Das Transformationsgeschäft mit der Ukraine

Beim Wiederaufbau setzen die westlichen Länder auf das erprobte Rezept um Privatisierung und Deregulierung. Gentechnik-Landwirtschaft und bargeldloser Digitalstaat runden ihn ab.

Krieg ist ein schmutziges Geschäft. "War is a racket", heißt die berühmte Anti-Kriegs-Rede des Generalmajors der US-Marine, Smedley D. Butler, aus den frühen 1930ern. "Wer macht die Profite?", fragt der Generalmajor darin – und antwortet: die Industrie, die Banken und die Spekulanten. Und "wer zahlt die Rechnung?" – der Steuerzahler.

Ein knappes Jahrhundert danach hat sich daran nichts geändert. Dieser Ansicht war zumindest 2011 der noch immer inhaftierte Enthüllungsjournalist Julian Assange in Bezug auf eines der vielen US-Abenteuer im Mittleren Osten:

Das Ziel ist es, Afghanistan zu benutzen, um Steuergelder aus den USA und Europa durch Afghanistan in die Hände einer transnationalen Sicherheitselite zu spülen. Das Ziel ist ein endloser Krieg, nicht ein erfolgreicher Krieg.

Julian Assange

2022 sind die Rüstungsverkäufe in den USA um 49 Prozent auf 153,7 Milliarden gestiegen. Daraus, dass der Ukraine-Krieg ein Geldsegen ist, hat die Branche nie einen Hehl gemacht. Aber nicht nur die Rüstungsindustrie verdient.

Allem Anschein nach wiederholt sich in der Ukraine das altbekannte Spiel eines Wiederaufbaus, der dem neoliberalen Kapitalismus US-amerikanischer Prägung einen dringend benötigten Auftrieb verleiht. Gleichzeitig macht der Westen die Ukraine zum Pilotprojekt einer neuen technokratischen Gesellschaftsordnung.

Während ein Ende des Kriegs noch immer nicht in Sicht ist, sind die Vorbereitungen für den zuletzt auf 1,25 Billionen Dollar geschätzten, neuen "Marshallplan" bereits in vollem Gange. So fand medial weitgehend unbeachtet im polnischen Warschau vom 15. bis 16. Februar die Messe "Rebuild Ukraine" statt.

Dort sind internationale Finanzinstitutionen, Investoren und Bau-Unternehmen angetreten, ihr Vorgehen über das "komplexeste Wiederaufbauprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg" zu koordinieren. Auch Deutschland stellte seine Unternehmen in einem eigenen Pavillon zur Schau.

"Russland mit Privatkapital bekämpfen"

Immerhin verweist die Deutsche Industrie- und Handelskammer (IHK) auf ihrer Website auf die Warschauer Messe – und daneben auf den Leitfaden der Investitionsförderagentur UkraineInvest, "Rebuild Ukraine with the Private Sector".

Darin ist die Rede von einer gemeinsam mit der EU zu erarbeitenden Plattform, die "unter einem Dach" die Wiederaufbau-Bemühungen der EU sowie "anderer Partnerinitiativen wie die der Weltbank oder des Internationalen Währungsfonds" versammeln soll.

Ende November 2022 verkündete das ukrainische Wirtschaftsministerium, dass der größte und umstrittenste Kapitalverwalter der Welt, der die Ukraine "seit Monaten" berät, die Koordination einer solchen Rekonstruktions-Plattform übernehmen wird: Blackrock.

Hauptzweck der Plattform ist laut Wirtschaftsministerium die Mobilisierung von Privatkapital. Im UkraineInvest-Leitfaden werden darüber hinaus folgende Ziele anvisiert:

  • Vollständiger Zugang zu den Märkten der EU und der G7
  • EU-Mitgliedschaft - Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft
  • Umstellung von Rohstoffexporten auf verstärkte Verarbeitung
  • Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes
  • Klima-Modernisierungsmaßnahmen
  • Einbindung einheimischer Produzenten in den wirtschaftlichen Aufschwung

Wie der britische Historiker Adam Tooze im Oktober am Beispiel eines Berichts des US-Thinktanks Center for Economic and Policy Research (CEPR) herausgestellt hat, werden Maßnahmen wie die Privatisierung von Staatsbetrieben, "wachstumsfreundliche" Steuerpolitik und die Deregulierung des Arbeitsmarkts als Musterlösungen angepriesen, Kapital schnell in "robuste Sektoren" fließen zu lassen.

So soll verhindert werden, dass die hochverschuldete Ukraine an Währungsabwertung und Devisendefizit zugrunde geht. Wie von Telepolis beschrieben, klingt das nicht nur für Tooze nach der altbekannten neoliberalen Agenda. Und die Anzeichen dafür häufen sich.

