Das embryonale Mem - 720 Millionen bis 65 Millionen Jahre vor Christi Geburt
Geschichte des globalen Gehirns IV
Am Ende des letzten Kapitels hatten Bakterien und Viren sowohl eine lokale vernetzte Intelligenz als auch das größere Netz geschaffen, das wir globales Gehirn nennen. Inzwischen hatten neue, hochkomplexe Zellen - die Eukaryoten - eine weitere Stufe in der Entwicklung von Intranets erreicht. Eine halbe Milliarde Jahre an eukaryotischen Verbesserungen (von 2.1 Milliarden Jahre bis 1.6 Milliarden Jahre) haben zu vielzelligen Lebewesen geführt, die eine viel größere Geschicklichkeit als die ihnen vorangehenden Prokaryoten besaßen. Aber den neuen Makroorganismen fehlte etwas: der weltweite Austausch von Informationen, über den ihre mikrobischen Konkurrenten verfügten. Sie hatten unzählige Gaben gewonnen, aber ihren weltweiten Geist verloren!
Eine der dramatis personae am Ende des letzten Kapitels war die Muschel, die in den fossilen Aufzeichungen vor 720 Millionen Jahren auftauchte. Diese zweischalige Muschel besaß vermutlich ein Mittel zur Informationsverarbeitung, das wir nicht erwähnt hatten - ein Gedächtnis. Ein Gedächtnis findet man bei Insekten, Weichtieren und vielen anderen Lebensformen, die während der kambrischen Explosion entstanden. Jüngste Forschungen haben gezeigt, daß selbst die einfache Fruchtfliege, ein Abkömmling kambrischer Vorgänger, ein Speichersystem besitzt, das in derselben Stufenfolge wie das unsere arbeitet: das Kurzzeitgedächtnis führt zu einem mittelfristigen und schließlich zu einem Langzeitgedächtnis. Das ist, wie bei den Menschen, nur möglich, wenn die Fliege ihre Lektionen nicht verschlingt, sondern sie langsam schlürft und Ruhepausen zur Datenverdauung einlegt.
Wissenschaftler haben vor kurzem die vor der Jurassic-Zeit entstandenen Gene bestimmt, die für die Sequenz bei Insekten, Schalentieren, Hühnern und Menschen verantwortlich sind. Man erinnere sich an einen weiteren Darsteller des vorangegangenen Kapitels: den internen zellulären, als zyklische AMP bekannten Botenstoff. Zyklische AMP war ein Vermächtnis der Bakterienzeit, das für vielzelligen Lebewesen noch entscheidender wurde und in uns noch immer seine Rolle spielt. Wissenschaftler am Cold Spring Harbor Lab sind überzeugt, daß sich irgendwann vor 200 Millionen Jahren ein Gen zur Wissensakkumulation mit der Bezeichnung dCREB2 der zyklischen AMP für eine schnelle und zweckgerichtete Datenspeicherung bediente (CREB ist die Abkürzung für cyclic-AMP-responsive element-binding protein).
Bevor eukaryotische Zellen auftauchten, wurde Information in Chromosomen gespeichert - in verschweißten Ketten kodierter Nukleotide. Bei Bakterien war die Veränderung dieser genetischen Archive relativ einfach. Doch die Komplexität der Eukaryoten brachte einen Rückschlag mit sich, denn ihre DNA-Archive waren tausend Mal größer als die ihrer Vorgänger. Eine solche Größe hat Vor- und Nachteile. Die von Eukaryoten ausführbaren Leistungen nahmen exponentiell zu, aber ihre Flexibilität und Behendigkeit bei der Anpassung erlitten einen lähmenden Niedergang. Die genetischen Büchereien, die bislang RAM gewesen waren, näherten sich der Unbeweglichkeit von ROM.
Gedächtnis - der Ort, in dem Meme gedeihen
Als das neuronale Gedächtnis aufkam, war die Folge dramatisch. Ein vielzelliges Lebewesen konnte schnell seine Erfahrung in einem flexiblen Schaltkreis abspeichern. Die Veränderung der Hardware führte zu einer gleichermaßen überraschenden Software. Ein neuer Datenträger ergänzte das Gen. Von Richard Dawkins wurde er Mem genannt.
Meme wurden nicht durch zentimeterlange Ketten aus Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin übertragen, die sich korkenzieherartig anordnen. Sie wurden durch Riechen, Sehen und Hören weitergegeben. Meme sind in ihrer Form unabhängig von ihrer Trägersubstanz. Sie eröffneten zuerst den Schritt zu einer Wissensexplosion und später zur Evolution eines neuartigen weltweiten Netzes.
