"Das ganze Volk steht Hand in Hand"

Seite 2: Siedlungspläne des Grafen von Galen im Osten: Ein deutsch-katholisches Litauen?

Von 1906 bis 1929 wirkte der spätere Münsterische Bischof Clemens August Graf von Galen (1878-1946) fern seiner Herkunftslandschaft als Seelsorger in der Großstadt Berlin. Zählte der standesbewusste und (geo-)politisch durchaus sehr regsame Geistliche aus einer namhaften westfälischen Adelsfamilie während des Ersten Weltkrieges zu den Annexionisten?

Dieser Frage geht im Kontext von Vorgängen, mit denen bislang nur vergleichsweise wenige Fachleute vertraut sind, Ron Hellfritzsch in seinem Forschungsbeitrag über "Clemens August von Galens baltischen Siedlungsplan 1916-1919" nach. Zu den Quellenbeigaben gehören eine vertrauliche "Denkschrift des Grafen zur Ansiedlung in Kurland" vom Mai 1916 und Galens "Referat über Ansiedlung im Osten nach dem Kriege" in einer Versammlung des Vereins katholischer Edelleute vom November 1916.

Zur sachgerechten Einordnung dieses Komplexes müssen wir uns vor Augen halten, wie weit sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland viele Kriegsdiskurse deutsch-katholischer Politiker und moderner Moraltheologen schon zugunsten einer deutschen Großmachtpolitik vom tradierten (welt-)kirchlichen Standort entfernt hatten.

Ausgerechnet der im Kriegsverlauf später zum Botschafter des Friedens gewandelte, 1921 von Auftragskillern der Rechten ermordete Matthias Erzberger verfolgte in einer nach Kriegsende bekanntgewordenen Denkschrift vom 2. September 1914 an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg noch radikale Kriegsziele:

Das blutige Ringen des deutschen Volkes in Verbindung mit den Anstrengungen Österreichs erheischt die dringende Pflicht, die Folgen des Sieges so auszunützen, dass Deutschlands militärische Oberhoheit auf dem Kontinent für alle Zeiten gesichert ist […] Nur wenn dieses Ziel erreicht wird, sind die großen Opfer des Krieges gerechtfertigt, und nur hierdurch wird den Wünschen des Volkes entsprochen. Von diesem Gesichtspunkt aus sind beim Friedensschluss alle Forderungen und Bedingungen zu beurteilen. […] C. Russland.

Das schwierigsten Problem für den Friedensschluss ist zweifelsohne die Gestaltung im Osten. Schwierig gegen unsere inneren politischen Verhältnisse, schwierig, weil Deutschland hier allein nicht entscheiden kann, sondern sich mit Österreich ins Einvernehmen zu setzen hat. Das Ziel dürfte sein: Befreiung der nichtrussischen Völkerschaften vom Joch des Moskowitertums und Schaffung von Selbstverwaltung im Inneren der einzelnen Völkerschaften.

Alles dies unter militärischer Oberhoheit Deutschlands, vielleicht aber in einer Zollunion. Ein selbständiges unabhängiges Polen dürfte berechtigten deutschen Interessen widerstreben und könnte im Laufe der Jahre leicht zu einem polnischen Serbien sich auswachsen, das dann Deutschland und Österreich große Schwierigkeiten bereiten müsste.

Die russischen Ostprovinzen [gemeint sind wohl die: Ostseeprovinzen; Anm. pb] mit ihren kräftigen Völkern können teilweise Preußen angegliedert werden oder selbstständige Staaten mit militärischer deutscher Oberhoheit werden; dasselbe gilt von Litauen.

Wird ein unter deutscher Oberhoheit stehendes Königreich Polen geschaffen, so ist absolut notwendig, ihm eine eigene Dynastie zu geben, welche nach Lage der Verhältnisse dem katholischen Religionsbekenntnisse anzugehören hätte.

Wie Österreich in der Ukraine und Rumänien in Bessarabien sich ausdehnen müssen, braucht hier nicht weiter dargelegt zu werden. Das Ziel dürfte nur sein: Russland sowohl von der Ostsee wie vom Schwarzen Meer abzuschließen. Je eher dies erreicht wird, umso schneller der Friede.

Matthias Erzberger

Dem Historiker Ron Hellfritzsch geht es in seinem Beitrag zum neuen Band - fern von jeder polemischen Skandalisierung - "um eine differenzierte, quellenbasierte Darstellung". Durch seine Verbindung mit der 1916 nach einer Initiative des Alldeutschen Verbandes gegründeten "Vereinigung für deutsche Siedlung und Wanderung" (VfdSW) befand sich der heute wegen seines Widerstandes gegen die NS-Krankenmorde überaus bekannte Clemens August von Galen in bedenklicher Gesellschaft.

Er folgte - als Anwalt von Adelsinteressen - zunächst offenbar naiv der "baltischen Propaganda", die die abstruse Möglichkeit einer ganz und gar "friedlichen Kolonisation" im Osten suggerierte, hielt allerdings - in Abgrenzung zu besonders radikalen Forderungen der Alldeutschen - "an seiner grundsätzlichen Ablehnung von Enteignungen und Zwangsumsiedlungen" fest.

Zum Fazit gehört gleichwohl folgende Feststellung von R. Hellfritzsch: "Die Suche nach Unterstützung für sein Siedlungsprojekt ließ von Galen letztlich an Vorhaben und Strukturen mitwirken, die tatsächlich als Vorboten späterer nationalsozialistischer Lebensraum-Planungen betrachtet werden können."