Blackrock: Ukraine als "Leuchtturm des Kapitalismus"

So berichtete der US-Sender Fox Business erst kürzlich, dass die Investmentbank J.P. Morgan Chase mit dem ukrainischen Staat ein Abkommen über einen 20 bis 30 Milliarden Dollar schweren Fonds zum Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur geschlossen hat. Gesprächsthema sei demnach auch der Aufbau einer (KfW-ähnlichen?) Entwicklungsbank "unter Leitung von Wall-Street-Firmen" gewesen.

Wie Fox Business weiter berichtet, sei J.P.-Morgan-CEO Jamie Dimon davon überzeugt, dass private Investitionen auch dabei helfen könnten, "russische Aggressionen abzuwehren". Bereits eine Woche zuvor habe Dimon dem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einem Gespräch mit Apple-CEO Tim Cook geraten.

Gegenüber dem US-Rundfunksender Voice of America betonte zuletzt auch Jonathan D. Katz, ehemaliges Mitglied der US-Entwicklungsbehörde USAID und des German Marshall Fund of the United States (GMF), dass die Mobilisierung des Privatsektors "entscheidend" sei.

Das ist deshalb bemerkenswert, weil USAID nicht nur für den als gescheitert geltenden Wiederaufbau des Irak und die umstrittenen Vergabepraktiken verantwortlich zeichnet, sondern weil sich von USAID und GMF bis hin zu dessen namensgebendem Marshallplan enge Verbindungen zur CIA nachweisen lassen.

Derlei Informationen nähren das Narrativ eines neokolonialen Ausverkaufs der Ukraine an den westlichen Kapitalismus, das von russischer Seite nur zu gerne aufgegriffen wird. Dazu trug Ende Januar auch die Danksagung Selenskyjs an die berüchtigte Investmentbank Goldman Sachs, JP Morgan und Blackrock bei. Wenige Tage zuvor imaginierte Blackrock-Chef Larry Fink die Ukraine schon als künftigen "Leuchtturm der Macht des Kapitalismus".

Als einem der größten Anteilseigner der voraussichtlich involvierten West-Konzerne kommt das Blackrock nicht ganz ungelegen. Und dass mit Elga Bartsch eine ehemalige Blackrock-Mitarbeiterin die Arbeit des Bundeswirtschaftsministeriums koordinieren soll, könnte zusätzliche Synergien schaffen.

Abseits der Investitionen in den Wiederaufbau unterstützen die westlichen Länder die Ukraine in Form von Zuschüssen und Darlehen. Letztere machen dem Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) zufolge bisher den Großteil der Hilfen aus. Laut dem Ukraine Support Tracker des IfW sind (Stand 21. Februar 2023) bisher 143 Milliarden Dollar geflossen.

Der Löwenanteil von 73,18 Milliarden Dollar stammt von den USA, gefolgt von der EU mit 54,92 Milliarden. Deutschland hat bislang inklusive EU-Anteile 12,5 Milliarden Euro für die Unterstützung der Ukraine ausgegeben. Im Mai 2022 schätzte der ukrainische Präsident den monatlichen Geldbedarf auf 6,5 Milliarden Dollar.

Privatisierung bereits lange vor dem Kriegsausbruch geplant

Das Interesse, die Ukraine dem (westlichen) Kapitalmarkt zu öffnen, reicht weiter zurück als bis zum 24. Februar 2022.

Daran hat der britische Ökonom Michael Roberts im August 2022 in einem Blogpost erinnert. So kritisierte der US-Thinktank Oakland Institute, auf den Roberts seine Aufarbeitung stützt, schon 2014 das berüchtigte EU-Assoziierungsabkommen (siehe Euromaidan) als Strategie, mithilfe der Aussicht auf 17 Milliarden Dollar IMF-Darlehen einen Teil des "Brotkorbs der Welt" einzuverleiben.

Es ist nicht der erste und bleibt nicht der letzte Versuch. Das Oakland-Urteil ist damals überdeutlich:1

Während die [Welt-]Bank und der [Internationale Währungsfonds] IWF ihre Vorhaben in vielen Ländern unter dem Deckmantel der Demokratie, der Entwicklung und des Wirtschaftswachstums durchführen, ist ihre Absicht im Fall der Ukraine eindeutig. Die Eile, neue Hilfspakete für das Land bereitzustellen, zeigt, dass beide Institutionen den Wechsel zu einer EU-freundlichen Regierung belohnt haben, die mit der neoliberalen Agenda der IFI [Internationalen Finanzinstitutionen] übereinstimmt.

