Wenn Corona-Helden streiken müssen und Unternehmen Tarifverträge verweigern
In der Coronapandemie galten Kassierer als Helden. Einzelhändler sehen das etwas anders und verweigern höhere Löhne. Warum es ohne Streiks vielerorts nicht geht.
Die Streiks der Lokführer oder Busfahrer führen zu Forderungen nach Streik-Einschränkungen. Wird im Handel gestreikt, interessiert das weniger. Zu sehr sind die Belegschaften gespalten – neben Minijobbern, Aushilfen und befristet Arbeitenden wird in Teilzeit gearbeitet.
Die Kluft im Einzelhandel
Viele langjährig Beschäftigte sind enttäuscht, dass es trotz Rekordumsätzen in Corona-Zeiten keine Entgelterhöhungen durch Tarifvertrag geben soll. Damals wurden die Kassierer noch in den Medien als "Helden" dargestellt.
Gerade im Einzelhandel arbeiten überwiegend Frauen. Sie sind sowohl jetzt als auch im Alter armutsgefährdet, da in der Branche überdurchschnittlich viele Frauen in Teilzeitarbeitsverhältnissen oder Minijobs arbeiten.
Silke Zimmer vom Verdi-Bundesvorstand
Die Tarifverhandlungen für die rund 5 Millionen Beschäftigten werden regional geführt. Je nach Region wird an verschiedenen Terminen verhandelt. Bereits seit vielen Monaten kämpfen die Beschäftigten für tarifliche Entgelterhöhungen – in einigen Tarifgebieten haben die Verhandlungen schon im April 2023 begonnen.
Die großen Lebensmittelhändler und auch Ikea weisen seit Jahren, insbesondere auch durch die zurückliegenden Krisen, Gewinnmargen aus.
Heike Dumke, Betriebsratsmitglied der Rewe-Gruppe
Trotz zahlreicher Streiks in den beiden Bereichen Einzel- und Großhandel konnte mit den Arbeitgeberverbänden keine Einigung erzielt werden. Die Unternehmen verweigern die Unterschrift unter eine Vereinbarung – was beim Streik der Bahn zu massiven Forderungen an die GDL führte, bleibt aktuell von diesen Politikern unkommentiert.
Das Schweigen der Politik
Auch Vize-Bundeskanzler Habeck kritisierte das Verhalten der Lokführer-Gewerkschaft, schweigt jedoch zur Verweigerungshaltung der Handelsunternehmen.
Unter dem Motto "Ostern steht vor der Tür, wir auch!" stand die Schwarz-Gruppe im Mittelpunkt der Oster-Streikwochen. Mit Kaufland und Lidl ist sie drittgrößter Lebensmittelhändler hierzulande und hat erheblichen Einfluss in den Tarifkommissionen, den sie "aber nicht nutzt", kritisiert Silke Zimmer für Verdi:
Stattdessen unterstützen sie wie alle anderen großen Handelskonzerne die Verweigerungshaltung der Arbeitgeberverbände, die seit Wochen jegliche Gespräche und Lösungsansätze mit der Arbeitnehmerseite verweigern.
In den vorherigen Aktionswochen sind Edeka und Rewe bestreikt worden.
Die Forderung nach Tarifeinigung
Die Gewerkschaft befürchtet, dass die Unternehmensvereinigungen jegliche Tarifeinigung verweigern. Denn inzwischen gibt es Empfehlungen an die Mitgliedsunternehmen für 2024, die für den Einzelhandel eine Erhöhung um 4,7 Prozent und im Großhandel um 2,9 Prozent vorsehen.
Dementsprechend wurden auch vereinbarte Verhandlungstermine abgesagt. "Gerade in den großen Lebensmittelunternehmen verstehen viele nicht, dass die Arbeitgeber freiwillig mehr Gehalt zahlen, aber keinen Tarifvertrag wollen", erläutert Heike Dumke, Betriebsratsmitglied der Rewe-Gruppe, die Stimmung in den Betrieben. "Wir wollen endlich einen Tarifvertrag und werden alles dafür tun."
Die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen
Dies ist aber nicht der einzige Großkonflikt im Handel. Ein entscheidendes Thema für Verdi ist die Allgemeinverbindlichkeit – denn auch nach Abschluss eines Tarifvertrages gelten die Bestimmungen nicht für alle Verkäuferinnen. Viele Unternehmen haben sich aus der Tarifbindung verabschiedet.
Bundesweit liegt sie im Groß- und Einzelhandel schon unter 50 Prozent, in manchen Bundesländern ist sie auf unter 40 Prozent gesunken. Die Mehrheit der Betriebe hat also schon den Arbeitgeberverband verlassen oder ist in den Status "ohne Tarifbindung (OT)" gewechselt, meldet labournet.de.
Die Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrages bedeutet – so definiert von der Bundeszentrale für politische Bildung – konkret:
Die Ausdehnung der Gültigkeit eines Tarifvertrags auch für bis dahin tarifungebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sofern dies im öffentlichen Interesse liegt. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung (Abk. AVE) erlässt der Bundesminister für Arbeit und Soziales.
Den dazu notwendigen Antrag muss ein Ausschuss aus je drei Mitgliedern von Gewerkschaft und Arbeitgeberverband stellen. 2015 waren 491 von den insgesamt 71.900 beim Arbeitsministerium registrierten Tarifverträgen für allgemein verbindlich erklärt worden.
Die Veränderung der Tariflandschaft seit 2000
Bis Ende der 1990er-Jahre waren die wesentlichen Tarifverträge im Einzelhandel für allgemeinverbindlich erklärt. Mit dem Jahr 2000 begann sich diese Situation zu ändern. Arbeitgeberverbände des Handels führten Mitgliedschaften "ohne Tarifbindung" (OT-Mitgliedschaften) ein.
Die erlauben es Unternehmen, Mitglied in einem Arbeitgeberverband zu sein, ohne unter die jeweils geltenden Tarifverträge zu fallen. Außerdem lehnt die Unternehmerseite es seither ab, gemeinsam mit ver.di die Allgemeinverbindlichkeit der ausgehandelten Tarifverträge zu beantragen.
75 Jahre Tarifvertragsgesetz: Ein Anlass zur Reform?
Geregelt ist die Allgemeinverbindlichkeit im Tarifvertragsgesetz, das dieses Jahr seit 75 Jahren besteht. Der DGB nimmt dieses Jubiläum zum Anlass, eine Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärungen zu fordern.
Hier solle das Bundesarbeitsministerium auch gegen den Willen von Unternehmensvertretern die Gültigkeit von Tarifregelungen per Verordnung ausweiten können. "Doch feiern allein reicht nicht", mahnt die Linke-Abgeordnete Susanne Ferschl. Um die Stellung der Gewerkschaften zu stärken, fordert die Linke ein Verbot von OT-Mitgliedschaften.