sich nun um imperiale Kriege zur Durchsetzung der allerneuesten Weltordnung handelt, das streberhafte Gehechel von Juniorimperialismen, die dem Vorbild nach den Fersen schnappen, oder das fröhliche Wiederaufleben des religiösen Mittelalters - der Kommunismus spielt keine Rolle. Karl Marx hingegen wirkt frischer denn je.

Er wird unter die größten Deutschen gewählt man interviewt ihn, zitiert ihn auf Stadtteilfesten am Vorabend des 1. Mai, seine Schriften geben Managern gute Tipps zum Selbstverständnis, man überprüft sie auch sonst auf ihre Aktualität - manche glauben sogar, die bisher erfolgreichste Ideologie der sozialen Befreiung sei dabei, sich von ihren großen Niederlagen zu erholen. Tut sie das wirklich? Geht ein Gespenst um, wenn auch nur ein kleines?

Nach den Mühen der Gebirge beginnen die Mühen der Ebenen, heißt es bei Brecht. So verhält es sich mit diesem Wörterbuch. Als der erste Entwurf diskutiert wurde, 1983, türmte sich vor uns der Marxismus-Leninismus mit seinen Berührungsverboten, gotisch-absolutistisch wie der Dom der Moskauer Universität. Einige Jahre danach brach das Ewigkeitsgebäude zusammen. Die Katastrophe kennt keine Unterschiede. Unter den Trümmern des Falschen liegt auch das Richtige. Dem historisch-kritischen Projekt war unversehens die Bedeutung der rettenden Kritik zugewachsen. Doch nun versperrten ihm ebenso viele neue Hindernisse den Weg. Enttäuschte Abwendung nicht nur von Marx und jeder Art von Marxismus, sondern von eingreifendem Denken und theoretischer Kritik schlechthin beherrschte die Zeit, in der die Sieger im Kalten Krieg sich am Ende der Geschichte wähnten.

So beginnt das Vorwort zu einer unverkäuflichen Leseprobe aus dem Historisch-Kritischen-Wörterbuch des Marxismus das, von Wolf und Frigga Haug redigiert und herausgegeben, mittlerweile bei dem Buchstaben J angekommen ist.

Die Kritik der Kritik

Knapp und präzis beschreibt Haug hier die Schwierigkeiten, denen sich die Marxisten nach 1989 gegenüber sahen - unter den Trümmern des Falschen lag auch das Richtige, liegt es immer noch. Wolf Haug hat seitdem auch abseits der Arbeit am seinem Wörterbuch mit großer Zähigkeit Inventur betrieben, und einer seiner Kernpunkte scheint dabei zu sein, dass die marxistische Kritik der Gesellschaft sich selbst kritisieren muss, will sie einen glaubwürdigen Standpunkt vertreten.

Das schließt ein, Marx' Fehler klar zu benennen, ohne Furcht vor der Zustimmung derer, die nicht einmal ahnen, was er meint.

Die Kritik der Kritik ist aber nicht nur aus Gründen der Glaubwürdigkeit wichtig, sondern auch, um eine linke Form der Trümmerfrauenneurose zu vermeiden: Es taugt einfach nichts, frisch, fromm fröhlich weiter zu machen wie vorher, nachdem die gröbsten Aufräumarbeiten stattgefunden haben, der simple Glaube daran, dass "beim nächsten Mal schon "alles anders" wird, trägt den Keim kommender Katastrophen in sich.

Mit vorsichtiger Gründlichkeit machte sich auch gleich nach dem Ende des Ostblocks der Mathematiker Michael Heinrich ans Sortieren. Das Ergebnis der Mühe, sein Buch "Die Wissenschaft vom Wert", 1991 und noch einmal 1999 in einer erweiterten und korrigierten Fassung erschienen, ist in jeder Hinsicht bemerkens- und empfehlenswert.