Dieses Kapitel wird das erste Entstehen des kindlichen Lernens des Gedächtnisses schildern - des Mediums, in dem die Meme gedeihen. Es wird auch von den Netzwerken, die einige Billionen Zellen zu einem größeren Organismus formen, zu Meta-Netzwerken übergehen, die eine Gruppe von 30000 oder mehr vielzelligen Organismen zu einem Superorganismus verbinden, der mit 60000 Augen, 30000 Ohren, Billionen von Geruchsrezeptoren und 30000 Gehirnen ausgestattet ist.
Fast alle schwimmenden, gehenden, fliegenden und krabbelnden Tiere entstanden in einem Augenblick der geologischen Zeit. Das Ereignis - die kambrische Explosion - dauerte nur 40 Millionen Jahre.
Fossile Hinweise auf Informationsnetzwerke bei kambrischen Geschöpfen wurden noch keiner systematischen Analyse unterzogen. Doch wir haben ein Mittel zur Verfügung, mit dem wir ihre Systeme der Datenvernetzung nachweisen können: den Rückschluß. Viele der heute unter den kambrischen Nachfolgern dominierenden Verhaltensweisen haben vermutlich einen Beitrag zum evolutionären Erfolg ihrer ehrwürdigen Vorfahren geleistet. Zu den kambrischen Emporkömmlingen gehörten die Familienmitglieder der Choanozyten (Pilze), die Onychophorane (wurmähnliche Lebewesen mit 14-43 Fußpaaren, die man zumeist in Australien findet), die Mollusken (Schnecken, Tintenfische, Austern und Muscheln), die Echinodermata (Seesterne, Seegurken, Seeigel und Seelilien) und vielleicht am bedeutendsten die Gliederfüßer (Spinnen, Krabben, Krebse und Insekten) und die Wirbeltiere.
Zu den kambrischen Gliederfüßern gehörten die Eurypteride, Prototypen der Skorpione, die vielleicht die ersten Läufer auf dem Land waren. Wie modern waren diese zwei Meter großen Tiere mit 12 Beinen? Skelettfunde weisen darauf hin, daß sie auch eine den niedersten zeitgenössischen Arthropoden gemeinsame Standardausrüstung besaßen: einen mit dem Mund beginnenden Verdauungstrakt, der in einen Magen führt und am Anus endet; ein zentrales Nervensystem mit einem Gehirn; ein zentrales Ganglienkabel, das dem Nervenstrang im Rückgrat ähnelt, und ein umfangreiches vernetztes Gewebe, das die Glieder und alles zwischen ihnen Befindliche genau steuern konnte. Zusätzlich besaßen diese Protoskorpione des Kambriums Sensoren für innere Bewegung und Orientierung im Raum sowie die visuellen, taktilen und olfaktorischen Instrumente, die zur Bestimmung jeder im umgebenden Wasser befindlichen Geißel oder Versuchung notwendig sind. Einige dieser sensorischen Organe waren erstaunlich kompliziert. Die Augen der Eurypteride konnten, so der Zoologe Kerry B. Clark, bis zu 20 Zentimeter groß sein. Diese Größe weist für ihn darauf hin, daß "in ihnen eine gewaltige Menge neuronaler Verarbeitung vorgegangen ist."
Lernen durch Nachahmung
Wenn man einmal visuelle Detektoren und ein zentrales Nervensystem besitzt, hat man die nötige Ausstattung, ausgefeiltere Versionen dessen auszuführen, was einzelne Bakterien nur auf begrenzte Weise machen können. Man nehme beispielsweise einen Octopus, einen Abkömmling der präkambrischen Mollusken, und stecke ihn in ein großes Glasgefäß. Dann lasse man etwas Harmloses außerhalb der Wände seines Behälters baumeln. Sorgen Sie sich nicht: er kann sehen. Versuchen Sie es beispielsweise mit einem Teddybär. Geben Sie dem Octopus immer dann, wenn das ausgestopfte Tier auftaucht, einen leichten elektrischen Schlag. Nach einigen Versuchen schalten Sie das Elektroschockgerät aus und lassen plötzlich das Steiff-Tier in seinem Sehbereich auftauchen - und - zack - wird das Tier sich selbst in die entgegengesetzte Richtung schießen. Lernen!
