Wie Beherrschte an der über sie ausgeübten Herrschaft mitwirken
Der Soziologe Robert Schmidt zum Thema der symbolischen Gewalt
Wohl jeder hat eine Vorstellung davon, was körperliche Gewalt bedeutet. Mit symbolischer Gewalt können hingegen oft noch nicht einmal diejenigen etwas anfangen, die ihr ausgesetzt sind. Im Interview mit Telepolis erklärt der Soziologe Robert Schmidt, was symbolische Gewalt ist, wie sie sich bemerkbar macht, warum sie oft verkannt wird und warum es so schwer ist, sich gegen sie zu wehren.
Schmidt, der an der Universität Eichstädt-Ingolstadt lehrt, verdeutlicht im Interview: Symbolische Gewalt führt dazu, dass "die Herrschenden ihre Herrschaft mit einer erstaunlichen Leichtigkeit durchsetzen können. Zusammen mit dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Volker Woltersdorff hat Schmidt das Buch "Symbolische Gewalt - Herrschaftsanalysen nach Pierre Bourdieu".
Herr Schmidt, jeder dürfte verstehen, was mit dem Begriff "Gewalt" gemeint ist. Aber was bedeutet es, wenn Sie von "symbolischer Gewalt" sprechen?
Robert Schmidt: "Symbolische Gewalt" ist ein Konzept, das der französische Soziologe Pierre Bourdieu entwickelt hat, um Erscheinungsformen von Gewalt und Herrschaft zu beschreiben, die sich alltäglich vollziehen und dem "gesunden Menschenverstand" als etwas ganz Selbstverständliches erscheinen. Bei symbolischer Gewalt handelt es sich um eine sanfte oder unsichtbare Gewalt. Sie wirkt stumm und unterschwellig und sie wird von den Betroffenen deshalb gar nicht als Gewalt erlebt.
Können Sie genauer erläutern, was es mit symbolischer Gewalt auf sich hat?
Robert Schmidt: Das Konzept der symbolischen Gewalt versucht verständlich zu machen, wie soziale Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen ethnisch, kulturell oder rassistisch klassifizierten Bevölkerungsgruppen und zwischen sozialen Klassen den Charakter von Herrschaftsverhältnissen annehmen. Diese Herrschaftsverhältnisse können sich durchsetzen, weil sie sich auf die Anerkennung durch die Beherrschten stützen können. Das Konzept der symbolischen Gewalt macht diese Anerkennung verständlich. Es entschlüsselt, wie die Beherrschten an der über sie ausgeübten Herrschaft mitwirken.
Haben Sie Beispiele für symbolische Gewalt?
Robert Schmidt: Didier Eribon liefert in seinem gegenwärtig viel diskutierten autobiographischen Buch "Rückkehr nach Reims" eindrückliche Beispiele für symbolische Gewalt: Er beschreibt unter anderem, wie und um welchen Preis ihm als Arbeiterkind der völlig unwahrscheinliche Eintritt in die akademische Welt der Pariser Intellektuellen gelingt. Eribon lernt schnell, die für dieses elitäre Milieu typische Sichtweise auf sich selbst anzuwenden und alles, was auf seine soziale Herkunft hindeutet (seinen Akzent, seine Verhaltensgewohnheiten etc.) als abweichend und defizitär wahrzunehmen.
Eribon schildert sehr eindrucksvoll, wie er der symbolischen Gewalt unterliegt, die die sozialen Unterschiede zwischen Pariser Bildungseliten und bildungsfernen unteren sozialen Klassenmilieus zu einem Herrschaftsverhältnis macht. Er entwickelt eine Art "Herkunftsscham" über sich und seinesgleichen, fügt sich den herrschenden Beurteilungsmaßstäben der akademischen Kultur und versucht, die Entdeckung seiner sozialen Herkunft zu verhindern. Mit seinem ängstlichen Bemühen, seine Klassenherkunft nicht zu offenbaren und sich alle ihre Merkmale abzutrainieren, bestätigt er die im intellektuellen Milieu vorherrschende Verachtung der Kultur und Lebensweise der unteren Schichten. Damit trägt er mit seinem sozialen Aufstiegt zugleich dazu bei, das Herrschaftsverhältnis zwischen diesen sozialen Klassen aufrechtzuerhalten.
"Soziale Herrschaft vollzieht sich in Demokratien ganz entscheidend durch Bildung und Kultur"
Nun geht das Konzept der symbolischen Gewalt auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück. Bourdieu hat sich immer wieder in seiner Arbeit mit den "verborgenen Mechanismen" der Macht bzw. mit den verborgenen soziologischen Antrieben in den Gesellschaften auseinandergesetzt. Wenn wir, Sie haben es ja bereits kurz angeführt, von symbolischer Gewalt sprechen, geht es auch um etwas "Verborgenes". Symbolische Gewalt mag für Soziologen, die den Blick für sie haben, einfach zu identifzieren sein, von vielen Menschen wird sie aber nicht einmal richtig wahrgenommen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Bourdieu eine Antwort auf die Frage gesucht hat, "wieso unerträgliche soziale Existenzbedingungen von denen, die ihnen unterliegen, oft als akzeptabel, natürlich und selbstverständlich erlebt werden. Dies wird weder mit der Wirksamkeit von Propaganda noch mit physischem Zwang, sondern mit der durch symbolische Wirkungen erpressten Beteiligung der Beherrschten an der über sie ausgeübten Herrschaft erklärt."
