"Das Triviale ist in der Demokratie nicht trivial"
Ein Interview mit Philip Manow über die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie
Was haben Applausminuten, Aufsitzrasenmäher und Föhnfrisuren mit unserer Demokratie zu tun? Sehr viel. Davon ist zumindest Philip Manow überzeugt. Der Professor für Politikwissenschaft an der Universität in Bremen, hat gerade ein Buch veröffentlicht, das unter dem Titel "Die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie" den Fokus auf jene Politik richtet, die als "dargestellte Politik" ganze Heerscharen von Journalisten beschäftigt: Belanglosigkeiten.
Um diese Bedeutungslosigkeiten, die scheinbar gar nicht so bedeutungslos sind, geht es dann auch im Interview, das Telepolis mit Manow geführt hat. Mit seinem Buch wirft Manow einen klugen Blick auf die Ökonomie der politischen Darstellung und hilft so dabei die "zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie" zu dekonstruieren, ihren mehr oder weniger verborgenen Code zu dechiffrieren.
Herr Manow: Was sagt uns Merkels aktuelle Blazerfarbe über die Einigungschancen beim EU-Ministerrat?
Philip Manow: Einfache Antwort: Gar nichts.
Sagen Sie uns bitte: Wer stellt so eine Frage ernsthaft bzw. warum wird so eine Frage gestellt?
Philip Manow: Es hat sich ja heute eine recht umfangreiche, und nicht immer sonderlich seriöse politische Interpretationsindustrie etabliert - ich weiß gar nicht so genau, aus welchem Milieu sich diese Leute eigentlich rekrutieren. Da wird dann unter anderem angeguckt, wer bei dem langen Händeschütteln zwischen Macron und Trump die Hand oben hatte, und es wird dann suggeriert, dass das wohl verlässlich anzeige, dass der eine "die Oberhand" über den anderen gewonnen hätte. Das ist eine einigermaßen kindische Art und Weise, auf Politik zu schauen. Mich würde an so einem Beispiel eher interessieren, warum es ein - offensichtlich wachsendes - Interesse an dieser Art von Politikbeobachtung gibt.
Damit sind wir bei Ihrem Buch. Sie schreiben: "Uns, die wir im Regelfall nicht Politiker sind, begegnet die Politik selten, die dargestellte Politik hingegen äußerst intensiv, tagtäglich." Worin unterscheidet sich die dargestellte Politik von der "eigentlichen" Politik?
Philip Manow: Das Zitat will ja sagen, vielleicht etwas missverständlich, dass es "echte Politik" ist, wenn man auf der anderen Seite steht, das heißt wirklich "Politik macht", also Politiker ist, das heißt zum Beispiel selbst bei Maischberger in der Runde sitzt und sich mit den anderen Talkshowgästen streiten muss. Aber das ist für die meisten von uns ja völlig irrelevant. Wir sehen nur das Ergebnis, und das ist, was zählt. Daher meine jetzt vielleicht etwas überraschende Antwort: der Unterschied zwischen "eigentlicher" und "dargestellter" Politik sollte uns gar nicht so sehr interessieren.
Sondern?
Philip Manow: Mein Argument würde eher lauten, und das ist ja auch ein Zitat aus dem Buch: "Jede Politik, die in den Bereich der Öffentlichkeit tritt, ist immer schon Resultat einer Ökonomie der Darstellung."
Das ist sehr abstrakt.
Philip Manow: Ja, und deshalb erläutere ich das gerne näher. Ich versuche zu zeigen, dass Politik der Darstellung gar nicht entkommen kann. Es ist ja nicht so, dass Politik so funktionieren könnte, dass irgendwann am Ende einer Legislaturperiode irgendwo im öffentlichen Raum die Liste der in den letzten vier Jahren verabschiedeten Gesetze veröffentlicht würde, und dann kann sich der Wahlbürger erneut ein Bild machen und eine Wahlentscheidung treffen - und dazwischen würde keine Politik stattfinden. Nein, das ist natürlich eine völlig absurde Vorstellung.
Aber sie verdeutlicht, so denke ich, dass das, was wir alltäglich sehen, also Autos, die zu nächtlichen Koalitionsgesprächen im Bundeskanzleramt vorfahren, Leute, die dann mit Mappen unterm Arm vom Auto ins Gebäude gehen, Politiker, die vor Mikrophonen stehen und sich äußern, der Staatsempfang, das Treffen beim EU-Ministerrat, der Schnitt zum Reporter oder Reporterin, der oder die uns die Bilder dann in einen Kontext stellt - das Klimaabkommen, die Eurokrise, der Dieselskandal - dass all das zur Darstellung der Politik gehört.
