Das erste Opfer unserer Krisen ist die Relevanz

In der Flut geht das Gespür dafür unter, was relevant ist, die Ränge im politischen Theater bleiben leer. Bild: Noverodus, Pixybay

Relevanz haftet den Dingen nicht an. Sie wird diesen zugeschrieben. Inhalte werden nicht von einem Tag zum anderen weniger bedeutend. Nur das Interesse an ihnen schwindet

Viel stärker und schneller als die Corona-Viren hat sich die Gleichgültigkeit in Form von Relevanz- und Interessenverlust in der Gesellschaft ausgebreitet. Das Fenster der Aufmerksamkeit für viele Teile der uns umgebenden Lebenswirklichkeit schließt sich in Zeiten der Krise immer rascher.

Handlungen werden unterlassen, weil die hinter diesen stehenden Strukturen der Relevanz nicht mehr erkannt werden. Das Leben wird eindimensional, die Kraft und Motivation zum Flanieren in fremden Sinnwelten, in den Relevanzräumen des jeweiligen Gegenübers, werden kaum mehr aufgebracht.

Wenn aber das Interesse vieler Einzelner erlahmt, wird das gesamtgesellschaftliche Relevanzgefüge allmählich brüchig und verschwindet letztlich vollends.

Wie bei einer Überschwemmung dringt die Indifferenz in alle geistigen Räume und füllt sämtliche Ritzen. Diese Form von Gleichgültigkeit hat glücklicherweise nichts mit dem kantischen "interesselosen Wohlgefallen" zu tun, das eine kardinale Voraussetzung für ästhetische Urteile ist.

Zur Relevanz des laufenden Wahlkampfes

Der aktuelle Bundestagswahlkampf erweckt den Eindruck einer bis dato noch nie da gewesenen Kleinteiligkeit, ermattet und in politische Partikularismen verfangen. Bisweilen blitzen sogar Assoziationen zu österreichischen Wahlkämpfen auf, doch Deutschland darf nicht Österreich werden!

Wo bleiben in dieser Vorwahlzeit die sprichwörtlichen überlebensgroßen, starken Persönlichkeiten, die gewichtige Themen schultern und sich mit diesen untrennbar verbinden? Wo bleiben die packenden, relevanten Themen, die wie gesamtgesellschaftliche Weckrufe wirken?

Stattdessen werden langatmig und penibel Lebensläufe, Einnahmen und diverse Plagiate seziert. So, als wäre dieses Sozialverhalten die moralisch verwerfliche Ausnahme in der Politik. Dazu noch ein Hauch von Dirty-Campaigning im bekannten US-Stil und fertig ist ein inhaltlich langweiliger, dennoch aber erratischer Wahlkampf.

Nach der Flut ist vor der Flut

Nach dem nationalen Schock über die schrecklichen Überflutungen in Deutschland begannen Politiker aller Couleur und deren Wahlkampfstrategen über die politische Relevanz der Unwetter nachzudenken.

Darüber, wie jeder Sturm mit Böen über 100 Kilometer pro Stunde und jede mittlere Überschwemmung zu Politkleingeld umgemünzt, wie jeder Millimeter Starkregen, der bis zur Wahl zwischen Sylt und dem Allgäu niederprasselt, in Stimmenzuwachs von "Klimaverängstigten" verwandelt werden könnte.

Das riesige Ausmaß und die gesamte Tragweite des Klimawandels treffen uns eines Tages ganz gewiss und in voller Härte; nur noch nicht zur Gänze vor dieser Bundestagswahl.

Hätte zudem einer der Kanzlerkandidaten sein Lachen im Hochwassergebiet zumindest auf ein monalisaartiges Lächeln beschränkt, wäre er vielleicht wie jene rätselhaft erschienen und hätte gezeigt, dass er um die kommunikative Macht und Relevanz der Bilder weiß.

Zu wenig Energie für relevantes Leben?

