Das glücklichste Land der Welt in Aufruhr: Finnlands Streiks legen Wirtschaft lahm
- Das glücklichste Land der Welt in Aufruhr: Finnlands Streiks legen Wirtschaft lahm
- Fazit: Chancen für die Suche nach Kompromissen
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Unruhe auf dem Arbeitsmarkt: Gewerkschaften versuchen, den Sozialabbau und die Schwächung der Arbeiterrechte aufzuhalten. Die Situation ist angespannt.
Vier Wochen lang standen finnische Häfen still. Nur der Personenverkehr lief weiter, aber es wurde keine Fracht umgeschlagen. Kein Güterzug rollte. 7000 Menschen waren im Ausstand und legten Finnlands Im- und Export lahm.
Am Freitag gingen zusätzlich Tausende aus der Industrie- und Elektrobranche vor das Werkstor, unter anderem bei der Werft Meyer Turku. Die Streikphase unter dem Motto "Painava syy", ("Gewichtige Gründe") endet vorerst am Montag, 8. April, auch wenn noch nichts erreicht ist.
Jarkko Eloranta, Vorsitzender des finnischen Gewerkschaftsverbundes SAK, begründet dies so:
Die Regierung hat erklärt, sie suche nicht nach Lösungen mit der Arbeitnehmerseite, solange die Streiks andauern.(...) Nun geben wir der Regierung Orpo/Purra die Chance, zu agieren.
Jarkko Eloranta
Am 18. April soll über die Fortsetzung der Streikserie entschieden werden.
Reformen sorgen für Aufruhr
Worum geht es? Die Rechts-Regierung in Finnland will Maßnahmen durchsetzen, die sie selbst als Schuldensanierung und Ankurbelung des Arbeitsmarktes durch ein exportgetriebenes Lohnmodell verkauft.
Die Gewerkschaften sehen darin eine Schwächung der Arbeitnehmerrechte und eine beispiellose Kürzungswelle bei den Sozialleistungen – in unguter Kombination: So soll es einerseits leichter werden, Leuten zu kündigen, andererseits wird das Arbeitslosengeld gekürzt und Unterstützung zur Weiterbildung gestrichen.
Premierminister Petteri Orpo von der konvervativ-neoliberalen Sammlungspartei (Kokoomus) verweist dabei gerne auf andere nordische Länder.
Der Politikforscher Ilkka Kärrylä von der Universität Turku hat die geplanten und teils auch schon beschlossenen Reformen mit denen der anderen nordischen Länder für den Think Tank UTAK verglichen (Uuden talousajattelun keskus, Finnish Centre for New Economic Analysis) und kommt zum Schluss:
Von den neun wichtigen Änderungen der Orpo-Regierung gelten nur zwei bis vier in jedem nordischen Land. Die meisten der von der Orpo-Regierung geplanten Änderungen wurden in irgendeiner Form in einem der nordischen Länder umgesetzt, aber in keinem anderen Land waren sie alle gleichzeitig in Kraft.
Petteri Orpo
Ein weiterer Unterschied:
"Nirgendwo sonst in den nordischen Ländern wurde ein Programm, das die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt verändert, in so großem Umfang auf einmal umgesetzt."
Die geplanten Kürzungen
Dabei waren beide Arbeitsmarktpartner nicht beteiligt, was größte Abkehr von der nordischen Tradition sei. Und während die Arbeitgeber mit dem Teil, der sie betrifft, durchaus zufrieden sind, kämpft der finnische Gewerkschaftsverbund um eben das: gehört zu werden.
Aus deutscher Perspektive bietet sich als Vergleich die Agenda 2010 an – weniger in den Details, aber durch die Wucht, die die vielen Maßnahmen in ihrer Gesamtheit für Einzelne haben können.
Beispiel: Arbeitslosengeld
Auch in Finnland gibt es ein am früheren Einkommen orientiertes Arbeitslosengeld, wenn man vorher eingezahlt hat. Dieses wird aktuell bis zu 400 Tage lang ausgezahlt, wenn man mindestens drei Jahre gearbeitet hat. Hat man kürzer gearbeitet, sind es 300 Tage.