Oakland Institute

Der Griff nach dem Brotkorb zeigt sich in den Bemühungen von IWF, Weltbank und US-Außenministerium, das reichhaltige Ackerland (Stichwort: Schwarzerde) von Staats- in Privateigentum zu überführen.

Die Privatisierung staatlicher Unternehmen wurde bereits 2018 auf der Ukraine Reform Conference von den westlich orientierten Ländern beschlossen und 2022 erneut bekräftigt – gegen den Willen der Bevölkerung, wie Roberts betont: 2018 waren einer Umfrage zufolge nur 12 Prozent der Ukrainer pro Privatisierung.

2020 hebt Selenskyj den bis dahin geltenden Verkaufsstopp für staatliches Ackerland auf, um die Bedingungen für einen Fünf-Milliarden-Dollar-Kredit des IWF zu erfüllen. Im selben Jahr legt derselbe Internationale Währungsfonds eine Gesetzesvorlage zur Re-Privatisierung des Bankensektors vor – von der auch Selenskyjs Freund Ihor Kolomoyskyi vergebens zu profitieren hoffte.

Die Rolle der Rohstoffe

In der Ukraine wird nicht nur nach dem Brotkorb gegriffen. Zur Mobilisierung von Privatkapital sieht sich das Land dazu gezwungen, mit allem zu werben, was es zu bieten hat. Im weiter oben erwähnten Leitfaden von UkraineInvest werden zehn wesentliche Punkte genannt:

  1. Abdeckung der Verbrauchermärkte (mit 47 Ländern unterzeichnete Freihandelsabkommen)
  2. Vorteile der geografischen Lage
  3. Qualifizierte und wettbewerbsfähige Arbeitskräfte
  4. Beträchtliche Rohstoffbasis
  5. Investitionsmöglichkeiten in verschiedenen Sektoren
  6. Möglichkeiten der Optimierung von Betriebskosten
  7. Gut entwickelter IT-Sektor
  8. Im Ausbau befindliches Forschungs- und Entwicklungs-Ökosystem
  9. Strategien für Investitionsanreize [Steuersenkungen usw.]
  10. Viele internationale Unternehmen bereits vor Ort

Die "beträchtliche Rohstoffbasis" ist bereits ein Argument für sich. Im Online-Magazin Common Dreams zählt Autor und Move To Amend-Aktivist Greg Coleridge eine Reihe der bedeutendsten Rohstoffe auf2:

Dieses kleine Land verfügt über fünf Prozent der natürlichen und mineralischen Ressourcen der Erde, darunter Kohle, Erdöl, Erdgas (die zweitgrößte Menge in Europa), Lithium (für Batterien), Eisenerz (für die Industrie), Titan (20 Prozent der nachgewiesenen Weltreserven, für die Luft- und Raumfahrt) und Gallium (die zweitgrößte Menge der Welt, für die Elektronik). Die Ukraine ist auch ein unglaublich reiches Landwirtschaftsland – Platz 1 in Europa bei den Anbauflächen und 25 Prozent des weltweiten Schwarzerdevolumens –, das den Nahrungsmittelbedarf von 600 Millionen Menschen decken kann.

Greg Coleridge

Hinzu kommen das größte Uran-Vorkommen sowie die drittgrößten Schiefergas-Reserven in Europa. Diejenigen im Osten des Landes (um das kriegsgebeutelte Dnepr-Donez-Becken) sicherte sich 2013 der britische Konzern Shell, im Westen war der US-Konzern Chevron im Gespräch. 2015 zogen sich beide Unternehmen aus der Ukraine zurück, als mutmaßliche Gründe werden eine unbefriedigende Steuerpolitik und ein erhöhtes Risiko durch den bewaffneten Konflikt gehandelt.

Über den Grund des russischen Einmarschs wurde abgesehen von einem "unprovozierten Angriff" und einer absehbaren Eskalation viel spekuliert – auch darüber, ob es sich um einen Krieg um Rohstoffe handelt. So etwa von der Washington Post, Forbes, dem Guardian oder in dem vielbeachteten, von der Neuen Zürcher Zeitung publizierten Beitrag einer Gruppe von Ukraine-nahen Politikwissenschaftlern.

In allen Darstellungen tritt Russland als Aggressor auf, der die Ressourcen entweder an sich reißen oder verhindern will, dass die Ukraine energetisch autonomer wird.

Die westlichen Interessen sind weitgehend aus dem Blickfeld gerückt. Dabei bedürften sie – genau wie die russischen – einer eingehenden Analyse. Das gilt insbesondere für die Agrarwirtschaft.