Stichworte "Herrschaft" und "Beherrschte". Mal naiv gefragt: In einer Demokratie gibt es doch keine "Herrschenden" und "Beherrschten". Wie passt da das Konzept der symbolischen Gewalt ins Bild?
Robert Schmidt: Gerade an dem von Eribon gegebenen Beispiel lässt sich gut nachvollziehen, dass das Konzept der symbolischen Gewalt besonders gut dazu geeignet ist, Herrschaftsverhältnisse in Demokratien aufzudecken: Der in Demokratien mögliche soziale Aufstieg durch Bildung geht mit der Abwertung der Herkunftskultur der Bildungsaufsteiger durch diese selbst einher. Mit dieser kulturellen Abwertung festigen sich die Herrschaftsverhältnisse zwischen den sozialen Klassen. Gerade die unwahrscheinlichen Karrieren von Bildungsaufsteigern leisten dazu also einen wichtigen Beitrag. Soziale Herrschaft vollzieht sich in Demokratien ganz entscheidend durch Bildung und Kultur.
Dient symbolische Gewalt auch der Sicherung von Herrschaft?
Robert Schmidt: Der Mechanismus der symbolischen Gewalt trägt entscheiden dazu bei Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren und die fortlaufende Mitwirkung der Beherrschten an diesen Herrschaftsverhältnissen sicherzustellen. Wie Bourdieu immer wieder deutlich gemacht hat sorgt der sanfte, zwanglose Zwang der symbolischen Gewalt dafür, dass die Herrschenden ihre Herrschaft mit einer erstaunlichen Leichtigkeit durchsetzen können
Können Sie noch etwas näher erläutern, wie diese Herrschaftssicherung durch Anwendung oder Etablierung von symbolischer Gewalt abläuft?
Robert Schmidt: In modernen demokratischen Gesellschaften kommt dem Staat eine entscheidende Rolle zu. Der Staat beansprucht das Monopol des legitimen Gebrauchs symbolischer Gewalt für sich und übt eine wirklichkeitserzeugende symbolische Macht aus: er verleiht Geburtsurkunden, Flüchtlingsausweise, Personalausweise, erkennt schulische und universitäre Titel oder Eheschließungen an usw. Das heißt der Staat nimmt mehr oder weniger willkürliche Setzungen, Unterscheidungen und Abgrenzungen zwischen Menschen vor und erzeugt soziale Identitätsformen ("Mädchen", Asylbewerber, "Deutscher", "Akademikerin", "Ehemann" etc.), die als legitim und völlig natürlich und selbstverständlich anerkannt und damit in ihrer Willkürlichkeit, Zufälligkeit und Nicht-Notwendigkeit verkannt werden. Mit dem zwanglosen Zwang des Symbolischen setzt der Staat also die Kategorien durch, mit denen sich die Leute selbst wahrnehmen und voneinander unterscheiden und abgrenzen.
"Symbolische Gewalt ist in unseren modernen Gesellschaften allgegenwärtig"
Welcher Funktion kommt hier der Sprache zu. In Ihrem Buch heißt es, dass symbolische Gewalt oft eine "sprachliche Gewalt" ist.
Robert Schmidt: Symbolische Gewalt äußert sich oft sprachlich, etwa in Form von sogenannter hate speech und Hasskommentaren in den sozialen Medien. Die Durchsetzungskraft sprachlicher symbolischer Gewalt ist aber immer dann am größten, wenn die entsprechenden sprachlichen Äußerungen und Bezeichnungen institutionell verankert sind. Ein Richter, der ein Urteil spricht oder die abschätzigen Bemerkungen politischer Amtsträger haben viel nachhaltigere Effekte als ein beleidigendes Wort während einer Kneipenpöbelei
Wenn Sie als kritischer Soziologe auf unsere Gesellschaft von heute blicken, wo sehen Sie da "symbolische Gewalt"? Anders gefragt: Wo und wie findet aktuell symbolische Gewalt statt?
Robert Schmidt: Symbolische Gewalt ist in unseren modernen Gesellschaften allgegenwärtig. Dabei ist ein Kennzeichen der Gegenwart, dass staatlich etablierte symbolische Unterscheidungen - z.B. die zwischen Geflüchteten und Deutschen - von den populistischen und rassistischen Strömungen innerhalb der Gesellschaft aufgenommen und diskursiv und gewaltsam zugespitzt werden. Dieses Umschlagen in offene Gewalt ist in der ‚sanften’ symbolischen Gewalt immer latent angelegt.
Sie erwähnen in Ihrem Buch im Zusammenhang mit der symbolischen Gewalt die Begriffe "Selbsterniedrigung", "Selbstzensur" oder "Selbstausgrenzung". Was ist damit gemeint?
Robert Schmidt: Diese Begriffe verweisen alle darauf, dass symbolische Gewalt die Beherrschten zu einer Art Mitwirkung an der über sie ausgeübten Herrschaft nötigt. So wirken z.B. Schulkinder aus bildungsfernen Milieus, die in der Schule lernen, die schulischen Bewertungsmaßstäbe auf sich selbst anzuwenden und sich entsprechend als Versager vorkommen, durch diese Form der Selbsterniedrigung an der über sie ausgeübten Herrschaft mit.
Gegen Gewalt kann man sich schützen. Wie kann ein Schutz gegen symbolische Gewalt aussehen?
Es gehört zur Perfidie der symbolischen Gewalt, dass man sich gegen sie wirklich viel schwerer schützen kann als gegen offene Gewalt. Gegen sie helfen nur die Waffen der Kritik und der Selbstaufklärung und der Kampf um die Durchsetzung neuer, abweichender Modelle der sozialen Wirklichkeit.
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