Das dynamische Lokale

Seite 4: V.4 Das dynamische Lokale als Situation

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Ich habe oben in Bezugnahme auf Waldenfels behauptet, dass das Fremde im eigenen Ort und Standpunkt mitgedacht werden muss, sonst gibt es diesen Ort nicht. Ich habe dann bedauert, dass diese Erkenntnis meist hinter einem blinden Fleck verschwindet. Mit Reckwitz, Hochschild und Hillje haben wir Gründe dafür gehört, die auf eines hinauslaufen: Die 'normalen Menschen' haben andere Sorgen, als sich um global orientierte, grenzüberschreitende Gesellschaftsideen zu kümmern. Wo man seine Lebensleistung innergesellschaftlich entwertet und von außen bedroht sieht, ist man wenig daran interessiert, noch mehr Veränderung zuzulassen. Man will das Erreichte bewahren, es abgrenzen. Als System gedacht, verlegt sich das System auf Beobachtung der Systemgrenzen und auf Kontrolle, um Irritationen aus der Umwelt abzuwehren.

Die Alternative, nämlich eine Ausdifferenzierung des Systems, die konstruktiv mit den Irritationen aus der Umwelt umgeht, ist aufwändiger und birgt die Gefahr, dass das System sich deutlich verändert; sie wird daher oft vermieden. Doch ein System, das sich nur auf seine Grenze fokussiert, um den aktuellen Zustand zu bewahren, ohne sich an geänderte Umweltbedingungen 'anzupassen', ist irgendwann in seinem Bestand gefährdet. Wo ist der Mittelweg? Beziehungsweise, wieder in nicht-systemtheoretischen Worten: Wie ist ein dynamisches Lokales möglich, als optimistische, weltzugewandte Alternative zu einem auf Ausgrenzung fokussierten statischen Lokalen? Und dies, ohne zugleich eine Entwertung des Erreichten zu bedeuten?

Wir haben gehört, dass kulturelle Formationen Räume prägen, als konkrete Dinge und als symbolische Repräsentationen. Einem Ort wie einem Standpunkt kann man Kanones kultureller Formationen zusprechen: Die Sehenswürdigkeiten einer Stadt, die 'einfach ein Muss sind'. Bestimmte Objekte in einem Museum, die man 'gesehen haben muss'. Manche Bücher, die man kennen muss, um einen Standpunkt zu vertreten, denn 'sonst kann man nicht mitreden'. Eine Band, die man auf einem Festival gehört haben muss, denn 'sonst war man nicht da'.

Nun ist der Kanonbegriff selbst eine statische Vorstellung. Bestimmte kulturelle Formationen werden heraus- oder hervorgehoben und von anderen, weniger 'wertvollen' abgegrenzt. Ein Kanon wertet das, was nicht im Kanon ist, ab, selbst, wenn das nicht in der Absicht der Kuratoren eines Kanon lag. Ein Ort, der primär durch Kanonizität beschrieben wird, ist daher per se statisch, Alternativen sind nur in individuellen Abweichungen möglich. Ein weiteres Problem ist die Kulturabhängigkeit eines Kanon. Der selbe physische Ort kann durch unterschiedliche Kanones definiert sein, je nachdem, wer den Ort beobachtet oder sich dort aufhält. Auch kultur- und subkulturspezifische Verhaltensweisen beeinflussen den Kanon. In einem Aufsatz zu Problemen der Kanonisierung fragt Gisela Brinker-Gabler daher: "Welche Kultur soll fortgeführt werden, welche nicht?"41 Brinker-Gablers Aufsatz erschien 1998 und 'atmet' noch ganz den optimistischen Geist des scheinbaren Wegfalls aller Grenzen nach dem Ende des Kalten Krieges. Die Autorin diskutiert Möglichkeiten, wie nationale Kanones durch postnationale Alternativen ersetzt werden könnten. Obwohl Brinker-Gabler sich auf literarische Kanones bezieht, scheint mir ihr Ansatz auch für andere Arten von Kanones brauchbar, inklusive ortsbezogener Kanonizität.