Aber kann diese Form der Klugheit vernetzt werden, kann sie von einem Octopus einem anderen übermittelt werden? Ziemlich sicher. Man nehme einen gleichfalls durchsichtigen Behälter mit einem zweiten Octopus und stelle ihn in die Nähe des trainierten Octopus. Jetzt zeige man dem zuvor bestraften Tentakelträger das ausgestopfte Spielzeug. Während es in Panik weghuscht, wird sein naiver Nachbar dies beobachten. Man führe das Experiment einige Male durch, nur um sicher zu sein, daß der Neuankömmling die Botschaft mitbekommt. Er war niemals einem Schock ausgesetzt, aber er hat seinen Kollegen gesehen, wie er das Wasser durchschießt, was darauf hinweist, daß es dann, wenn ein Schmusebär erscheint, Schwierigkeiten geben könnte. Jetzt isoliere man den Octopus Nr. 2 und zeige ihm das Spielzeug. Er wird der Führung seines erfahreneren Artangehörigen folgen und mit einer Geschwindigkeit zurückstoßen, die Sie erstaunen lassen wird. Überdies wird er das schneller begreifen, wenn er den Hinweisen eines anderen Octopus folgt, als wenn man ihn zwingt, dies selbst zu lernen. Alle Achtung. Sie haben gerade eine Synapse des sozialen Lernens entdeckt, das das Gehirn imitiert.
Sie haben auch die Funktionsweise eines ursprünglichen Mems beobachtet. Es wurde kein zelluläres Material ausgetauscht. Nur Photone verbanden die beiden Lebewesen. Dennoch wurde die neuronale Reaktion des einen Octopus im Gehirn des anderen reproduziert.
Leider haben wir keine kambrischen Trilobiten oder Protoskorpione zu Verfügung, um dieses Experiment mit ihnen durchzuführen. Aber es gab viele kambrische Lebewesen mit einem zentralen Nervenkabel und einem Gehirn. Die Augen und Sensoren dieser Tiere waren kompliziert und unterschiedlich. Eine andere Möglichkeit ist, daß einige von ihnen zu den frühen Praktikern der Nachahmung gehörten.
Der Nachahmungstrieb ist eines der entscheidendsten Immaterialien, aus dem kollektive Gehirne bestehen. Kurz nach 500 Millionen Jahren v. Chr. tauchten die Fische auf, die besonders gute Nachahmer sind. Ausbildung ist eine der wichtigsten Verteidigungsmaßnahmen der Fische. Eine Menge potentieller Filets schwimmen einträchtig zusammen, wobei jeder sorgsam auf die Hinweise achtet, die er vom anderen erhält. Solange der frontale Bereich seines Gehirns intakt ist, wird jeder Fisch sklavisch der Menge folgen. Der Vorteil ist, daß eine Gruppe von relativ kleinen Fischen sich wie eine große Fläche kräuseln und Licht von ihren Schuppen auf eine Weise glitzern lassen kann, daß ein Jäger verwirrt wird und Schwierigkeiten hat, seine Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Opfer zu richten.
Wie stark ist das Nachahmungslernen bei Fischen ausgeprägt? In welchem Ausmaß können sich ihre neuronalen Strukturen durch Proto-Meme umgestalten? Nehmen wir beispielsweise den Guppy, einen der frühen Experimente der Evolution für die Morphologie von Fischen. Weibliche Guppies neigen instinktiv dazu, Männchen mit einer starken orangenen Tönung zu bevorzugen. Das aber bedeutet nicht, daß sie dem von uns Mode genannten Nachahmungslernen gegenüber immun seien. Man isoliere ein Guppy-Weibchen von seinem Schwarm und trainiere sie dahingehend, ein Männchen zu bevorzugen, das eine blassere Farbe als die gewöhnliche sex-stimulierende Färbung besitzt. Dann lasse man sie wieder zu ihren Schwestern zurück. Sie werden ihr erotisches Angezogensein von Männchen bemerken, die zuvor von ihr gemieden wurden. Indem sie ihr Verhalten auf das der Modemacherin einstellen, werden sie bald angesichts der früher abstoßenden blassen Schönlinge in Ohnmacht verfallen. Dawkins führt eine Melodie als memetisches Beispiel an, die nacheinander den Geist von Menschen infiziert. Aber bei Guppies sind Bewegungssignale und Präferenzen bei der Färbung gleichermaßen ansteckend.
Wenn einmal eine soziale Gruppe, egal wie primitiv, über das Nachahmungslernen verfügt, gibt es das moderne Datennetzwerk. Individuen werden zu Bestandteilen einer kollektiven Intelligenz, die wie eine Bakterienkolonie ein Experte in dem ist, was Eshel Ben Jacob die für einen Wahrnehmungsbeschluß erforderliche Anzahl individueller Entscheidungen nennt, um zu einem kooperativen Ergebnis zu gelangen.
Wenn wir noch einmal aus der Gegenwart zurückschließen, können wir ableiten, daß ein anderer kambrischer Vorgänger ein zweites wichtiges Instrument in das Leben im Meer eingeführt hat: die soziale Hierarchie.