Verhaltene, leidlich gute Laune in den Gastgärten und Lokalen, gramerfüllte Gesichter hinter Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln und Kaufhäusern, lustlose wirkende Menschen bei den verschiedensten Formen der Nahrungsaufnahme, melancholische Rezipienten in den Kulturbetrieben.

Und das sind jene Menschen, die ins Licht streben – was ist mit denen, die im Dunkeln verbleiben? Das sogenannte Cave-Syndrom, ein überhöhendes und zugleich verkürzendes angloamerikanisches Schlagwort, ist ein Begriff, dem Syndrom-Größenordnung zugesprochen wird, obwohl er nur ein bereits bekanntes Krankheitsbild beschreibt.

Die Wiederaufnahme des Soziallebens nach Krisen war immer schon eine Herausforderung, der soziale Rückzug von Menschen nach Kriegen, Krankheiten und Krisen aller Art - und Pandemien zählen dazu - ist nichts Neues.

Der Druck auf die mentale Gesundheit nimmt zu, viele haben weder Mut noch Kraft, um das Leben mit seinen komplexen und zuweilen belastenden Interaktionen sofort wieder aufzunehmen; manche ziehen sogar den Zustand ihres Soziallebens und -verhaltens während der Pandemie vor. Überbelastung wird auch sprachlich sichtbar und lesbar.

Tatsächlich sieht es so aus, als wäre die überwiegende Mehrheit der Menschen Mitteleuropas derzeit im Energiesparmodus. Als lebten sie auf einem niedrigen, geradezu basalen Energieniveau. Das ist ihnen nicht zu verdenken, denn nicht einmal von den politisch Verantwortlichen, den "Wiedergewähltwerdenwollenden" geht gegenwärtig überbordende Dynamik aus.

Es wirkt geradezu, als wolle niemand Energie abgeben, sondern nur einsparen, bis hin zum Kommunikationsgeiz, zum allgegenwärtigen einander Nicht-Antworten. Die Unkultur des Nicht-Antwortens, das Ghosting, wieder eine dieser Social-Media-Metaphern, hat einen Vorteil: in der Abwesenheit von Sprache entsteht zumindest keine Hassrede, denn im Schweigen dominiert kein Tatbestand.

Relevanz der Sprache in der Politik

Vorangestellt sei: Jede Art von Verbalradikalismus und Hassrede ist abzulehnen, von Fall zu Fall zu kritisieren und zu verurteilen. Doch wegen der Absolutsetzung dieses Anspruches leidet mittlerweile der pointierte, kritische, mitunter zynische und sarkastische Diskurs. Im Zuge automatischer Mikro-Reflexe auf Mikro-Aggressionen samt Gendering geht die pointierte, scharfe und bisweilen angriffige Diskussionskultur verloren.

Wie ungewürzte sprachliche Krankenhauskost; doch von Asien bis Südamerika liebt man die Schärfe und differenziert eine Vielzahl verschiedenster Gewürze. Gewiss, ein Vollkornbrötchen mit Emmentaler ist auch nett, aber Stimmung kommt selten auf. Eine ganze Generation ist gerade dabei, ihr Sprachverständnis einzuschränken, indem sie das Gefühl für Sarkasmus und das Verständnis für Zynismus verliert.

Hassreden und Verbalradikalismen sind immer und überall abzulehnen. Doch Sarkasmus ist nicht automatisch gegen ethnische Minderheiten, gegen Frauen im Allgemeinen und benachteiligte Alleinerzieherinnen im Besonderen und schon gar nicht gegen Transidentitäten gerichtet.

Sarkasmus ist kein auf die Alltagssprache beschränktes Phänomen, sondern eine Form der Verbalisierung, deren Pointe einen Zweck verfolgt: bestimmte Sachverhalte wie mit einem Scheinwerfer grell auszuleuchten, so wie Goethe, Schiller, Döblin und Brecht dies taten.

Grell bedeutet nicht verbalradikal. Grell ist keine verletzende Hassrede, sondern jene Form der verbalen Lichtintensität, angesichts derer man kurz die Augen zusammenkneift; gegebenenfalls kurz zusammenzuckt, so, wie wenn man auf eine Chilischote beißt.