Es bietet nicht nur einen Abriss der Entwicklungsstufen der Marxschen Schriften, deren Disparatheit, ja geradezu Unvereinbarkeit von jeder "orthodoxen" Marx-Rezeption unterschlagen werden muss, um seinem Werk eine gusseiserne Einheit aufzuzwingen, die es nicht hat. Heinrich gelingt es auch sehr überzeugend, Marx' Kampf mit seinem zeitgenössischen Hauptgegner, der politischen Ökonomie von Smith bis Ricardo als einen paradigmatischen Bruch mit dem Vorgefundenen darzustellen, eine lebenslange Anstrengung um eben die neue "Wissenschaft vom Wert", die der Titel meint.

Lieblingsmythen und massive Fehler

Nebenbei erledigt Heinrich ein paar der Lieblingsmythen, die sich um Marx ranken, so zum Beispiel die weitverbreitete Idee, die Arbeitswerttheorie zur kapitalistischen Produktionsweise stamme von Marx (bereits Smith hat sie formuliert), oder die uninformierten Gerüchte, Marx' sei Antisemit gewesen.

Mit dem Sachverstand und der argumentativen Klarheit des Mathematikers weist aber eben auch Heinrich Marx massive Fehler nach. So rechnet er ihm zum Beispiel vor, dass sein Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate so nicht stimmen kann.

Auch die Inkonsistenzen, mit denen Marx versuchte, das sogenannte "Transformationsproblem" Ricardos zu lösen, werden von Heinrich nicht geschont. Er weist nach, dass der Versuch der Transformation von Arbeitswerten in Produktionspreise innerhalb des Marxschen Gedankengebäudes zu unlösbaren Widersprüchen führt.

Obwohl Heinrich seine Arbeit ab und zu durch ungerechtfertigtes Vertrauen in postmoderne Denkfiguren beschädigt, ist er doch schon allein durch seine profunde Textkenntnis dem amüsanten, aber letztendlich nichtigen Geschwafel eines Slavoj Zizek ("Die Revolution steht bevor") oder gar den komplett ahnungslosen, rein postmodernen Elaboraten über Marx um Lichtjahre voraus.

Neue Lesart gegen "Verkürzer"

Während der "Indeterminate Kommunismus"-Kongreß in Frankfurt vielfach als beliebiges Spektakel angesehen wurde, das mit einem uneinlösbaren Radikalitätsanspruch flirtete, fällt das bei einer an sich ähnlich gelagerten Veranstaltungsreihe der Offenen Antifa Münster schwerer.

"Gesellschaft im Widerspruch" hieß sie und wollte Beiträge zur Klärung von "Theorie und Praxis, Geschichte und Zukunft des kommunistischen Projekts" leisten. Schon der Einladungstext ist lesenswert. Die (neben anderen) im Veranstaltungsreader enthaltenen Essays von Stefan Grigat, Horst Selisch und Ingo Elbe treiben die Kritik der Kritik erst recht auf einem Niveau voran, dem man nicht alle Tage begegnet.

Am weitesten geht in dieser Hinsicht Ingo Elbe, der, mit einer ähnlich umfassenden Textkenntnis wie Michael Heinrich ausgestattet, vehement gegen die quasi naturgeschichtlichen Notwendigkeiten argumentiert, die der Marxismus-Leninismus aus dem Werk von Marx herauslesen wollte.

Gegen die immer noch und immer wieder kursierenden Ideen von Marx als einem theoretischen Sachwalter geschichtlicher Gesetze, gegen jeden fröhlich-grimmigen Revolutionsoptimismus setzt Elbe eine extrem skeptische Lesart, die den "exoterischen Marx" der marxistisch-leninistischen Verkürzer zurückweist, und ihnen vorwirft, sich lediglich an die proklamatorischen, leicht verständlichen und von moralischer Empörung getragenenen Texte von Marx zu halten, während ihnen der Haupteil seines Werks, die bis in feinste Verästelungen hineinreichende Kritik der politischen Ökonomie, unerschlossen bleibt. (Vortrag als mp3).

Die Antideutschen Kommunisten

Auf einer ganz anderen Baustelle sind Antideutschen Kommunisten beschäftigt. Sie haben mittlerweile genug Aufmerksamkeit erzeugt, um sogar dem Verfassungsschutz aufzufallen.