Die soziale Hierarchie
Zu den ersten Krustentieren gehörten winzige kambrische Garnelen. Ihre späteren Verwandten, die Langusten und Hummer, entstanden ungefähr 260 Millionen Jahre v. Chr. Diese Zehnfüßer hatten höchstwahrscheinlich bereits das Nachahmungsverhalten beherrscht. Am Beginn sollten sich Stachelhummer entwickeln. Einige von diesen Stachelhummern beteiligen sich an einer imitativen saisonalen Wanderung. Sie marschieren im Meer über beträchtliche Entfernungen in einer einzigen Reihe, indem jeder Hummer dem Weg und dem Verhalten des ihm vorhergehenden folgt. Man hat vermutet, daß die Stachelhummer (Panulirus argus) diesen Sklavenmarsch entwickelt hatten, um mit der periodisch wiederkehrenden Vereisung zurechtzukommen.
Man könnte sagen, daß die Ketten der Stachelhummer eher auf Instinkt als auf Nachahmung basieren. Es gibt zwei Gegenargumente: 1) jedes Nachahmungslernen beruht auf Instinkten; 2) ein seit langem bestehendes Evolutionsprinzip mit dem Namen Baldwin-Effekt besagt, daß ein vorteilhaftes Verhalten, sobald es in einer Population aufgetaucht ist, schrittweise die Gene der Art umformen wird, die es übernommen hat, was zum Ergebnis einer biologischen Vorprogrammierung führt. Der Mechanismus für diese Veränderung ist einfach. Diejenigen Lebewesen, die mit der Schar mitziehen und sich vor der Kälte der Eisperiode retten, werden überleben und sich fortpflanzen, während diejenigen, die zurückbleiben, aus dem Paarungsspiel ausscheiden, wenn sie in Eisblöcken sterben. Die Umwelt setzt diesen Aussortierungsprozeß solange fort, bis nur die Tiere überleben, die mit der genetischen Veranlagung ausgestattet sind, der Schar in eine wärmere Gegend zu folgen. Das Ergebnis ist die permanente Fixierung von herbstlichen Wanderungsbewegungen.
Dominanzhierarchien erweiterten diese Fähigkeiten der Lebewesen, indem sie spezialisierte Verantwortlichkeiten an scheinbar identische Gruppenmitglieder delegieren. Bereits Bakterien hatten Aufgaben aufgeteilt, aber sie machten dies durch die Veränderung des genetischen Inhalts eines Neugeborenen, dem sie so einen spezifischen sozialen Lebenszweck zuwiesen. Bei den Hummern und Langusten waren andererseits die Fähigkeit, jede für die Gruppe erforderliche Rolle einzunehmen, und die nötigen Schalter angeboren, um diese Fähigkeiten an- oder abzustellen. Das eröffnete einer Krustentiergruppe die Möglichkeit einer schnellen Umprogrammierung, während die Bakterien von einem Generationenwechsel abhängig gewesen waren (Bakterien bringen alle 20 Minuten eine neue Generation hervor).
Hummer leben in Trauben höhlenartiger Behausungen unter dem Wasser. Nachts werden die Männchen unruhig, streifen umher und klopfen an die Tür eines jeden Nachbarn. Der Hummer im Inneren kommt zum Eingang und starrt den Eindringling an. Das Ziel des Schlagabtausches ist herauszufinden, wer größer ist. Wenn der Besucher seinen sich aufbäumenden Gastgeber überragen kann, verläßt der Bewohner sein Zuhause. Der größere Hummer treibt sich eine Zeitlang in seinem neuen Heim herum und geht dann die nächste Höhle besuchen. Wenn der Homarus diese nächtlichen Runden lange genug dreht, hat er am Ende der Nacht alle seine Nachbarn aus ihren Verstecken geworfen. Später läßt er sie wieder zurückkehren. Doch er hat etwas bewiesen, daß er der Verantwortliche ist. Wir werden die Auswirkung dieses Rituals, das in vielen Formen bis zur Büropolitik wiederholt wird, auf die kollektive Intelligenz schrittweise bemerken.
Als nächstes spielen die Hormone eine Rolle bei der vorübergehenden Restrukturierung des Individuums. Nach einem draufgängerischen Wettkampf, bei dem die Kämpfer mit ihren Fühlern wippen und ihre Scheren zuschnappen lassen, stolziert der Gewinner hoheitsvoll auf den Spitzen seiner Zehen. Der Verlierer schleicht unterwürfig rückwärts. Die Zuversicht des Gewinners wird durch Serotonin erzeugt, die Niedergeschlagenheit des Verlierers hingegen durch Octopamin. Untersuchungen von gleichartigen Kämpfen bei Langusten zeigen, daß Serotonin die neuronale Aktivität so verändert, daß "das Tier", wie Russ Fernald von der Stanford University sagt, "in gewisser Weise eine anderes Gehirn hat ..."