Anders gesagt: Die Politik kann dieser Darstellung gar nicht entkommen. Eine Zeichen- und Bilderordnung wird etabliert, die wir im Normalfall unreflektiert konsumieren, die aber de-chiffrierbar ist. Mit anderen Worten: Eine nicht dargestellte Politik gibt es eigentlich gar nicht, bzw. sie ist dann auch eher uninteressant bzw. für das Verständnis der Demokratie gar nicht so wichtig.
Können Sie ein paar Beispiele anführen, wie es genau aussieht, wenn Nebensächlichkeiten als politisch betrachtet werden?
Philip Manow: Meine Betrachtungsweise ist insofern ungewöhnlich, als ich nicht darauf schaue, was inhaltlich verhandelt wird, sondern wie das Verhandeln - ganz unabhängig von den Inhalten - gezeigt wird.
Genauer bitte.
Philip Manow: Gut, zur Veranschaulichung mal eine etwas schräge Analogie. Leute interessieren sich für Sex. Stellen Sie sich vor, Sie schreiben beruflich Drehbücher. Wenn dann z.B. eine Fernsehsenderchefin zu Ihnen sagt: "Machen Sie mal was mit Sex, das interessiert die Leute", na dann wüsste man so ungefähr, was man - in unterschiedlichen Abstufungen der Explizitheit - zeigen könnte, vor allem nämlich: Sex.
Das leuchtet ein.
Philip Manow: Wenn die Chefin nun zu Ihnen kommt und sagt: "Machen Sie mal was mit Politik, das interessiert die Leute", und das ist ja völlig zutreffend, dann ist das kein so eindeutiger oder leichter Auftrag. Zeigen Sie mal zwei oder mehr Leute "bei der Politik". Also, wie stellt man Politik dar?
Also eine Frage, die sich Politiker und deren Beobachter, also auch wir Medien, immer wieder stellen.
Philip Manow: Ja, wobei vermutlich auch längst nicht immer bewusst und explizit. Jedenfalls: Wie stellt man nun dar, dass Politiker sich auf eine Senkung des Einkommensteuersatzes geeinigt haben? Filmt man eine Excel-Grafik ab? Das doch wohl eher nicht - oder zumindest nicht nur. Nein, man zeigt vielleicht das Ankommen der Verhandlungspartner, dann noch kurz, wie die informell zusammenstehen, wie dann in einen Raum hineingegangen wird, wie sich die Türen schließen - "die Presse bleibt draußen" - ja, und nach einer gewissen Zeit öffnen sich die Türen wieder und die Leute "treten vor die Presse". Usw. usf. Wenn es besonders lange dauert, zeigt man schlafende Journalisten.
Welche Bilderwelt uns hier geboten wird, und was sie uns "erzählt", das ist eines der Themen meines Buches. Das scheinen jetzt vielleicht auf den ersten Blick tatsächlich Marginalien des politischen Betriebs zu sein - na ja, der zweite und dritte und vierte Blick, so zumindest die These, die ja in dem Buch an vielen, vielen Einzelfällen plausibilisiert wird, zeigt, dass das so marginal nicht ist, sondern ganz im Gegenteil: es sind zentrale Nebensächlichkeiten der Demokratie.
Noch ein Beispiel?
Philip Manow: Ach, davon gibt es tausende. Ein ganzer Komplex, der auch im Buch umfangreich behandelt wird, besteht aus der öffentlichen Darstellung der politischen Person als Privatperson, mit den öffentlich dargestellten "privaten" Vorlieben: Essen, Kleidung, Frisuren, Urlaubsorte, Sportarten, Lieblingstiere und so weiter und so fort.
Man kann zum Beispiel eine politische Kulturgeschichte der Frisur oder der Bratwurst schreiben, und beides ist als Eintrag in meinem Wörterbuch der zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie abgehandelt, unter den Stichworten "Locken im Wind", ausgehend von Anton Hofreiter, bzw. "Chlorhühnchen", zu den öffentlich inszenierten Essgewohnheiten der Politiker. Das alles bewirtschaftet die Sollbruchstelle in der repräsentativen Demokratie, nämlich das Verhältnis zwischen Repräsentierten und Repräsentanten.
"Nicht der Politiker inszeniert sich, sondern wir ihn"
Warum ist das so? Warum ist die "dargestellte Politik" so präsent in den Medien?
Philip Manow: Darauf habe ich vielleicht keine abschließende Antwort. Die Frage treibt mich auch weiterhin um. Teil der Antwort ist vielleicht trivial, nämlich rein technologisch: die wahnwitzige Beschleunigung der Zirkulation der Bilder, die heute technologisch möglich ist. Wolfgang Bosbach verlässt eine Talkshow, weil er von Jutta Ditfurth komplett genervt ist, und circa 30 Minuten später kursieren auf Twitter, Instagram oder wo auch immer zwanzig witzige Bildvarianten davon, werden wie wild geteilt, gehen viral.