Brinker-Gabler stellt zunächst fest, dass auch ein kulturübergreifend gedachter Kanon eine normative Instanz benötigt, dass aber gerade dies nur schwer zu realisieren wäre: "Mit dem Axiom 'multikulturelle Kultur' wird die Vorstellung von Hegemonie nicht mehr zugelassen"42 Sie diskutiert dann die Idee "einer Vielfalt verschiedener paralleler Traditionen"43. Dadurch ersetzt sie einerseits den Kanonbegriff durch den weniger strikten Traditionsbegriff (was sie nicht explizit sagt, was aber in Rückblick auf J. Assmanns Unterscheidung von Kanon und Tradition auffällt44). Andererseits ist so nicht mehr der eine Kanon oder die eine Tradition maßgeblich, sondern es gibt Raum für "bislang marginale und 'nichtkanonisierte' Texte und […] weitere Lesarten […] [sowie] die Überschreitung nationaler Grenzen"45.

Ersetzt man "Texte" durch kulturelle Formationen allgemein, wie sie z.B. in einer Stadt sichtbar sind, bedeutet dies zunächst, dass die dem Ort Stadt angelegte Dynamik herausgestellt wird. Wenn wir nochmal auf die Stadt Magdeburg zurückkommen, dann sind die relevanten kulturellen Formationen nicht mehr nur der gotische Dom, die Gründerzeitbauten um den Hasselbachplatz, die von Hundertwasser entworfene "Grüne Zitadelle", diverse Museen, Stadtviertel in Bauhaus-Tradition sowie historische Festungen (das ist der Kanon im klassischen Verständnis), sondern je nach Perspektive alles, dem man Bedeutung zuschreibt für die subjektive Wahrnehmung der Stadt als Ort (statt bloßer Raum oder Nicht-Ort im Sinne Augés). So ist man in der Lage zu sagen: 'Magdeburg ist für mich … vor dem Hintergrund …'. Mit so einem Ansatz erklärt sich übrigens auch, wie man ein Ortsbewusstsein für Städte entwickeln kann, an denen man selbst noch nie war, die man aber durch mediale Repräsentationen kultureller Formationen zu kennen glaubt. Ich war noch niemals in New York, aber wenn ich in einem Magdeburger Café die New York Times lese oder deren App durchscrolle, wenn ich in New York City spielende Romane lese, dort angesiedelte Filme und Fernsehserien schaue oder wenn ich stereoskopische 360°-Ansichten der Stadt unter einer VR-Brille betrachte, dann entwickle ich ein komplexes Gefüge von Repräsentationen, auf die ich mit dem Symbol "New York" zugreife. Diese Repräsentationen beruhen auf meinem subjektiven Kanon kultureller Formationen, die für mich in diesem Kontext relevant sind. Lücken in diesem Kanon, die nur durch echte Wahrnehmung zu füllen wären, werden behelfsweise durch Erfahrungen aus anderen Städten gefüllt: Ein Bild von New York erinnert mich an eine Straße in Amsterdam, wo ich mal war - schon assoziiere ich andere Wahrnehmungsitems damit und reichere die Repräsentation damit an. Beim Foto einer U-Bahn kommen mir 'typische' U-Bahn-Tunnelgerüche in den Sinn. Ein Video des East Rivers erinnert mich an Möwengeschrei. Und so weiter. Das Ergebnis dieses Zusammenspiels medial repräsentierter kultureller Formationen und eigener Erfahrungen ist mein Head Canon dieser Stadt. Das ist ein Ort, der zwar nicht der Wahrnehmung einer im echten New York befindlichen Person entsprechen kann, aber gleichwohl mehr ist als bloßer Raum.

Nun ist ein Problem dieses Ansatzes, dass man zwar anerkennt, dass es mehrere Traditionen gibt, dass dies aber nicht gleich Integration heißt. Das Magdeburg des Reiseführers, das Magdeburg des Hafenarbeiters im Industriehafen, das Magdeburg der Studentin auf dem Unicampus und das Magdeburg der rumänischen Einwandererfamilien in der Neustadt sind für sich durch kulturelle Formationen entstandene Bilder der Stadt, in einer Mischung aus Wahrnehmung und Erwartung. Solche Perspektiven können gegeneinander gestellt werden statt miteinander zu existieren, worauf Brinker-Gabler hinweist: "Andererseits kann eine solche parallele Konstruktion auch zu einer die Komplexität reduzierenden Fixierung führen, und zwar als Gegen- oder Alternativkanon."46 Dann ist man schnell dabei, Kanones und Traditionen untereinander ab- und aufzuwerten, oder nur den eigenen als zutreffend oder brauchbar anzuerkennen. Dann wäre nichts gewonnen. Brinker-Gabler macht daher einen anderen Vorschlag: Der "Kanon als Assemblage"47, als Zusammenspiel im Sinne der gleichnamigen Kunstform. Brinker-Gabler dazu48:

In einem Kanon als Assemblage sind die Texte nicht mehr Objekte, die 'gut' oder 'schlecht' sind. Sie werden in dieser Komposition, indem sie sich gegenseitig 'erhellen', zum lesbar wahren Ereignis, das aber nicht 'zeitenthoben' oder universal ist. […] Möglich wird eine kreative Neuinterpretation der Tradition in neuen Konstellationen.

In meiner bisherigen Analogie heißt dies, dass kulturelle Formationen des Ortes Stadt nicht als fixe definierende Elemente, sondern als flexibel zu interpretierende Konstellationen zu verstehen sind. Da diese Interpretationen situative sind und mit Wahrnehmung einhergehen, ist es sinnvoll, Brinker-Gablers Begriff Konstellation durch den neophänomenologischen Begriff der Situation zu ersetzen. Die Stadt, bzw. das dynamische Lokale allgemein, verstehe ich damit als Situation, die nicht nur durch die mit den körperlichen Sinnen wahrnehmbaren Einzelteile geprägt ist, sondern auch durch die Dynamik leiblicher Wahrnehmung (vgl. dazu den vorigen Teil 4 dieser Essay-Reihe). Das Lokale ist nicht mehr, was es je nach verfolgtem Kanon oder Tradition normativ sein soll ('ich will, dass in der Stadt … / dass … nicht …'), sondern das, was sich im Wechselspiel der verschiedenen Wahrnehmungen von Situationen dynamisch ergibt.

Tatsächlich ist das ohnehin so, aber so, wie leibliche Aspekte von Wahrnehmung insgesamt meist verdrängt werden, so wird auch das Lokale als etwas Festes, als Konstellation behandelt und übersehen, dass wir es mit wandelbaren Situationen zu tun haben. Indem man sich bewusst macht und akzeptiert, dass das Lokale immer dynamisch ist, dass man diese Dynamik wahrnehmen und danach z.B. auch als Ressource der Reflexion nutzen kann, wird die Auf- und Abwertung verschiedener Perspektiven vermieden. "Die Assemblage", so Brinker-Gabler, "ermöglicht den Wechsel der Positionen und andere Blicke".49 Dann ist ein Begegnen auf Augenhöhe möglich, und damit auch ganz pragmatisch der Ausgleich verschiedener Interessen im Alltag.

Dazu ist neben Wahrnehmung auch Handeln erforderlich. Während der Kanon unveränderlich ist, ist die Assemblage nicht nur in der Wahrnehmung, sondern auch in der Komposition dynamisch. Nochmals Brinker-Gabler50:

Postnationale 'Kanonizität' bewirkt die Transformation […] durch kontinuierliche Intervention […] es wird ein Prozeß der Rekomposition angestrebt, aus dem sich, so ist zu hoffen, Werte entwickeln, die eine komplexe kulturelle Demokratie ermöglichen.

Diese Hoffnung, daran sei erinnert, äußerte Brinker-Gabler im Jahr 1998, also vor zwanzig Jahren. Aus den oben genannten Gründen scheint es fast zu spät, das derzeit in Gegenrichtung (hin zu Abgrenzung, Nationalismus, usw.) ausschlagende Pendel noch aufzuhalten. Oder ist es noch möglich, dem skizzierten Ideal des dynamischen Lokalen zu folgen? Wenn überhaupt, dann wohl nur durch zeitgemäße Formen der Kommunikation, die den steten Wandel von Räumen und Orten einbeziehen. Anregungen dazu entwickelt der folgende sechste und letzte Teil dieser Essayreihe.