Serotonin ist auch bei Menschen ein entscheidendes Hormon. Es wird von Überlegenheit oder Unterwerfung gesteuert. Schritt für Schritt werden wir die Bedeutung von Serotonin auch im sich entfaltenden Gruppengeist sehen.
Der Auftritt der Insektennetze
Vor 350 Millionen Jahren erschien das Insekt, ein weiterer kambrischer Abkömmling, auf der Bühne. Wahrscheinlich lebten Insekten, so der bekannte Entomologe E. O. Wilson, alleine. Die fossilen Hinweise unterstützen diese Schlußfolgerung stark, aber nicht zwingend, wie K. B. Clark, ein auf wirbellose Tiere spezialisierter Zoologe, ausführt: "Die meisten gegenwärtig lebenden primitiven Insekten gleichen den ältesten Fossilien morphologisch weitestgehend. Sie sind Einzelgänger wie die Springschwänze. Aber soziales Verhalten ist zusammen mit den Hymenoptera, Lepidoptera, Isoptera und vielleicht ein paar anderen Gattungen entstanden, so daß es früher, als man bisher bemerkt hat, aufgetreten sein könnte." Clark fügt an, daß selbst Springschwänze nicht so individualistisch sind, wie sie allgemein dargestellt werden. Ihre fossilen Überreste werden oft in herdenähnlichen Gruppen gefunden. In "Insektengesellschaften" und in seinem späteren Buch "Die Ameisen" stellt Wilson die zeitgenössischen Insekten, die alleine leben, diejenigen, die in einer lose verbundenen Gemeinschaft leben, und jene in jeweils einer Gruppe lebenden zusammen, die ihre sozialen Strukturen bis zum n-ten Grad entwickelt haben, und behauptet dann, daß sich die Einzelgänger zuerst entwickelt haben müssen. Das aber ist, ehrlich gesagt, anfechtbar. Wie wir gesehen haben, ist der Evolution die Bildung von Gruppen immanent, seitdem sich die Quarks verbunden haben, um Neutrone und Protone zu bilden.
Ganz ähnlich haben Replikatoren - RNS, DNS und Gene - stets in Teams zusammengearbeitet, die oft so riesig sind, daß sie sich einer Beschreibung verweigern. Die Bakterien vor 3.5 Milliarden Jahren waren Gruppenlebewesen. Das waren auch die Trilobiten und vermutlich auch die Echinoderma (Proto-Sternfische) des kambrischen Zeitalters. Daher ist es gut möglich, daß auch die ersten Insekten sozial gewesen sind und daß ihre stärker alleinlebenden Verwandten spätere Abkömmlinge gewesen sein könnten, die den schwierigen Trick des Überlebens in relativer Isolation beherrschten. Ein Indiz dafür stammt aus der Erkenntnis, daß vor 300 Millionen Jahren die Proto-Schaben (den Cryptocercidae ähnlichen Insekten) tunnelähnliche Gruppenbehausungen in toten Farnbäumen bewohnten.
Die Entdeckung von 100 Nestern im Versteinerten Wald von Arizona ist ein Hinweis darauf, daß ein extrem soziales Insekt schon vor 220 Millionen Jahren in Schwärmen gehaust hat: Apoidea, die Biene. Thomas Seeley, der vielleicht führende zeitgenössische Experte für das Verhalten von Bienen, wurde vor einem Jahrzehnt von dem Ausmaß beeindruckt, in dem Kolonien von Schwärmern die dürftige Intelligenz von Einzeltieren verbunden haben, um einen größeren Rechenmechanismus zu schaffen. Er veröffentlichte eine wunderbare, zusammen mit Royce A. Levien verfaßte Darstellung dieser Beobachtung in einem Artikel aus dem Jahr 1987 mit dem Titel: "Eine Kolonie des Geistes: Der Bienenschwarm als Denkmaschine" (The Sciences, July/August 1987). Seeleys "Die Klugheit des Bienenschwarms" (1995) führt die Details dieses Themas aus.