Transformation

Das Oakland-Institut hat 2014 im oben zitierten Bericht – sowie später im Zusammenhang mit einer "unternehmerischen Übernahme" des ukrainischen Agrarsektors – bereits auf Artikel 404 des EU-Assoziierungsabkommen hingewiesen, welcher darauf abzielte, das ukrainische Anbauverbot gentechnisch veränderter Lebensmittel (GMOs) aufzulösen.

Ende Oktober 2022 kündigte das ukrainische Ministerium an, die GMO-Gesetzgebung einer Generalüberholung zu unterziehen. Das neue Gesetz sieht eine Angleichung an die Standards der EU vor.

Diese hatte ihrerseits 2021 eine Lockerung der Gesetzgebung in Bezug auf gentechnisch veränderte Pflanzen angekündigt. Die Biotechnologie-Lobby argumentiert damit, dass GMOs eine "nachhaltige" Alternative zur konventionellen Landwirtschaft darstellen.

Das gilt besonders, aber nicht nur, für die Dürre-geplagten Länder Afrikas: Wie das Agrar-Nachrichtenportal latifundist im Oktober berichtete, zeigen sich auch Vertreter des Bayer-Konzerns in der Ukraine gegenüber einer Liberalisierung der Gesetzgebung bereits aufgeschlossen.

Privatisierung, Deregulierung und der mutmaßliche Umbau des Agrarsektors sind nicht die einzige Transformation, die der Ukraine bevorsteht – und die Ukraine nicht das erste Land, dessen Transformation im Zeichen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen steht.

Mit der App Diia ("der Staat und ich") hat die Ukraine 2020 einen gewaltigen Schritt in Richtung dieser Transformation unternommen. Die App erfüllt die inzwischen weltweit verfolgte Vision eines digitalen Staatsapparats inklusive digitaler Identität und digitalem Geld. Blackrock-CEO Fink hatte im März 2022 bereits angekündigt, dass der Krieg sich positiv auf das Projekt der digitalen Währung auswirken wird.

Ein in die Zukunft gerichtetes Werbevideo, das zur Vorstellung der Diia-App beim Davoser Treff des Weltwirtschaftsforums im Mai 2022 gezeigt wurde, bestätigt die Befürchtungen mancher, dass sich hinter der Fassade von Fortschritt und Bequemlichkeit der UN-konformen Smart Cities eine technokratisch-totalitaristische Gesellschaft verbirgt. Das Szenario:

Die Geschichte der neuen Ukraine wird auf der ganzen Welt studiert, weil die Ukraine das digitalste und bequemste Land der Welt wurde. […] wir waren das erste Land, das das Papiergeld abgeschafft hat. […] Die ukrainischen Gerichte werden von künstlicher Intelligenz gesteuert, und alle notariellen Urkunden werden online erstellt. […] Tapfere Militärs und Zivilisten erhalten mit modernen Fernüberwachungs- und E-Health-Systemen eine hochwertige Behandlung. […]

Die ukrainische Regierung ist digital, mehr wie ein IT-Unternehmen in Bezug auf die Effizienz der Umsetzung von Entscheidungen. [...] Die Ukraine ist am freiesten und digitalsten, weil internationale Partner und die weltweit führenden Technologieunternehmen […] sich zusammengeschlossen haben, um der Ukraine zu helfen, sich durch die Digitalisierung zu erholen und gemeinsam eine neue Ukraine aufzubauen.

Diia-Werbevideo

Die US-Entwicklungbehörde USAID, die sich rühmt, das Projekt seit der Gründung des ukrainischen Ministeriums für Digitale Transformation 2019 finanziell zu unterstützen, versprach Mitte Januar, die App in weitere Länder zu tragen.

Der ukrainische Digitalminister Mykhailo Fedorov ergänzte Anfang Februar, dass "mehr als fünf Länder" interessiert seien. Estland ist schon einmal nicht darunter, denn das macht mit der Diia-Kopie mRiik bereits eigene Gehversuche.

Dass die Entwicklungsbehörde USAID nicht nur Hilfe zur Selbsthilfe leistet, sondern proaktiv auf eine konkrete Gesellschaftsform hinarbeitet, zeigt sich für kritische Beobachter zum einen in der gemeinsam mit der UN gegründeten "Better Than Cash Alliance" um Bill Gates und Mastercard, zum anderen in der langen Tradition, die USAID mit der entwicklungspolitischen Strategie der USA verknüpft.

Wie Telepolis an anderer Stelle herausgearbeitet hat, ist diese Strategie nicht ohne die strukturellen Krisen des Kapitalismus und dessen Wettbewerb mit alternativen Systemen zu erklären. Und zurückverfolgen lässt sie sich bis zum viel zitierten Vorbild des ukrainischen Wiederaufbaus: dem Marshallplan.