Bisher musste man für dieses höhere Arbeitslosengeld ein halbes Jahr gearbeitet haben, zukünftig ist es ein Jahr (wie in Deutschland). Künftig wird dieses einkommensbezogene Arbeitslosengeld außerdem Schritt für Schritt gekürzt: nach zwei Monaten um 20 Prozent, nach acht Monaten um 25 Prozent.
Gestrichen wird obendrein die Erhöhung, die Arbeitslose mit Kindern bisher bekamen. Auch das Wohngeld wird gekürzt. Im Ergebnis kann das eine Familie um mehrere Hundert Euro treffen. (Zusammenfassung aller Maßnahmen hier auf Englisch).
Streiks als politisches Instrument
Aus deutscher Sicht mag das Streikgeschehen in Finnland exotisch wirken, denn in Deutschland wäre dies nicht erlaubt: Vier Wochen lang den Export komplett behindern – aus politischen Gründen? Und das ist nicht die erste Aktion dieser Streikserie.
Ende Januar waren mehr als 100 000 Menschen in einem zweitägigen Großstreik, der den öffentlichen Verkehr, Hotels, Supermärkte und Fabriken lahmlegte. Auch im Dezember gab es schon einen Streiktag. Die jüngste Aktion gegen die Exportindustrie sollte aber bewusst nicht das Leben aller beeinträchtigen, sondern gezielt die treffen, die ein Interesse daran haben, dass Leute schlechter bezahlt und schneller gekündigt werden können.
Es ist auch die Industrie, die sich eine Einschränkung des Streikrechtes wünscht, weil sie dies als Standortnachteil empfindet. Dem kommt die Regierung entgegen: Politische Streiks sollen auf 24 Stunden beschränkt werden, auch die in Finnland ebenfalls erlaubten Sympathiestreiks sollen nur noch möglich sein, wenn es "verhältnismäßig" ist.
Dahinter mögen unter anderem die Erfahrungen aus dem "postilakko" , dem Poststreik 2019 stehen: 700 outgesourcte Paketsortierer hätten wohl nicht so viel bewirken können, aber als sich mächtigere Gewerkschaften einschalteten, standen plötzlich Flüge, Fähren und Busse still, und auch Bahn-Mitarbeiter kündigten an, die Arbeit niederzulegen.
Für die Paketsortierer ging es gut aus, aber der damalige sozialdemokratische Premierminister Antti Rinne musste zurücktreten, weil er sich nach Ansicht eines Koalitionspartners zu sehr eingemischt hatte.
Es wird viel gestreikt
Richtig ist, dass in Finnland vergleichsweise viel gestreikt wird, wenn auch nicht so häufig wie beispielsweise in Frankreich.
Gewerkschafter führen dies darauf zurück, dass andere Länder ein besseres Verhandlungsmodell zur Lohnfindung haben. Als positive Beispiele werden Deutschland (!), die Niederlande und Schweden angeführt.
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Zum neuen Gesetz gehört auch, dass nicht nur die Gewerkschaften, sondern zukünftig auch einzelne Arbeitnehmer eine Strafe zahlen sollen, wenn sie an einem Streik teilnehmen, der für illegal erklärt wurde.
Dass einzelne Streikteilnehmer 200 Euro zahlen müssen, gibt es sonst nirgendwo im Norden, und auch die Strafe für die Gewerkschaften fällt vergleichsweise hoch aus – bis zu 150.000 Euro.
Finnland – ein glückliches Land?
Können die Reformen wirklich so schlimm sein? Schließlich haben wir doch gerade gehört, dass Finnland zum siebten Mal zum glücklichsten Land der Welt gekürt wurde.
Da muss man einwenden, dass die Daten für den jüngsten World Happiness Report aus den Jahren 2021-2023 stammen und die Tragweite der Reformen erst Ende 2023 sichtbar wurde.
Nicht nur Finnland, sämtliche nordischen Länder ranken dort in den Top 10 (Deutschland auf Platz 24 direkt nach den USA). Ohne hier auf die einzelnen Rankingfaktoren näher einzugehen.
Es wird interessant sein, zu sehen, ob, und wenn ja, welche Auswirkungen die Entwicklung zukünftig auf dieser Skala hat.