Wie die Guppies sind auch die Bienen der Ansteckung durch Meme unterworfen. In einem Experiment haben Wissenschaftler zwei Schalen mit Zuckerwasser nahe an ein Paar Bienenstöcke gestellt. Jede Lösung war gleichermaßen nahrhaft. Die Wissenschaftler brachten dann einige Bienen vom Volk A dazu, die Schale A aufzusuchen. Die Bienen desselben Volkes folgten gehorsam ihren zuvor trainierten Kundschaftern. Trotz des hohen Kaloriengehalts der zweiten Schale, achteten sie nicht auf diese und tranken nur vom "vorgetesteten" Behälter, wobei sie Tropfen von seinem Inhalt zurück nach Hause brachten. Die Bienen des zweiten Stocks wurden durch dieselbe Technik ausgetrickst, so daß sie ihren Anführern folgten und nur die Schale B besuchten. Es gab keine signifikante Anzahl von Abweichlern in beiden Stöcken. In einem sehr wirklichen Sinn haben sich die Bienen aus einem Chaos von Individuen zu einem einzigen Geist umgeformt. Das Mittel der Veränderung ist Lernen durch Nachahmung.
Das Ergebnis beinhaltet bemerkenswert große "geistige" Leistungen. In meinem Buch "The Lucifer Principle: a scientific expedition into the forces of history" beschrieb ich ein Experiment, in dem Bienen einem unabsichtlichen IQ-Test unterzogen wurden. Eine Schale mit gesüßtem Wasser wurde außerhalb des Stocks plaziert. Die Bienen fanden sie bald und richteten, indem sie ihren Anführern folgten, ihre kollektive Aufmerksamkeit darauf, jedes Glukosemolekül zu gewinnen. Am nächsten Tag wurde die Schale doppelt so weit vom Stock entfernt plaziert. Die Bienen setzten zwei der Tricks (Hierarchie und Arbeitsteilung) ein, mit denen ein Gruppengehirn arbeitet, um das neue Zielgebiet auszumachen. Während die Masse unterwürfig an ihren Honiggebieten festhielten, flogen einige wenige "unabhängige Denker" willkürlich herum und untersuchten einen Ort nach dem anderen nach Nahrung. Die Arbeitsteilung führte bald zur Entdeckung der Stelle, an der sich die Zuckerschale befand. Jetzt kam der Herdeninstinkt, ein Ergebnis des Lernens durch Nachahmung, zur Geltung. Die Mehrzahl folgte wie eine Schafherde denjenigen, die die Entdeckung gemacht haben, und verband ihre Arbeitsleistung, um die Nahrungsquelle auszubeuten.
Am nächsten Tag plazierten die Wissenschaftler die Schale wieder doppelt so weit entfernt vom Stock als am vorhergehenden Tag. Und wieder schwärmten die Kundschafter aus - eine Unzahl von Augen und Fühlern, die den Input für einen kollektiven Geist sammeln. Wieder wurde die Schale gefunden und schwärmte die Herde der Nachfolger aus, um ihren Preis zu maximieren.
Dann geschah das, was die Wissenschaftler in Erstaunen versetzte. Sie verdoppelten jeden Tag die Entfernung zwischen der Schale und dem Stock. Die Länge des Flugweges unterlag einer einfachen arithmetischen Progression. Nach einigen Tagen wartete das Bienenvolk nicht mehr auf seine Kundschafter, die mit den Neuigkeiten der jüngsten Koordinaten wiederkehrten. Wenn die Experimentatoren das Zuckerwasser hinstellten, sahen sie schon die Bienen, die ihnen zuvorgekommen waren. Wie die vielen Transistoren, die sich auf dem Chip eines Taschenrechners befinden, hatten die zu einer Masse gewordenen Bienen den nächsten Schritt in einer mathematischen Reihe vorweggenommen. Doch anders als ein elektronischer Rechner hatten sie diese Reihe ohne die Hilfe eines Menschen, der Knöpfe drückt, erkannt.
Es gibt noch mehr Geheimnisse bei der kollektiven Intelligenz von Bienen als Arbeitsteilung, hierarchische Organisation und Erfolg durch Nachahmung. Eine vierte Leistung ist das Quorum für die Wahrnehmung. Jeder Kundschafter erkundet auf der Suche nach Nahrung einen exzentrischen Weg. Wenn er ein vielversprechendes Lager entdeckt, reagiert er nicht impulsiv. Er überprüft doppelt und dreifach seine Schlußfolgerung und fliegt den Weg mehrmals hin und her, um die Orientierung ins Gedächtnis aufzunehmen. Er kehrt ins Innere des Stocks zurück und setzt eine der ersten, in der Evolution bekannten Formen der symbolischen Repräsentation ein: den Wackeltanz. Auf einer senkrechten Wand des dunklen Stocks stellt er tanzend die Zahl Acht dar. Deren Orientierung gibt die Richtung seines Fundes relativ zum Stand der Sonne an. Die Geschwindigkeit seiner Bewegungen, die Zahl der Wiederholungen und die Inbrunst seines summenden Wackelns weist auf die Reichhaltigkeit der Nahrungsquelle und die Schwierigkeit hin, dorthin zu fliegen (ein Kilometer bei einem steifen Wind verbraucht weit mehr Energie, als wenn man dieselbe Entfernung in Windstille zurückegt). Seine Zuschauer folgen ihm, schnüffeln den Geruch der Nahrung, den er an sich trägt, und erfühlen seine Bewegungen, wobei sie nicht nur auf die Instruktionen achten, die jede Bewegung enthält, sondern auch auf die Beurteilungen, die aus der "Begeisterung" des Tänzers hervorgehen.