Das verändert politische Kommunikation, in gewisser Weise "anarchisiert" sie sie auch - die vormaligen Kontrollinstanzen, die Presse, der öffentlich-rechtliche Sender, haben das Monopol über die Bilder und die politische Kommentierung weitgehend verloren, das ist mittlerweile völlig dezentralisiert und damit völlig unkontrolliert und wild.
Warum werden diese Darstellungen von Medien so wenig dekonstruiert? Die Instrumentarien sollten doch zumindest Journalisten, die aus der Gesellschaftswissenschaft kommen, zur Hand haben, oder?
Philip Manow: Na, die Medien sind ja Koproduzenten. Es ist ja nicht "die Politik", die sich inszeniert, sondern das ist schon eine Koproduktion aus der Politik, den Medien, ja, und auch unseren Leidenschaften und Sehnsüchten und Wünschen. Denn was gezeigt ist, ist das, was wir gezeigt bekommen wollen. Schließlich geht es ja um Mehrheiten in der Demokratie, also um unsere Begierden.
Ist das nicht etwas zu einfach? Das Gezeigte hat doch nicht nur mit dem zu tun, was "wir" - wer auch immer das dann sein mag - gezeigt bekommen wollen. Das Gezeigte ist immer auch Teil einer mehr oder weniger verdeckten Herrschaftsstruktur, die auch dazu dient, Politik, die nicht zu sehen sein möchte, zu verschleiern. Oder?
Philip Manow: Das kann man so sehen. Ich habe ja auch nicht gesagt, dass das, was wir sehen, ausschließlich Ausdruck unserer Begierden wäre. Wie gesagt, es sind schon sehr viele an dieser Sinnproduktion beteiligt. Man sollte daher im Auge behalten, dass es nicht besonders sinnvoll ist, hier irgendwo eine Fiktion von einem einheitlichen Akteur zu haben - à la "Die Politik inszeniert sich".
Wenn man sich an den zögerlich vollzogenen Imagewandel erinnert, den Merkel durchmachen musste, von der "stylingresistenten" Ostdeutschen zur "Ikone des dezenten Chics", dann kann man auch zu Formulierungen kommen wie - nicht der Politiker inszeniert sich, sondern wir ihn. Also unsere Wunschvorstellungen sind schon recht wirkmächtig.
Bourdieu hat die schöne Formel vom "Verstecken durch Zeigen" in seiner Arbeit angeführt. Das heißt, durch das, was man zeigt, kann sich einem auch die Möglichkeit eröffnen, etwas zu verstecken, was man nicht zeigen möchte. Ist es für Politiker mitunter nicht auch von ziemlichem Vorteil, wenn sie wissen, dass die Wahrscheinlichkeit der Dekonstruktion ihrer Darstellungen ziemlich gering ist?
Philip Manow: Wie gesagt, an den Darstellungen sind wir ja alle, auf die eine oder andere Weise, beteiligt. Nach meinem Eindruck ist die beständige Insinuation, dass es ein "Davor", die öffentliche Politik, und ein "Dahinter", die verborgene, aber vermutlich "echte", "wahre" Politik, gibt, selbst eine extrem weitgeteilte Sicht ist, eine sich durch die Geschichte der Demokratie hindurchziehende Perspektive, deren genaue Motivation man eigentlich einmal dekonstruieren müsste. In Teilen wird das ja in meinem "Nebensächlichkeiten-Buch" versucht.
Noch ein Wort zu der Vorgehensweise, die Sie in Ihrem Buch veranschlagen. Sie bewegen sich auf Ebene der "Einzelphänomene". In einer Fußnote zitieren Sie Siegfried Kracauer mit den Worten: "Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen, als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst." Warum dieser Ansatz?
Philip Manow: Das hat mehrere Gründe. Einmal: Sich der Politik über die kleinen, teils skurrilen Details zu nähern, also vermittels der Bratwurst etwa, ist einfach auch ganz unterhaltsam und ist, glaube ich, für beide, Autor wie Leser, recht spaßig. Ja, und dann scheint es mir so, dass man eben relativ viel über die Politik lernt, wenn man sich ihr durch diese Phänomene nähert, vor allem weil man es vermeidet, immer schon gedanklich stark vorbelastete Konzepte zu nutzen, die zudem extrem abstrakt und sehr komplex sind, wie: Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Aufklärung und so weiter.
Man gewinnt eine frische und neue - und wie ich meine - bessere Sicht auf die Demokratie, wenn man nicht aus der extremen Flughöhe der Demokratietheorie auf sie herabblickt. Und schließlich steht hinter der Vorgehensweise auch die These: Das Triviale ist in der Demokratie nicht trivial! Kann es gar nicht sein - es geht ja schließlich um die Masse und ihren Geschmack, und der ist meist trivial, aber eben auch zentral für die Demokratie. Daher der Titel: die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie.
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