Mit Vehemenz kritisieren sie den althergebrachten Antiimperialismus der Linken, da er ihrer Meinung nach vor allem in Deutschland nie etwas anderes war als ein links gewirktes Gewölle aus antiamerikanischen und antisemitischen Ressentiments. Das ist an sich eine diskussionswürdige Position, führt aber bei den Antideutschen teilweise zu schon humoristisch interessanten Konsequenzen.

Die Existenz des Imperialismus an sich wird geleugnet, und die USA werden bedingungslos als eine grundgute Friedensmacht wahrgenommen; am seltsamsten sind aber die regelmäßigen Fahnenschwenkerwettbewerbe, bei denen sich die deutschen Antideutschen als die besseren israelischen Patrioten aufführen.

Das wäre als Provokationstheater gegenüber einer tatsächlich von antisemitischen Ressentiments durchtränkten globalisierungskritischen und antiimperialistischen Linken völlig in Ordnung. Aber der lachhaften Kinderernst, mit dem das Ganze vorgebracht wird, hat Gaston Kirsche neuerdings in der Wochenzeitung Jungle World zu dem Kommentar veranlasst, auch die antideutsche Linke halluziniere Einflussmöglichkeiten, welche die Linke in Deutschland noch nie hatte.

Mit Kommunismus haben die Antideutschen sowieso nichts zu tun, das ist einfach nicht ihr Thema. Gleichwohl weist das Auftreten der Antideutschen mit Beharrlichkeit auf einen großen blinden Fleck der im weiteren Sinn kommunistisch orientierten Linken insgesamt hin: Selbst eine gelingende Revolution könnte die Tatsache Auschwitz nicht austarieren. Weil das Schlimmstmögliche sich bereits als machbar erwiesen hat, würde eben nicht alles gut.

Die Krisis-Gruppe

Wie nicht anders zu erwarten, bleiben Streit, Spaltungen, ideologisches Gezänk nicht aus. So hat sich zum Beispiel die von Robert Kurz seinerzeit ins Leben gerufene Krisis-Gruppe nach internen Querelen gespalten (siehe auch hier).

Kurz war mit seinen popularisierten Marx-Interpretationen und mit seinem, gelinde gesagt, befremdlichen Kommunikationsstil ein erklärter Feind nicht nur der Antideutschen Kommunisten, der bereits erwähnte Wolfgang Haug warf ihm "Lorianismen" vor (will sagen: spekulativen intellektuellen Blödsinn), die Spannungen in seiner eigenen Gruppe waren groß genug, um ihn letztendlich selbst hinaus zu katapultieren.

Kann Marx auf die Höhe der Zeit gebracht werden?

Eine Posse mit kompatiblem Umfeld, gewiss, doch ist das Gezerre der Tendenzen in verschiedene Richtungen für die Entstehung eines Vektors unabdingbar, und wenn die Formulierung "Kritik der Kritik" irgend etwas bedeuten soll, dann wird sie Streit unter den Kritikern bedeuten.

Von der Qualität dieses Streits hängt es ab, ob der Marxismus entrümpelt, ob seine angestaubten, dogmatischen Ecken entstaubt werden können, und ob er auf die Höhe der Zeit gebracht werden kann. Wobei das Risiko natürlich nicht nur in den grundsätzlichen, beträchtlichen Problemen der Marxschen Theorien selbst liegt, sondern auch in der Frage, ob diese Theorien, am Anfang des industriellen Zeitalters formuliert, einhundertfünfzig Jahre später noch echte Deutungsmacht besitzen - und wenn ja, welchen Teilen davon diese Deutungsmacht in besonderer Weise zukommt.

Ist das Richtige vom Falschen lösbar, oder ist beides so eng miteinander verwoben, dass ein radikaler Neuanfang notwendig wird? Dass es in diesem riskanten Prozess der Klärung keine Garantien gibt, keine "theory to end all theories", keine patentierten Endpunkte der Entwicklung, sondern höchstens Skepsis und Dialektik, hätte Marx selbst in jedem Fall unterschrieben. Womit der schlaue Philosoph aus Trier zumindest in diesem Punkt auch dann der zuletzt Lachende wäre, wenn ihn die Geistesgeschichte eines Tages vollkommen überholt haben sollte.