Trotz der anfänglichen Vorsicht des Boten beim Nachprüfen seiner Schlußfolgerungen, wird die Masse nicht leicht überzeugt. Andere Kundschafter machen sich auf den Weg, ziehen ihre eigenen Schlußfolgerungen und kehren dann zurück, um ihr Urteil zu tanzen. Je energischer und zahlreicher die übereinstimmende Tänze sind, desto überzeugender sind die Daten. Verschiedene Bienen machen gewöhnlich unterschiedliche Entdeckungen. Manche der Fundstellen sind reichhaltiger und leichter zu erreichen als andere. Je größer der Gewinn ist, desto mehr Kundschafter werden aufgefordert, loszufliegen und die Berichte selbst zu überprüfen. Je mehr zurückkehrende Skeptiker Bestätigungen geben, desto mehr Bienen werden ausgesandt, um an dem Ort zu arbeiten. Die Anzahl der Konvertierten wird von dem Sachverhalt beeinflußt, daß eine Biene, die einen Treffer erzielt hat, dort viel länger bleiben wird, als eine andere, die nur einen mittelmäßigen Blumenfundort angetroffen hat.
Dieser Vorgang braucht Zeit, aber seine Genauigkeit und die Möglichkeit, ihn neu auszurichten, wenn ein Blumenfeld ausgebeutet und ein anderes entdeckt ist, sind ganz entscheidend. Ein Bienenstock hat nur einige kurze Monate Zeit, um einen Honigvorrat anzusammeln. Wenn er es nicht schafft, das notwendige Minimum zu sammeln, werden seine Vorräte wahrscheinlich ausgehen, bevor der Winter zu Ende geht. Das bedeutet den sicheren Tod - nicht nur für die schwachen Bienen des Volkes, sondern für die gesamte Gemeinschaft. Es bedeutet die Auslöschung der genetischen Linie des Superorganismus und seines kollektiven Geistes. Jeder Tanz eines zurückkehrenden Kundschafters hat einige kleine Irrtümer enthalten. Indem sie die Angaben verbinden und einen Durchschnitt bilden, können die Zuschauer ihre Ortsbestimmungen mit einer beeindruckenden Genauigkeit aufnehmen. Der Massengeist hat wieder einmal Berechnungen jenseits der Kapazität jeder einzelnen Biene ausgeführt.
Arbeitsteilung hat auch ihren Part beigetragen - Nonkonformisten führten die riskante Erkundungsarbeit durch. Und die Konformisten stellten sicher, daß die wuselige Aktivität der Massenmacht auf die erfolgreichsten Missionen freigelassen wird.
Statistiken können einen Eindruck vermitteln, wie entscheidend Kooperation und Hierarchie für diese gemeinsame Aufgabe sind. 50 Bienen und eine Königin sind notwendig, bevor sich die Arbeiterinnen gezwungen sehen, ein neues Heim zu suchen. Ohne Königin sind dazu 5000 erforderlich. Wenn eine Kolonie keine Nahrungsquellen mehr hat, teilt sie sich auf. Ein riesiger Schwarm entscheidet sich für eine eigene Königin und verläßt den Stock der alten Königin auf der Suche nach neuen Wohnplätzen. Die obdachlosen Pioniere hängen in einem zusammengeballten Haufen an einem Ast und führen eine ähnliche Technik aus wie jene, die ihnen die Konzentration auf Nahrungsplätze ermöglicht. Kundschafter durchkämmen die Gegend nach einer Stelle, die Sicherheit vor Jägern garantiert, die Schutz vor tobenden Winden bietet und die in der Nähe von neuer Nahrung liegt. Viele versammeln sich an verschiedenen Orten, an denen die Fürsprecher eines jeden Ortes tanzen. Mit viel Energie ausgestattete Künstler werben für dasselbe Ziel und locken Bienen schrittweise weg von schwächeren Werbegruppen. Schließlich rechnet der Schwarm aus, welche Heimstatt die beste ist und zieht massenhaft los, um einen neuen Stock zu aufzubauen.