Danach setzt der Denk- und Diskussionsprozess ein, dann wird es spannend, aufregend, in der Hitze des verbalen Gefechtes entstehen wertvolle Gedanken. Mitreißende Diskussionsprozesse sind wie scharfe Speisen. Bei Haferflocken mit lauwarmer Milch hingegen entsteht zumeist nichts, es gibt keine Ausschüttung von Endorphinen und der Adrenalinspiegel bleibt im Tiefschlafmodus.

Doch nicht jede pointierte, sarkastische oder zynische Aussage ist deshalb automatisch zu verurteilen. Wo verläuft die Grenze? Das altmodische Lesen von Büchern - zusätzlich zu den unvermeidlichen elektronischen Wortbrocken, Kurztexten und Skripten - könnte Abhilfe schaffen. Denn jede Hermeneutik, jedes Verstehen und Kategorisieren von Texten basiert letztlich auch auf Geübtheit.

Wer definiert und verordnet "Normalität"?

An die Adresse jener gerichtet, welche die Normalität undifferenziert und scheinbar harmlos-heimatlich beschwören: Normalität ist nichts, was gegeben oder gar verordnet werden kann. Schon gar nicht von politischen Parteien. Das wäre nicht nur Selbstüberschätzung, sondern auch der programmatische Ausschlussversuch Andersdenkender und gesellschaftlicher Minderheiten. In letzter Konsequenz die Exklusion aller jener, die von einer fiktiven Normalität abweichen, biologisch, geistig, ethnisch, rassisch. Wozu die Geschichte wiederholen? Warum nicht aus dieser Lehren ziehen?

Die Politik kann keine "Normalität definieren", sie kann nur Rahmenbedingungen schaffen, nur Voraussetzungen für Möglichkeiten. Das ist alles. Gleichzeitig ist das jedoch auch unglaublich viel, wenn sie es denn nur endlich täte.

Vertikale Segregation: relevant für alle?

Dass eine direkte Korrelation zwischen dem Einkommen und der Gesundheit von Menschen besteht, ist hinlänglich erforscht. Die globalen Covid-Statistiken zeigen auf erschreckende Weise, wie unendlich weit das Einkommensgefälle zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern auseinanderklafft; wie sehr Theorie und Praxis der Entwicklungspolitik voneinander abweichen.

Die Fratze neoliberaler Gier wurde im internationalen Beschaffungskampf um Impfstoffe erneut und auf hässlichste Weise sichtbar; Afrikas Impfrate etwa liegt derzeit nach wie vor unter zwei Prozent.

Doch auch im Inland schlägt sich Corona realwirtschaftlich nieder. Viele, die jetzt gerade noch knapp vor der Armutsgrenze zum Stehen kamen, werden durch die Pandemie von der Klippe gestoßen. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftig nicht allzu viele ermattete, entsolidarisierte Menschen diese zunehmende vertikale Segregation bloß achselzuckend zur Kenntnis nehmen werden.

Verlust von Relevanz: ein Breitenphänomen

Seit Corona ist der Verlust von Relevanz vom Eliten- zum Breitenphänomen geworden. Waren es früher Themen von Kunst und Kultur bis Wissenschaft, die für die breite Mehrheit weitgehend irrelevant waren, sind es nach Corona sogar Breitenthemen, denen die Relevanz abgesprochen wird. Vielleicht erwachen eines Tages auch die verschiedenen christlichen Kirchen wieder und besinnen sich ihrer Relevanz? Sie könnten in Zeiten der Krise ihr klerikales Schweigen unterbrechen und der Gesellschaft, im Sinne Pierre Bourdieus, die Nachhaltigkeit ihrer sozialen Ordnungsmacht wieder zur Verfügung stellen.

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Er ist Autor von "Verbalradikalismus" (2. Aufl. 2021) und "Minimale Moral" (2016). Sein jüngstes Buch "Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen" erschien 2020.

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