Zahlen sind für die Ausführung dieses Ablaufs entscheidend. Bienen können solange nicht nach neuen Immobilien suchen und noch viel weniger die darauf folgenden Vergleiche durchführen, bis ein Minimum von 200 Individuen vorhanden ist.
Ein kosmopolitisches Netz
Ameisen, bei denen die Zeichen für Gesellschaftlichkeit nicht vor 80 Millionen Jahren v. Chr. auftreten, verwenden ihren vernetzten Geist für noch einen anderen Zweck - für die Kriegsführung. Die koordinierenden Mechanismen, die eine Gruppe von Formicidae zu einer Denkmaschine vernetzen, sind so lebenswichtig, daß es die wirksamste Strategie ist, eine Population ohne Ankündigung anzugreifen und eine Panik hervorzurufen, um die Verbindungen der Opfer aufzubrechen. Doch oft treffen sich zwei Ameisenheere unerwartet. Der Schock zerstreut jede Phalanx auf verrückte Weise. Siegen wird die Gruppe, die in der größten Geschwindigkeit ihre Verbindungen wiederherstellen kann.
Obgleich Tintenfische und Fische über eine gemeinsame Informationsverarbeitung verfügen, bleiben ihre Netzwerke bemerkenswert lokal. Insekten hingegen lassen Zeichen der Entwicklung von etwas erkennen, das für die Bakterien alt, aber für Eukaryoten neu ist: für ein kosmopolitisches Netz. Die wichtigsten Übertragungsmittel bei Ameisen sind chemischer Natur. Eine einzelgängerische Ameise, die in einem unerforschten Gelände herumstöbert, wird über Futter stolpern, sich satt fressen, dann langsam gen Nest zurückgehen, den Boden berühren und ihre Säure verströmen. Das ist keine Lethargie nach der Mahlzeit. Die Ameise legt für ihre Schwestern einen flüssigen Attraktor, die dem Trieb nicht widerstehen können, ihm bis zu seinem Ursprung zu folgen. Wenn sie auch finden, daß die Ausbeute am Ende dieses Pfades gut ist, werden sie auf dieselbe Weise zurückkehren und die chemischen Spuren ihres Jubels hinter sich verspritzen. So verschlüsselt ein immer breiterer oder nachlassender Duftpfad Daten über die Reichhaltigkeit der Futterquelle, den Schwierigkeitsgrad der Ausbeutung und des allmähliches Versiegens. Eine Gruppe belgischer Biologen hat diese Geruchsspur, die die Erfahrung von Hunderten oder Tausenden zusammenfaßt, eine Form des kollektiven Gedächtnisses genannt.
Genauso wichtig sind für eine Ameisenkolonie die Alarmdüfte, also Pheromene, die die Heerscharen auf Gefahren aufmerksam machen. Ameisen können Alarmsignale, die von anderen Arten gesendet wurden, verstehen und so bemerken, daß es bei den Nachbarn Probleme gibt. Damit werden benachbarte Kolonien zu erweiterten Sinnesorganen. Im Gegenzug stellen sie Sensoren für benachbarte Populationen von "Fremden" dar. Ein Patchwork konkurrierender Ameisenstädte kann so ein primitives Internet bilden.
Wir haben jetzt einen Punkt 1.9 Milliarden Jahre nach dem Auftauchen der ersten eukaryotischen Zellen und 1.4 Milliarden Jahre nach den ersten vielzelligen Lebewesen erreicht. Jene Bakterien, die interne Gastarbeiter aufnehmen konnten, haben sich zu Tieren mit Gehirnen verwandelt. Und jetzt haben vielzellige Tiere mit dem Lernen und neuen Formen des Informationsaustausches begonnen, zur Herstellung einer völlig neuen Art des globalen Geistes fortzuschreiten.
Besondere Danksagung: Viele der Fragen, die bei der Ausführung dieses Artikels aufgeworfen wurden, sind selten von Paläontologen behandelt worden. Besonderen Dank schulde ich Dr. K. B. Clark für die Kombination seinem Fachwissen in der Biologie von wirbellosen Tieren mit seiner zweiten Spezialisierung in der kambrischen Rekonstruktion, um versuchsweise Schlußfolgerungen in Bereichen zu ziehen, die bislang nicht auf den wissenschaftlichen Karten verzeichnet waren. Dank schulde ich auch dem Dutzend weiteren Forschern, die für mich ihre Gehirne ausgedehnt haben. Mein Hoffnung ist, daß wir zusammen eine neue und notwendige Disziplin, die Paläopsychologie, initiieren können.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer